Archive for Oktober, 2008

Die Game Faces der Republikaner (und der Vampire)

Oktober 28, 2008

Eine Woche vor der Präsidentenwahl scheint für einige Leute die ganze Sache schon entschieden zu sein. In der Washington Post fordert der konservative Autor David Frum die Republikaner auf, ihren Kandidaten John McCain abzuschreiben und alle Ressourcen für die Verteidigung der Sperrminderheit im Senat einzusetzen (Hervorhebung hinzugefügt):

[…] Republicans need to give up on the happy talk about how McCain has Obama just where he wants him, take off their game faces and say something like this:

Was genau sie sagen sollten, ist für uns nicht interessant (und schon gar nicht diskutieren wir darüber, ob die Wahl wirklich gelaufen ist). Vielmehr sollten wir erklären, dass mit game face der Gesichtsausdruck gemeint ist, den amerikanische Sportler im Spiel aufsetzen – entschlossen, konzentriert und demonstrativ siegesgewiss.

Endlose Varianten der Redewendung gibt es bei Buffy, denn in der Serie können die Vampire zwischen ihrem normalen Aussehen [JPEG] und ihrer Vampir-Visage [JPEG] hin- und her wechseln, kostengünstige Morphing-Effekte sei Dank. Allerdings benutzen auch die menschlichen Figuren den Begriff, wie Buffy in der Folge „Primeval“, bevor sie und ihre Freunde in eine schwerbewachte unterirdische Militäranlage eindringen:

Game faces, guys. We’re going in.

Daran sehen wir, dass put on your game face als Aufforderung benutzt wird, sich zu konzentrieren. Was haben die Übersetzer der DVD daraus gemacht?

Das Spiel beginnt. Wir gehen ‚rein.

Wie immer fröhlich losgelöst von der Tonspur bieten die Untertitel eine zweite Variante:

Nur nicht verzagen. Wir gehen ‚rein.

Beides trifft den Sinn nicht wirklich – etwas wie „Macht Euch bereit“ oder „Durchatmen, Leute“ wäre besser gewesen. Ganz so einfach ist das allerdings auch nicht nicht, denn es gibt im Deutschen kein direktes Gegenstück.

Das wundert überhaupt nicht. Game Faces sind besonders beim American Football oder Eishockey angesagt, wo Weicheier keinen Platz haben. Bei der Luschen-Sportart Fußball dagegen werden die „Profis“ vom Schiedsrichter belohnt, wenn sie sich selbst nach der zartesten Berührung des Gegners schreiend auf den Boden werfen, heulen, wimmern, an ihren Knöchel klammern und mit tränenerstickter Stimme nach ihrer Mama rufen. So kann das mit den Sprachbildern nichts werden.

Kurz erklärt: Sprünge von toten Katzen

Oktober 24, 2008

Gut, einen haben wir noch diese Woche, obwohl dieser Autor bei Anathem erst auf Seite 573 ist. Es geht um einen Begriff, den man im Moment ständig bei Diskussionen über die Umfrage-Ergebnisse zur Präsidentenwahl findet, ob bei den Demokraten oder den Republikanern: a dead cat bounce.

Damit wird eine plötzliche, kurzzeitige Verbesserung der Werte bezeichnet, die weniger mit der grundsätzlichen Beliebtheit zu tun haben soll, sondern mehr mit technischen Gründen. Selbst eine tote Katze, so das Bild, springt etwas zurück – prallt also hoch – wenn sie aus genügend großer Höhe fällt.

Der Begriff kommt aus der Börsenwelt und soll in der Presse zuerst von Chris Sherwell in der Financial Times vom 7. Dezember 1985 benutzt worden sein. Hier ist der Mechanismus leichter zu verstehen: Wenn eine Aktie sehr schnell sehr tief fällt, finden sich Leute, die das als Kaufgelegenheit sehen. Der Kurs geht deswegen gegen den Trend erstmal ein kleines Stück wieder in die Höhe.

Ein kurzer Eintrag zu Umfragen

Oktober 22, 2008

Dieser Autor ist bei Anathem auf Seite 409 von 937. Sie haben gerade herausgefunden, wo der Atommüll lagert und was die Lichter sind. Es ist spannend.

Daher werden wir für den Rest der Woche nur einige mahnende Bemerkung zu der gängigen Umfrage-Manie machen:

  1. Amerikaner hassen Umfragen. Nur die Hälfte der Befragten ist überhaupt bereit, solche Fragen zu beantworten. Schon deswegen sollte man sich nicht zu sehr auf sie verlassen.
  2. Die Existenz des Bradley-Effekts – weiße Amerikaner sagen nicht, dass sie nicht für einen Schwarzen wählen – war schon bei Bradley umstritten. Ob es ihn heute gibt, ist noch unsicherer:

    Harvard researcher Daniel Hopkins, after examining dozens of races involving black candidates, reported this year, at a meeting of the Society of Political Methodology, that he’d found no examples of the „Bradley Effect“ since 1996.

    Das ist der Grund, warum wir ihn hier nicht besprechen werden, außer er tritt am 4. November nachweislich auf.

  3. Umfragen haben Fehlerquoten. Wenn der Abstand zwischen zwei Kandidaten zum Beispiel ein Prozent beträgt, aber die Fehlerquote bei drei Prozent liegt, ist der Unterschied nicht relevant. Diese Tatsache überfordert einige Journalisten. Daher sollte man immer, wenn irgendwie möglich, sich die Originalzahlen anschauen.
  4. Zurück zu Diax’s Rake, in dieser Welt besser bekannt als Ockhams Rasiermesser.

Gang Signs und Superhelden

Oktober 20, 2008

Wer erwartet, hier jetzt etwas über Kot und Zähne zu lesen, wird enttäuscht sein – so etwas nimmt dieser Autor im Moment nur am Rande wahr. Denn der geschätzte Kollege NMK hat ihn am Freitag darauf aufmerksam gemacht, dass Neal Stephenson endlich Anathem fertigestellt hat. Dieser Autor ist inzwischen bei Seite 129 angelangt und kann sagen, dass der Roman seinen Bestsellerstatus verdient hat. Für die restlichen 808 Seiten ist die reale Welt ziemlich auf sich selbst gestellt.

Trotzdem verlassen wir die mathic world lange genug für einen Hinweis auf eine Szene aus Iron Man, nach The Dark Knight die beste Verfilmung eines Superhelden-Comics überhaupt. Ziemlich am Anfang wird der Rüstungsindustrielle Tony Stark vom amerikanischen Militär in Afghanistan zu einem Waffentest gefahren. Für ein Erinnerungsfoto mit einem Soldaten rückt er auf dem Rücksitz des Fahrzeugs zusammen. Als der Soldat die Hand zum Friedens-V hebt, kommt im Original dieser Dialog:

Stark: Please, no gang signs.
[Der Soldat senkt die Hand]
Stark: No, throw it up. I’m kidding.

Bei einem gang sign handelt es sich um ein Handzeichen oder eine Handbewegung, die die Zugehörigkeit zu einer Bande demonstriert. Mit „Bande“ ist nicht so etwas wie die Scooby Gang von Buffy oder die Fünf Freunde gemeint, sondern eine Form der organisierten Kriminalität. Daher verstehen eine ganze Reihe von Organisationen in Amerika wie die NFL keinen Spaß, wenn es um solche Zeichen geht. Das gilt besonders in Großstädten mit hoher Bandenkriminalität:

There are more than 250 active gangs in the City of Los Angeles. Many of these gangs have been in existence for over 50 years. Sadly, these gangs have a combined membership of over 26,000 individuals.

Durch die Rap-Welle gibt es aber eine Verbreitung von solchen Handzeichen unter Teenagern (nicht nur in den USA, sondern Dank des Kulturimperialismus in aller Welt). Damit stellt sich von Situation zur Situation die Frage, wie ernst man solche Gang Signs nehmen muss. Die Neigung von Behörden, sich im Umgang mit der Jugendkultur komplett lächerlich zu machen, kennen wir ja auch aus Deutschland.

Hier stößt dieses Blog an seine Grenzen. Dieser Autor hat gerade nachgeguckt, und unter seinen etwa 4.600 iTunes-Liedern gibt es genau zwei, die mit dem Genre „Rap“ versehen sind („Mama Said Knock You Out“ von LL Cool J und „Numb/Encore“ von Jay-Z und Linkin Park). Außerdem kommt er in das Alter, wo Teenager anfangen zu überlegen, ob sie ihm in der S-Bahn ihren Sitz anbieten sollten. Von Gang Signs hat er etwa so viel Ahnung wie von Mudras.

Daher halten wir hier nur fest, dass die Sache kompliziert ist. So hat das ironische Musik-Video White Chicks & Gang Signs verschiedenste Kommentare nach sich gezogen: Einige halten das für ganz furchtbar, andere für Klamauk, noch andere für angewandte Gesellschaftskritik. Es gibt Cheerleader-Handzeichen wie den doppeldeutigen shocker – einige davon sind gleichzeitig Bandenzeichen. Es gibt scherzhafte Geek Gang Signs. Und so weiter.

Wir können aber zumindest sagen, dass der Amerikaner an sich mit dem allgemeinen Prinzip der Gang Signs vertraut ist. In Deutschland kann man das mangels Banden (und Cheerleader) nicht voraussetzen.

Was uns zu Iron Man zurückbringt: Was haben die Übersetzer mit dieser Stelle gemacht [DVD]?

Stark: Bitte keine unflätigen Zeichen.
[Der Soldat senkt die Hand]
Stark: Nein, machen Sie ruhig. War ein Scherz.

Das hat zwar nichts mehr mit Banden zu tun, ist aber trotzdem wunderbar gelöst: Im nächsten Satz erklärt Stark nur halb scherzhaft, dass der Frieden für ihn Arbeitslosigkeit bedeuten würde. Die Andeutung, dass Stark das Friedens-V nicht sehen will, ist erhalten geblieben.

Jetzt bleibt nur abzuwarten, wie der Übersetzer von Stephensons Anathem mit dem Wort bulshytt umgeht.

Wahlen, Teil 8: Einige Bemerkungen zu einem US-Stimmzettel

Oktober 16, 2008

Dieser Autor hat seine Wahlunterlagen [PDF, Beispiel] erhalten – seine balota de votación de votante ausente, wie sie auch heißen, denn 44 Prozent der Bürger von New Mexico sind Hispanics und alle Unterlagen sind in zwei Sprachen.

(Aus diesem Eintrag sollte nicht auf die politischen Präferenzen dieses Autors geschlossen werden. Muss er das immer noch jedes Mal dazu schreiben?)

Zwei Unterschiede zu der Wahl 2006 vorne weg: Es ist nicht mehr ein number 2 pencil gefragt, sondern ein schwarzer Kugelschreiber. Besser ist das. Und es gibt jetzt ein Online-Trackingsystem für die Briefwahl, mit dem man sehen kann, was gerade mit dem Stimmzettel geschieht. Alles, was man dazu braucht, ist Name und Geburtsdatum des Wählers.

Dass damit alle möglichen Leute Zugang zu den Daten haben, ist nicht weiter schlimm, denn diese Informationen sind ohnehin öffentlich zugänglich [PDF]:

The County Clerk’s office can provide a roster of who has applied for an absentee ballot, when that application was returned and accepted/rejected, when the County Clerk mailed the absentee ballot and when that ballot was returned.

Wie so oft in den USA schlägt hier das Gebot der Transparenz den Datenschutz. Wenn man die Namen sehen kann, ist es leichter, Vorwürfe der Manipulation zu untersuchen. Nicht, dass sich jemand mit „Ellen Ripley“ oder „Willow Rosenberg“ einträgt.

Da wir vor zwei Jahren schon einen Überblick gegeben haben, werden wir dieses Mal nur einige Einzelpunkte besprechen.

Auch als Wähler kann man das Ganze abkürzen, denn der erste Punkt heißt Straight Party mit zwei Feldern: Democratic und Republican. Dann werden bei der Auszählung automatisch alle Kandidaten der entsprechenden Partei ausgewählt, egal auf welcher Ebene, egal ob Exekutive, Legislative oder Judikative. Wir sehen daran: Eigentlich kennt das System keine Parteien, aber in der Praxis merkt man das nicht unbedingt.

Bei den Präsidentschaftskandidaten gibt es sechs Einträge:

Wer die Wahl nur in den Medien verfolgt hat, wird jetzt stutzen – wer sind denn diese ganzen anderen Leute und warum waren sie nicht bei den Debatten dabei?

Die Fernsehdebatten werden seit 1987 von der Commission on Presidential Debates organisiert, die von den Demokraten und Republikanern gegründet wurde und sich daher „überparteilich“ nennt. Ihre Regeln sehen vor, dass man in fünf landesweiten Umfragen mindestens 15 Prozent der Stimmen haben muss, um eingeladen zu werden.

Die kleineren Vertreter halten das für ein abgekartetes Spiel der großen. Kritiker haben auf ein Huhn-oder-Ei-Problem hingewiesen: Wie soll man bekannt genug werden, um ins Fernsehen zu kommen, wenn man nicht ins Fernsehen kommen kann, um bekannt zu werden? Das Internet hat dieses Argument entschärft.

Interessant ist McKinney, Kandidatin der Grünen. Mit ihr und Obama gibt es nämlich eigentlich zwei Schwarze, die um die Präsidentschaft kämpfen. Die frühere Abgeordnete des Repräsentantenhauses verlor 2002 ihre Vorwahl bei den Demokraten unter anderem, weil sie eine Vorliebe für Verschwörungstheorien zeigte:

[S]he charged that George W. Bush may have known about the September 11 attacks in advance and allowed them to happen in order to make profits for the Carlyle Group, an owner of defense contractors with which former President Bush has connections.

In ihrer offiziellen Biografie findet man das nicht.

Um einen Senatssitz kämpft Tom Udall, der uns zeigt, dass es auch außerhalb von Utah Mormonen gibt. Der Demokrat aus einer Politikerfamilie liegt laut Umfragen deutlich vor Steve Pearce, der versucht, den Sitz von Pete Domenici für die Republikaner zu verteidigen. Domenici tritt nicht mehr an.

Wir hatten vor zwei Jahren auf die endorsements hingewiesen, das öffentliche Eintreten von Politikern und gewählten Beamten für einen Kandidaten. Udall scheint hier gegenüber Pearce im Vorteil zu sein, mit allen möglichen Gewerkschaften und Indianer-Nationen wie die Navajo oder dem Pueblo of Pojoaque:

The Pueblo has known and worked with Mr. Udall for over 20 years. He is the latest in a long line of Udalls who have championed Indian sovereignty. Most recently his leadership in passing the Pueblo Land Act Amendments and his work to settle the Aamodt water lawsuit has shown his ongoing commitment to tribal issues.

Wasserrechte sind ein wichtiges Thema in New Mexico, wie wir aus dem Roman The Milagro Beanfield War wissen.

Richtig spaßig wird es mit den Endorsements aber bei der Abstimmung für das Repräsentantenhaus. Der republikanische Kandidat Darren White fing als Fallschirmjäger bei den 82nd Airborne an, wurde später Minister in der Landesregierung und dann Sheriff des Kreises Bernalillo, bekanntlich ein gewähltes Amt:

White was comfortably elected Bernalillo County Sheriff in 2002 and re-elected with 63% of the vote in 2006.

Unter diesen Umständen ist es interessant, dass sein Gegner, der Demokrat Martin T. Heinrich, von Rene Rivera, dem Sheriff von Valencia County, John Paul Trujillo, dem Sheriff von Sandoval County und Greg Solano, dem Sheriff von Santa Fe County, empfohlen wird. Was das wohl zu bedeuten hat.

Unter den anderen Personenwahlen haben wir bekannte Phänomene, wie gewählte Richter und Oberstaatsanwälte (den District Attorney) und Kandidaten ohne Gegenkandidaten. Weil es vielleicht nicht offensichtlich ist: Der für die Organisation der Wahl zuständige Beamte, der County Clerk, wird auch gewählt, um die Unabhängigkeit zu gewährleisten. Damit tritt aber Maggie Toulouse Oliver zwangsläufig bei einer Wahl an, die sie selbst organisiert hat.

Dann hätten wir noch die ganzen Verfassungsänderungen und Volksbefragungen – eine ausführliche Darstellung findet man in dem Wahlheft [PDF]. Die Referenden zum Haushalt zeigen vielleicht am deutlichsten, wie stark die direkte Demokratie ist. Zum Beispiel bei der Frage, ob der Kreis bis zu einer Million Dollar für Bücher und anderes Bibliothekszeug ausgeben darf. Bildung und Gesundheit sind Aufgaben der Bundesstaaten.

Bei der Finanzierung des Krankenhauses der Universität von New Mexico durch die Grundstückssteuer haben wir eine letzte Besonderheit (Hervorhebung hinzugefügt):

Shall the County of Bernalillo continue to impose a tax levy of Six and Four-Tenths (6.4) mils each year for a maximum of eight (8) years on each dollar of net taxable value of property in Bernalillo County, New Mexico, for the operation and maintenance of the University of New Mexico Hospital?

Hier haben wir tatsächlich ein Beispiel für die Tausendsteleinheit des Dollar, den mil. Die Frage lautet also, ob die zweckgebundene Steuer von 0,0064 Dollar (oder 0,64 Cent) je Dollar Grundstückswert für weitere acht Jahre eingezogen werden soll.

Am Ende fehlt nur eine Sache: Wo ist der Präsidentschaftskandidat Richard Wilkins, den dieser Autor unterstützt? Da ist gleich morgen früh ein Anruf bei Frau Oliver fällig. So ja nicht!

ZEUGS: Bush spricht Spanisch, Gewalt im Wahlkampf und der NSA-Bikini

Oktober 13, 2008

In den USA ist Hispanic Heritage Month. Daher heute viele Links zu Hispanics und Spanisch.

  • Zu Spanisch: Wie es sich gehört hat Präsident George W. Bush dazu eine Rede gehalten. Und selbstverständlich war der erste Teil davon auf Spanisch. Eigentlich habe er alles auf Spanisch vortragen wollen, sagte er, aber:

    Me contestaron: „Señor presidente, antes de dar un discurso en español, ¿por qué no llega primero a dominar el inglés?“

    In der Tonaufnahme [MP3] hört man als Reaktion schallendes Gelächter. Über sich selbst Witze machen zu können ist wichtig bei den Angelsachsen, wie wir in unserer (sträflich vernachlässigten) Serie über Humor genauer besprechen werden.

  • Zu Hispanics: In der Grenzstadt El Paso (720.000 Einwohner) sprechen inzwischen 74 Prozent der Bürger zu Hause Spanisch. Der interessierte Leser stelle sich vor, drei Viertel von Frankfurt an der Oder würden zu Hause Polnisch sprechen.
  • Zur Bevölkerungsentwicklung: Nach den aktuellen Zahlen der US-Volkszählungsbehörde werden die Weißen (non-Hispanic, single-race whites) ab 2042 nicht mehr die Mehrheit stellen. In den Schulen wird das schon 2023 der Fall sein – also in 15 Jahren. Bis 2050 werden die Hispanics etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, die dann bei 439 Millionen angekommen sein dürfte. Damit werden die USA die EU knapp eingeholt haben. Im Moment liegt die US-Bevölkerung bei 305 Millionen.
  • Zum Wahlkampf: Noch eine Politiker-Rede gefällig? Historiker haben Mitschnitte der Wahlreden von vor 100 Jahren von Wachszylindern ins Internet geholt. Darunter ist eine Rede des Republikaners William H. Taft über Rights and Progress of the Negro, die angesichts der Kandidatur von Barack Obama interessant ist:

    The Negro, in the 40 years since he was freed from slavery, has made remarkable progress. He is becoming a more and more valuable member of the communities in which he lives.

    Die Autoren weisen darauf hin, dass Taft mit diesen Sätzen, egal wie herablassend sie auf uns wirken, im Jahr 1908 als irre progressiv galt. Taft diente eine Amtszeit und wurde später Richter am Supreme Court.

  • Zu Politik-Karrieren: Wie geht das denn bitte, mag der interessierte Leser jetzt sagen. In Deutschland wäre es weniger gut vorstellbar, dass Angela Merkel zu den Robenträgern wechselt. Hintergrund ist, dass US-Politiker überdurchschnittlich häufig Juristen sind. Das war schon immer so:

    From 1780 to 1930, two thirds of the senators and about half of the House of Representatives were lawyers

    In diesem Jahr sehen wir das an Obama (Studium Harvard, Dozent für Verfassungsrecht an der University of Chicago) und seinem Vize Joe Biden (Studium Syracuse University). In Deutschland dominieren bekanntlich Beamte das Feld, auch schon seit ewig.

  • Zum Bürgerkrieg: Der interessierte Leser HC weist darauf hin, dass nicht alle Amerikaner Civil War für die richtige Bezeichnung halten. Die Wikipedia gibt unter anderem folgende alternative Namen an:

    War Between the States
    War of the Rebellion
    War for Southern Independence
    War of Northern Aggression

    Wir blieben hier aus rein praktischen Gründen bei „Bürgerkrieg“, denn er ist in Deutschland am geläufigsten.

  • Zur Meinungsfreiheit: Die Synchronisatoren von South Park werden sich (mal wieder) etwas überlegen müssen: In einer der neuen Folgen, „The China Probrem“ [sic], wird gezeigt, wie George Lucas und Steven Spielberg Indiana Jones vergewaltigen. Nein, das ist nicht im übertragenen Sinn gemeint. Ja, es gab Rekord-Zuschauerzahlen. Und ja, in den USA ist es legal, Lucas und Spielberg so darzustellen. Vielleicht wird dieser Autor alt, aber so schlecht fand er The Crystal Skull übrigens gar nicht.
  • Zu Atombomben, wenn wir durch Skull schon dabei sind: Wir hatten von den ersten drei (vier) gesprochen, wie viele sind es denn heute? Wer den Kalten Krieg noch bewusst erlebt hat, mag wie dieser Autor glauben, es seien immer noch Zehntausende. Denkste (Hervorhebung hinzugefügt):

    Since the dissolution of the [Soviet] communist government, the number of warheads on both sides has steadily declined from the U.S. high of 31,700 warheads in 1966 and Russia’s 45,000 in 1986. The U.S. currently has about 5400, while Russia has about 5200, according to tallies by the Bulletin of Atomic Scientists

    Wenn das Dr. Strangelove noch miterlebt hätte.

  • Zu Halloween: Inzwischen sieht dieser Autor an den Suchstrings, dass die Kinder-Gruselnacht (und Thanksgiving) vor der Tür steht. Dazu der Hinweis, dass in den USA auch viele Zoos Kinderfeste anbieten:

    Some zoos use Halloween to show off their wolves, bats, centipedes and tarantulas.

    Die Schönste Germanin will in diesem Jahr mit einer amerikanischen Bekannten ein Haunted House aufbauen. Und Kind Nummer Eins redet jetzt schon davon, wieder Klopapier über die Bäume zu werfen.

  • Zur NSA: Welches Gesicht, wenn überhaupt, verbindet die Welt mit dem Abhördienst der USA? Richtig, dank James Bond das von Halle Berry. Und die ist jetzt zur Sexiest Woman Alive gewählt worden (die Schönste Germanin war an dem Tag unterwegs). Warum jetzt erst, fragt Berry, und spricht dabei selbst ihren Auftritt als NSA-Agentin Jinx an:

    I mean, you couldn’t go with the Bond-girl year? You didn’t like the orange bikini? I liked the orange bikini. That would have been a pretty good year.

    Die Rede ist natürlich von diesem Bikini. Das ist doch mal eine Behörde mit effektiver Öffentlichkeitsarbeit!

  • Zum Wahlkampf, nochmal, weil alle davon reden: In den deutschen Medien wird berichtet, dass der Tonfall bei den Anhängern immer aggressiver wird. Dabei sind die Kanadier längst einen Schritt weiter: Dort werden der Gegenseite die Bremsleitungen durchgeschnitten. Davon liest man nicht so viel.
  • Zu ungebildeten Amerikanern: Die Wahl in Kanada ist übrigens am Dienstag, also morgen. Der interessierte Leser möge daher heute ein kleines Experiment vornehmen: Er frage seine Mitbürger, wie die Kandidaten heißen. Insbesondere sollten die Leute gefragt werden, die sonst gerne erzählen, die US-Bürger seien dumm, weil sie nicht wüssten, wer in irgendwelchen europäischen Staaten an der Macht sei. Dieser Autor fragt sonst übrigens gerne wer Michaëlle Jean ist.
  • Zu ungebildeten Briten: Mann kann die Leute dann gleich trösten, dass sie mit ihrem Unwissen nicht allein sind. Denn offenbar brauchen die Briten, die keine Sprachbarriere als Entschuldigung haben, dringend ein eigenes USA Erklärt:

    More than 50 percent of Britons believe that polygamy is legal in the United States (…) Almost one-third of Britons believe that Americans who have not paid their hospital fees or insurance premiums are not entitled to emergency medical care (…) Seventy percent of Britons think the United States has done a worse job than the European Union in reducing carbon emissions since 2000 (…)

    Das ist natürlich alles Quatsch. Die Quellen dazu finden sich in der eigentlichen Studie [PDF]. Dort gibt es auch bizarrerweise einen Hinweis auf einen Brief von Michael Moore an Die Zeit.

  • Zum Tourismus: Im ersten Link des vorherigen Eintrags finden sich viele andere interessante Dinge, wie zum Beispiel dass im Verhältnis weniger Europäer in die USA reisen (2,5 Prozent der Bevölkerung) als Amerikaner nach Europa (fünf Prozent):

    The lack of firsthand knowledge of the United States is arguably the biggest reason why ordinary Europeans cannot discern fact from fiction when it comes to America.

    Dieser Autor möchte daher seinen Text über den Aufbau der USA nicht missverstanden wissen: Man kann auch in die USA reisen, wenn George W. Bush nicht Präsident ist.

  • Zu Spanisch, am Ende nochmal, wegen Rahmen und so: Wie lernen die anglos jetzt eigentlich Amerikas Proto-Zweitsprache? Nun, Bush kann mit seiner Schwägerin üben. Wenn man die Buffy-Schauspielerin Sarah Michelle Gellar ist, dann natürlich mit Buffy la CazaVampiros als die Synchron-Fassung (la cazadora ist die Jägerin). Für Staffel 8 könnte sie ins Internet wechseln, wenn ihr Mann ihr nicht ohnehin hilft. Und dann gibt es natürlich Lernprogramme wie Learning Spanish at Knifepoint [YouTube]. Für jeden Lernstil etwas!

[Korrigiert 13. Okt 2008: Robenliste auf Merkel reduziert, da Schröder Anwalt war. Zuerst gesehen von AP, vielen Dank. Korrigiert 17. Okt 2008: Die Southpark-Folge heißt „The China Probrem“, ja, mit „r“, zuerst gesehen von S, vielen Dank.]

ZEUGS: Einsendungen von interessierten Lesern 1

Oktober 10, 2008

Vielleicht braucht dieser Autor wirklich ein Zweitblog nur für ZEUGS-Einträge. Um den Berg abzubauen, posten wir heute eine Version, die ausschließlich aus Hinweisen von interessierten Lesern besteht – und das sind nicht einmal alle.

  • Zu interkultureller Kommunikation: Max Keller hat auf seinem In Germany Blog eine englische Variante des Textes gepostet. Schön ist auch dieser Hinweis:

    One of the most frequent searches leading to this blog is about „weird habits of Germans“.

    Dieser Autor sagt dazu nur: Fenster auf!

  • Zu über überall: PH weist darauf hin, dass die Verwendung von über in der angelsächsischen Computerspiel-Subkultur (wie der über item clause bei Diablo II) zurück in die deutsche Gemeinschaft übernommen wird, wie bei diesem Posting:

    Wie schon erwähnt hatte der Ring eine cooldown Zeit von einer Sekunde als ich ihn gesehen habe, was ihn zu einem Uber-Item [sic] gemacht hätte.

    Man bemerke den fehlenden Umlaut. PH hat eine ganze Reihe von solchen Beispielen entdeckt. Hier wartet irgendwo eine Magister-Arbeit.

  • Zu über überall, nochmal: S weist darauf hin, dass man „das“ auch ständig bei den Angelsachsen sieht, wie im Fall von Das Keyboard, eine Tastatur ohne Beschriftung:

    We wanted to find a name that vehicules its avant-gardeness. A keyboard with no inscriptions on the keys is obviously only for a certain type of geeks, not just normal ones, only those who are above the pack: the Übergeeks. Therefore „Das Keyboard“, the German word for „the keyboard“ came up as a natural name.

    (Das to vehicule ist ein weiteres Beispiel für verbing weirds language.) „Tastatur“ spricht sich auf Englisch auch nicht so schön aus. Der Artikel „das“ dürfte von dem Film Das Boot kommen, wie wir an dem Comic „Das Hund“ sehen können.

  • Zur Navy, wenn wir von Comics reden: Schwesterlein Mein weist auf Internet-Cartoons zur US-Marine und der Marineinfanterie hin. Einige verlangen eine gewisse Vertrautheit mit den Abläufen dort. Auch Blogger kommen vor.
  • Zum Police Blotter: Von CT stammt der Hinweis auf ein Cartoon dazu mit Hochzeitsproblemen.
  • Zu „US-Amerikaner“: MW verweist auf einen Blogeintrag von Tim Cole von 2007 hin über einen Versuch von „Le Monde“, sich des les américains zu entledigen:

    Die Reaktion der verehrten Leserschaft hat die beiden Autoren ziemlich überrascht. Sie wurden nämlich von Zuschriften überschwemmt, in denen sie der antiamerikanischen Hetzpropaganda bezichtigt wurden. Selbst gemäßigtere Leser fanden die Bezeichnung „Ètats-Unien“ unappetitlich, unmusikalisch, snobistisch, sarkastisch oder schlicht unschön.

    Einige Freundschaften gehen halt nie wirklich kaputt.

  • Zur Anrede: JR hat diesem Autor erklärt, dass die in dem Eintrag erwähnten Regeln für das Duzen so nur in Deutschland gelten, nicht aber in Österreich. Das liegt bestimmt an den Reinemachefrauen.
  • Zu Dollar-Münzen: T hat eine andere Begründung gefunden, warum sich die Ein-Dollar-Scheine in den USA halten: Dollar coins don’t fit in G-strings!
  • Zu Root Beer: Den auf Germanen so abstoßenden Geschmack führt LH auf Pulmex zurück. Dieser Autor hatte noch keine Vergleichsmöglichkeit.
  • Zur Schlacht von New Orleans: DKS weist darauf hin, dass das Lied bizarrerweise in Großbritannien ein Hit war. Sehr seltsam. Und GL hat eine Online-Version des Originals von Johnny Driftwood gefunden.
  • Zur Brücke von Selma: HS ist aufgefallen, dass der Link zu Amelia Boynton Robinson auf das ein Institut von Lyndon LaRouche verweist, der nicht ganz umstritten ist. Oops. Nein, da steckt keine tiefere Bedeutung dahinter, es war der erste Link, den Google dazu angeboten hatte.
  • Zu Pink und I think I can: BK weist auf diese pädagogisch nicht korrekte Version hin.
  • Zum Holzlager: Der interessierte Leser GL fragt, ob die Synchronisatoren nicht durch Michel aus Lönneberga in die Irre geführt worden sein könnten, der immer in einen Holzschuppen gesperrt worden sei. Wer bitte, war die Antwort dieses Autors, der Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt fast auswendig kannte, aber nicht viel mit Astrid Lindgren am Hut hatte. Die Schönste Germanin dagegen wusste sofort, wer gemeint war. Natürlich.

Warum die Zahnfee in den Diensten der US-Regierung stehen könnte

Oktober 8, 2008

Aus gegebenem Anlass einige Worte über die angelsächsische Zahnfee, die Tooth Fairy. Das geht schnell, denn die gute Frau – offenbar ursprünglich aus Frankreich – hat sich ein weltumspannendes Imperium aufgebaut: Sie arbeitet in den USA und Deutschland – soweit es die entsprechenden Gesetze zulassen – absolut gleich. Anders formuliert, sie hat ein Monopol. Davon können die verschiedenen Weihnachtsversorger nur träumen.

Wie immer bei Monopolen gibt es jede Menge zu kritisieren. In Deutschland wie in den USA gibt es große Spannen bei den Beträgen, die sie unter das Kopfkissen legt. Manchmal gibt es gar kein Geld. Und irgendwie schummelt die gute Fee mit den Währungen, denn Kind Nummer Eins hat ein Ein-Euro-Stück erhalten (und eine Tüte Pombären), aber dieser Autor konnte keinen Bericht darüber finden, dass amerikanische Kinder am selben Tag 1,32 Dollar bekommen hätten. Woher das Geld kommt und was überhaupt mit den ganzen Zähnen passiert, sind Mysterien, die bislang nur wenige Neugierige in Angriff genommen haben.

Eine Besonderheit in den USA gibt es aber. Wir hatten erwähnt, dass Amerikaner Dollar-Münzen nicht ausstehen können, trotz aller Versuche der Münzpräger, die teueren Ein-Dollar-Scheine aus dem Verkehr zu ziehen. Trotzdem finden erstaunlich viele amerikanische Kinder unter ihrem Kopfkissen Sacagawea-Dollar. Die Tooth Fairy hat es selbst in den USA mit Münzen.

Das ist hochgradig verdächtig. Steckt etwa die Zahnfee mit dem amerikanischen Finanzministerium unter einer Decke? Sollen so die kleinsten, wehrlosesten Mitglieder der Gesellschaft emotional an die verhassten Münzen gebunden werden? Das sind die wirklich wichtigen Fragen, die jemand mal während einer Wahldebatte stellen sollte.

[Korrigiert 9. Okt 2008: Nicht Kind Nummer Zwei verliert Zähne, sondern Kind Nummer Eins. Zuerst gesehen von der Schönsten Germanin]

Das Finanzrettungspaket als Beispiel für die US-Gesetzgebung

Oktober 5, 2008

Hin und wieder funktionieren Dinge wie vorgesehen. In der vergangenen Woche war es das Gesetzgebungsverfahren zu dem Rettungspaket für die amerikanische Finanzindustrie, auch wenn man aus den Medien den Eindruck gewinnen konnte, die USA stünden kurz vor dem legislativen Zusammenbruch. Wir gehen daher nochmal den Ablauf durch und zeigen, das die einzelnen Organe genauso funktioniert haben, wie es die Gründungsväter es vor 220 Jahren gewollt hatten.

Dummerweise müssen wir mit einer großen Ausnahme anfangen: Der erste Entwurf wurde von Finanzminister Henry Paulson vorgelegt. In Europa fiel das nicht weiter auf, denn wegen der Verknüpfung von Legislative und Exekutive ist es normal, wenn die Regierung so etwas tut. In den USA allerdings soll der Kongress Eigeninitiative zeigen. Aber die fehlte schon bei den vorherigen Eingriffen in den Markt:

One interesting aspect of the recent government bailouts has been the complete irrelevance of Congress. The operation and decision-making seems to be run almost entirely by the Secretary of Treasury and Federal Reserve. Congress appears to lack the ability, the will, and the decisiveness to play any role except spectator

In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, dass die Zustimmungswerte des Kongresses mit 18 Prozent unter denen von Präsident George W. Bush mit 27 Prozent liegen.

Der ursprüngliche Rettungsplan passt auf drei Seiten. Etwas überspitzt gesagt sieht er vor, dass Paulson 700 Milliarden Dollar bekommt und damit tun kann, was er will. Eine Kontrolle durch den (von Demokraten beherrschten) Kongress und der Rechtsweg sind ausdrücklich ausgeschlossen:

Decisions by the Secretary pursuant to the authority of this Act are non-reviewable and committed to agency discretion, and may not be reviewed by any court of law or any administrative agency.

Einige Journalisten schreiben darüber, welche ungeheuere Macht Paulson bekommen wird. Ihre vorsichtigeren Kollegen schreiben darüber, welche ungeheuere Macht er bekommen würde. Die Zurückhaltung ist berechtigt, denn die Antwort des Kongresses lautet: Whoa. Not so fast, guys.

Die Abgeordneten tun (diesmal) das, was nach den Federalist Papers eigentlich ihr Job ist, nämlich Gesetze zu schreiben statt sie durchzuwinken. Während Bush und Paulson drängeln und Druck machen und drangsalieren, weil sich angeblich jeden Augenblick das Raum-Zeit-Gefüge auflösen wird und niemand Wesley Crusher finden kann, nehmen Demokraten und Republikaner das Paket auseinander, streichen einiges und fügen anderes hinzu. Wie echte Parlamentarier.

Am Sonntag ist der neue Entwurf fertig. Er sieht deutlich anders aus: Die erste Hälfte des Geldes gibt es in Stücken, für die zweite Hälfte muss der Kongress neu angerufen werden. Paulson wird doch nicht der unantastbare Gottkönig der Wall Street, sondern muss sich einer Aufsicht unterwerfen. Der Rechtsweg bleibt erhalten. Die berüchtigten Millionen-Abfindungen für Konzernchefs will man unterbinden. Es gibt eine gewisse Unterstützung für Normalsterbliche. Und so weiter.

Das alles passt natürlich nicht mehr auf drei Blätter, egal ob A4 oder letter. Der Entwurf ist jetzt 110 Seiten lang.

Bush und Paulson lächeln tapfer und betonen, dass das Gesetz auch so völlig in Ordnung sei, wenn es nur jetzt verabschiedet wird. Die demokratische Präsidentin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi und andere Größen der Legislative, Republikaner wie Demokraten, geben dem neuen Paket ihren Segen. Weltweites aufatmen an den Finanzmärkten.

Am Montag tritt das Repräsentantenhaus zusammen. Die Kammer hat in Finanzfragen ja die Vorhand.

Dumm nur: Die Abgeordneten lehnen das Gesetz ab. Großes oops! Es stimmen 95 Demokraten und 133 Republikaner gegen einen Entwurf, den beide Parteiführungen ausdrücklich gebilligt hatten. Damit ist hoffentlich endgültig allen klar: In den USA unterliegen die Abgeordneten keinem Fraktionszwang.

Aber was ist passiert? Das amerikanische Volk ist passiert.

Schon vor der Abstimmung hatten sich in einer Umfrage 55 Prozent der US-Bürger gegen einen Rettungsplan ausgesprochen. In einer anderen waren 33 Prozent dagegen und 31 Prozent dafür. Die Vorstellung, a shitload von Steuergeldern ausgerechnet der Wall Street in den Rachen zu werfen, ließ die Volksseele kochen. Wir haben gesehen, dass Amerikaner bei ihren Steuern eigen sein können.

Entsprechend wurden die Abgeordneten mit wütenden Anrufen, Briefen, E-Mails und Faxen überschwemmt. Blogger wie die konservative Journalistin Michelle Malkin rufen zum Widerstand auf – sie bemüht mit dem Schlachtruf Kill the Bill [JPG] Quentin Tarantino. Der Demokrat Paul Kanjorski aus Pennsylvania, Vorsitzender eines einflussreichen Ausschusses zu den Finanzmärkten, berichtet, dass die Stimmung bei ihm halbe-halbe verteilt sei:

Fifty percent say „No.“ And the other fifty percent say „Hell no.“

Die Server des Repräsentantenhauses brechen zusammen, die Telefonzentrale ist überlastet.

Etwa einen Monat vor einer Wahl, bei der alle 435 Abgeordneten um ihren Sitz kämpfen müssen und vor dem Hintergrund, dass der Kongress ohnehin kaum beliebter ist als ein überfahrenes Stinktier im Hochsommer, zeigt der Massenprotest Wirkung. Die Abgeordneten folgen nicht ihrer Parteiführung. Sie folgen nicht dem Präsidenten. Sie folgen nicht den Fraktionsvorsitzenden. Sie folgen nicht den Experten. Sie folgen dem Volk.

Und genau das ist vom System so vorgesehen. Das Repräsentantenhaus soll – wie schon der Name sagt – die Bürger vertreten. Deswegen sind die Abgeordneten so abhängig vom Volk, wie man sie nur machen konnte: Wahlen alle zwei Jahre, Direktwahl, kein Fraktionszwang, öffentliche Abstimmungen. Aus den Federalist Papers Nummer 52:

As it is essential to liberty that the government in general should have a common interest with the people, so it is particularly essential that the branch of it under consideration should have an immediate dependence on, and an intimate sympathy with, the people.

Genau das sehen wir hier: Ein großer Teil des Volks will etwas anderes als „die Elite“. Dank des Repräsentantenhauses hat es sich Gehör verschafft. Die dummen Gesichter von Bush und Pelosi – und von vielen Journalisten – können als Beleg dafür gesehen werden, wie unzureichend die Stimmung im Volk verstanden wurde. Das kann sich in den USA rächen.

(Fußnote: In einigen deutschen Medien war die Rede davon, dass die Abgeordneten nach der Abstimmung den „Urlaub“ angetreten hätten. Das klang so, als würden sie am Strand von Key West Trinkspiele abhalten, während die Wall Street brennt. Tatsächlich hatte Rosch ha-Schana begonnen. Etwa ein Zehntel der Abgeordneten in beiden Kammern sind Juden.)

Ja, aber sollten Volksvertreter nicht das große Bild im Auge behalten? Das ist in einigen Systemen sicherlich so, insbesondere in Staaten wie Großbritannien und – seit der Föderalismusreform – Deutschland, wo die „Oberhäuser“ nur noch eine eingeschränkte Macht haben. Wenn es aber um das Repräsentantenhaus in den USA geht, lautet die Antwort „nein“, oder zumindest „eher nicht“.

Für die distanzierte Betrachtung ist der Senat zuständig. Dazu trägt die Amtszeit von sechs Jahren bei und dass sich alle zwei Jahre nur ein Drittel zur Wahl stellen muss. In den Federalist Papers Nummer 62 heißt es dazu, wieder im feinsten Englisch des 18. Jahrhunderts:

The necessity of a senate is not less indicated by the propensity of all single and numerous assemblies to yield to the impulse of sudden and violent passions, and to be seduced by factious leaders into intemperate and pernicious resolutions.

Zwar werden die Senatoren nicht mehr von den Bundesstaaten ernannt, sondern direkt vom Volk gewählt. Die grundsätzliche Funktion der Kammer ist aber gleich geblieben.

Der Senat übernimmt also den Gesetzentwurf des Repräsentantenhauses und fängt seinerseits an, darin herumzukritzeln. Unter dem Eindruck der Niederlage in der anderen Kammer änderten sie einiges und fügten zudem eine ganze Reihe von Anhängen hinzu – unter anderem jede Menge Gesetze zur alternativen Energie. Im Gegensatz zum Repräsentantenhaus darf der Senat verschiedene Dinge in Gesetzen zusammenbacken. Das hat nichts mit der Verfassung zu tun, sondern sind die internen Regeln der Kammer.

(Und nebenbei wurde natürlich wieder pork zugefügt, Maßnahmen, die rein gar nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben und die Interessen einzelner Abgeordneter und ihrer Bundesstaaten bedienen. Darunter sind sechs Millionen Dollar Steuererleichterungen für die Hersteller von Spielzeug-Holzpfeilen. Pork werden wir getrennt besprechen müssen, denn ist gehört zu den strittigsten Themen der US-Politik.)

Schwupps ist das Paket 451 Seiten lang. Statistisch gesehen sind für jeden Senator mehr als drei Seiten dazugekommen. Ob die Schöpfer das nun gut gefunden hätten, darf bestritten werden.

Am Mittwoch nach Sonnenuntergang – wieder wegen des jüdischen Feiertages – stimmt der Senat mit 74 zu 25 Stimmen für seinen Entwurf. Die Senatoren beider Parteien weisen auf die Lage am Finanzmarkt hin, obwohl auch ihre Telefone nicht stillstehen. Hier zeigt sich, dass die Kammer unabhängiger vom Volkswillen ist. Wie geplant.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Das Repräsentantenhaus tritt am Freitag wieder zusammen und erklärt groß und breit, wie viel besser das Gesetz jetzt sei. Die geänderte Version wird angenommen. Diesmal stimmten noch 62 Demokraten und 91 Republikaner dagegen. Wer seine Meinung geändert hat, das wird in der Presse genau festgehalten. Wir werden am 4. November wissen, wie sehr es ihnen geschadet hat, denn glücklich sind die Bürger immer noch nicht.

Nun müssen wir betonen, dass es kein ein typisches Gesetzgebungsverfahren war, schon allein weil es es viel, viel zu schnell ablief. Und wir sagen nichts darüber, ob das Gesetz gut ist oder doch hätte sterben sollen, denn das wird ohnehin erst die Geschichte urteilen. Wir halten nur fest, dass die Kammern sich im Großen und Ganzen so verhalten haben, wie es die Verfassungsväter vorgesehen haben. Immerhin.

Kurz erklärt: Drop Dead

Oktober 1, 2008

Der Sekretär und Sprecher des Nobelpreis-Komitees für Literatur, der Schwede Horace Engdahl, hat Europa zum Zentrum der Weltliteratur erklärt. Die Amerikaner könnten nicht mithalten, sagte er, denn sie seien isoliert, ignorant und provinziell, weil sie nicht genug Bücher ins Englische übersetzten. Zu die Briten hat er nichts gesagt, obwohl die noch weniger Übersetztes in ihren Buchläden stehen haben.

Die Reaktion in den USA kann sich jeder denken. Interessant ist für uns diese Überschrift:

Nobel to US: Drop Dead

Als Aufforderung „fall‘ tot um“ ist die Verwendung hier klar. Man sollte aber wissen, zumindest als Übersetzer, dass drop-dead als Adjektiv genau das Gegenteil bedeutet – es ist positiv. Insbesondere drop-dead gorgeous heißt „so schön, dass man sterben möchte“ und nicht „so häßlich, dass man tot sein sollte“ – auch wenn man mit etwaigen Kommata etwas aufpassen muss. Aber das kennen wir ja.

Und jetzt warten wir gespannt darauf, ob Engdahls Kollegen vom Komitee für Wirtschaftswissenschaften ihm die Mechanismen des Verlagswesens beim Vorliegen einer dominanten Sprache erklären.