Archive for Oktober, 2006

Spaß mit der Tonleiter

Oktober 30, 2006

Zum größten Spaß beim Umgang mit anderen Kulturen gehört das Erklären von Dingen, die absolut wahr sind, aber beim Gegenüber trotzdem ein dummes Gesicht erzeugen. Zu dieser Kategorie gehört in unserem Fall die Tonleiter: Angelsachsen gucken einfach nur herrlich, wenn man ihnen erzählt, dass die deutsche Version ein H hat.

Denn in Großbritannien und Amerika lautet die Reihenfolge

C-D-E-F-G-A-B-C

und nicht

C-D-E-F-G-A-H-C

Angelsachsen benutzen also die ersten sieben Buchstaben des Alphabets in ihrer normalen Reihenfolge. Erzählt man ihnen nun vom H, ist ihr der erster Gedanke, dass man in Deutschland eine Sprosse mehr in der Tonleiter hat, denn das ist der achte Buchstabe. Ist deutsche Musik wirklich so anders? Kriegt Rammstein deswegen diese tiefen Töne hin? Erklärt das vielleicht sogar Trio? Ein großer Spaß!

Offenbar ist B tatsächlich die ursprüngliche Form, aber irgendwann im 10. Jahrhundert wurde in Mitteleuropa durch Schlampigkeit aus dem „b“ ein „h“. Alle gewöhnten sich daran und inzwischen kann sich wohl niemand mehr aufraffen, den Fehler zu korrigieren. Oder so hat man es auf jeden Fall diesem Autor erklärt, der keine Ahnung von Musik hat und in der Schule schon die Triangel als extreme Herausforderung empfand. Den Teil der Erklärung, wann ein H doch noch ein B ist, hat er deswegen auch prompt ignoriert. Das war nicht mehr lustig.

Hat man einem Angelsachsen erfolgreich die deutsche Tonleiter erklärt, kann man sich an die nächsthöhere Schwierigkeitsstufe wagen: Die Auswirkungen der Netzspannung auf die Leistungsfähigkeit von elektronischen Geräten. Amerikaner weigern sich nämlich oft hartnäckig einzusehen, dass ein Computer in Deutschland mit 220 Volt doppelt so schnell ist wie in den USA bei 110 Volt …

(Nach einem Vorschlag der Ehrenwerten Mutter, vielen Dank)

Land für alle: Wie das Eigenheim für Amerikaner zum Normalfall wurde

Oktober 27, 2006

Im Winter 1622-1623 drohte den Pilgrim Fathers wieder der Hungertod, zum dritten Mal seit der Gründung der Kolonie. Die gemeinschaftlichen Vorräte der Plymouth Plantation an der Küste von Massachusetts waren erneut zu früh aufgebraucht, die Einwohnerzahl fiel unter 100. Im ersten Winter nach der Landung der Mayflower 1620 hatten die Indianer noch ausgeholfen – der Ursprung von Thanksgiving. Aber jetzt verhöhnet sie die ausgemergelten Gestalten, die im Wald verzweifelt nach irgendwas Essbaren suchten, egal was, oder stahlen das Wenige, das die Frauen und Kinder gesammelt hatten [1].

In ihrer Not entschlossen sich die Pilgrims 1623 eine ihrer wichtigsten Regeln aufzugeben: Gouverneur William Bradford ließ auf Probe die private Nutzung von Land zu. Bei der Division of Land [PDF] wurde jeder Familie pro Kopf ein „Acre“ zugewiesen – etwa 0,4 Hektar. Der Schritt war umstritten, aber der Erfolg umwerfend (Rechtschreibung modernisiert):

This had very good success, for it made all hands very industrious, so as much more corn was planted than otherwise would have been by any means the Governor or any other could use, and saved him a great deal of trouble, and gave far better content. The women now went willingly into the field, and took their little ones with them to set corn; which before would allege weakness and inability; whom to have compelled would have been thought great tyranny and oppression.

Ab da ging es mit der Kolonie bergauf. Aus privater Nutzung wurde bald Privatbesitz und Bradford schrieb in seine Chronik bissige Kommentare über Platos Ideale vom gemeinschaftlichen Eigentum. Andere Siedler reisten an, den Indianern verging der Spott. Plymouth Plantation wurde zur zweiten lebensfähigen englischen Kolonie.

Die erste – Jamestown, Virginia, gegründet 1607 – hatte schon vorher die gleiche Erfahrung gemacht, die wir heute so formulieren würden: Kommunismus funktioniert nicht. Nur wer sein eigenes Land bearbeitete, für sich und seine Familie, arbeitete auch hart genug, dass die Gemeinschaft überleben konnte. Für England war diese Erkenntnis der große Durchbruch bei der Besiedlung der Kolonien. Auf lange Sicht entstand daraus auch eine Einstellung zu Land- und Hausbesitz, die bis heute ein zentraler Teil der amerikanischen Psyche ist. Das ist das Thema dieses Eintrags.

England hatte in der Neuen Welt auf den ersten Blick die Arschkarte gezogen. Spanien hatte die riesigen Azteken- und Inka-Reiche im Süden erobert, wo (zunächst) Millionen von Ureinwohner für sie Gold und Silber abbauten. In Kanada – damals noch ein Teil Frankreichs – war der Reichtum die Felle, die die Indianer ohnehin besser erjagen konnten. In beiden Fällen waren nur wenige Europäer nötig, quasi als Aufseher, um alles am Laufen zu halten. Frankreich unterdrückte sogar die Auswanderung, denn die wehrfähigen Männer wurden für die Kriege in Europa gebraucht.

Englands Schatz in der Neuen Welt war weder Gold noch Biberfell, sondern Ackerland, eigentlich ein unglaublicher Reichtum für die Industrie des 17. Jahrhunderts. Es gab nur ein Problem: Bäume. Die Dinger standen von der Küste bis zu den „Endless Mountains“ (den Appalachen) Ast an Ast und Blatt an Blatt gereiht. Diese Bäume! Einige waren so groß, dass eine Kette von vier Männern sie nicht umfassen konnte.

Dieser Wald musste weg, bevor das Land nutzbar wurde. Und dann mussten auch die Felder von Europäern bestellt werden, denn die vergleichsweise wenigen Indianer, die es in Nordamerika gab, zeigten dazu wenig Neigung.

England brauchte also als einzige der frühen Kolonialmächte in Nordamerika eine große europäische Bevölkerung, so viele Leute wie möglich. Und daher machte es etwas Einzigartiges: Man ließ jeden hinein, der kommen wollte, ob Engländer, Deutscher, Skandinavier, Schotte, Niederländer oder Ire. Nach den Erfahrungen in Virginia und Massachusetts lautete der Deal vereinfach gesagt: Ihr dürft so viel Land kaufen, wie ihr könnt, zu Spottpreisen, und es wird und bleibt euer persönlicher Besitz. Im Gegenzug arbeitet ihr euch den Hintern ab und liefert uns alle Rohstoffe, die ihr produziert, denn wir sind Merkantilisten. Es galt der Spruch [2]:

In Virginia land [is] free and labour scarce; in England land [is] scarce and labour plenty.

Das klingt hier bewusster und geplanter als es war. England wurde im 17. Jahrhundert durch zahlreiche inneren Krisen zerrissen. König Charles I. war zum Beispiel viel zu sehr damit beschäftigt, enthauptet zu werden [JPG], als dass er sich um die Kolonien kümmern konnte. Vieles passierte einfach, was von Parlament und Krone (sofern vorhanden) mit dem damaligen Äquivalent von yeah, whatever abgenickt wurde. Bis zum 18. Jahrhundert hatten sich die Kolonien daran gewöhnt, ihr eigenes Ding zu machen, mit den bekannten Folgen.

Wie auch immer: Hier haben wir hier den Kern des „Amerikanischen Traums“, auch wenn der Begriff erst im 20. Jahrhundert geprägt wurde. Ein ungebildeter Fronbauer, der in Europa sein Leben als besitzloser Untertan seines Feudalherren gefristet hätte, konnte in Amerika nach einigen Jahren Arbeit selbst Landbesitzer werden. Sogar reine, dumpfe Muskelkraft war Mangelware und wurde hoch bezahlt.

Mit diesem Geld konnte auch ein einfacher Arbeiter Land kaufen, viel Land, denn das war neben den ganzen blöden Bäumen und Mücken so ungefähr das Einzige, was es in Virginia im Überfluss gab. Er hatte die Chance, nicht mehr arm sein zu müssen.

Der American Dream war daher auch nie der Traum der europäischen Mittelschicht – die bis heute darüber spottet – und schon gar nicht der Oberschicht. Für den englischen Adel war das rückständige Drecksloch auf der anderen Seite des Atlantiks ein Albtraum. Es war der Traum der Unterschicht. Und als solches ging er tatsächlich Millionenfach in Erfüllung.

Denn die USA behielten das Prinzip bei: Immer wenn Land verteilt werden musste, sorgte man dafür, dass es für Normalsterbliche erschwinglich blieb. Die Land Ordinance von 1785 teilte das heutige Ohio und andere Gebiete in kleine Blöcke auf, zum Preis von 640 Dollar für eine Sektion von 640 Acre (etwa 260 Hektar) oder umgerechnet 16 US-Cent pro Quadratmeter. Wenn man das überhaupt sinnvoll vergleichen kann, was fraglich ist, wären das
auf der Basis der Lebenshaltungskosten (CPI) heute offenbar etwa 3,50 Dollar pro Quadratmeter.

Noch radikaler ging man beim Homestead Act von 1862 westlich des Mississippi vor. Jeder Interessierte erhielt 160 Acre Land für eine pauschale Bearbeitungsgebühr von zehn Dollar und die Zusage, dort fünf Jahre zu wohnen, bevor man es wieder verkaufte. Man musste nicht einmal ein Bürger der USA sein, sondern nur schriftlich versichern, einer werden zu wollen:

Come along, come along, don’t be alarmed;
Uncle Sam is rich enough to give us all a farm!

Etwa zehn Prozent des gesamten Landes der 48 kontinentalen Bundesstaaten (also ohne Alaska und Hawaii) wurde auf diese Weise an Privatpersonen verteilt. Erst 1976 wurde das System von dem Federal Land Policy and Management Act abgelöst. Der Bund behält seitdem zunächst die Kontrolle über die unbesiedelten Flächen. Damit soll auch der Umweltschutz gestärkt werden – eine tolle Sache, diese ganzen großen Bäume! Die Besitzverhältnisse in den westlichen Bundesstaaten sind damit auch anders als in den übrigen USA, wo der Bund vergleichsweise wenig Land hält.

Die diversen Verteilungsmechanismen waren nicht perfekt. Es gab massiven Missbrauch und haltlose Spekulation und was es für die Indianer bedeutete, muss in einem separaten Text beschrieben werden. Aber das Ziel, dass auch der einfache Bürger Land besitzen konnte, wurde erreicht. Nicht umsonst folgte Kanada 1872 mit dem Dominion Lands Act diesem Vorbild. Im Gegensatz dazu kämpfen die Länder Süd- und Mittelamerikas bis heute mit den Folgen des Großgrundbesitzes.

Und jetzt können wir endlich etwas erklären, das für Deutsche bis heute so schwer zu verstehen ist: In den USA gilt es als völlig normal, dass jeder bis herunter in die untere Mittelschicht ein Haus besitzt. Ein eigenes, frei stehendes Haus auf einem eigenen Grundstück ist in den USA nicht ein Zeichen von Wohlstand, es ist ein Teil der Grundausstattung. Wer als Amerikaner nach Deutschland zieht, verbringt Jahre damit seinen Verwandten zu erklären, warum man immer noch zur Miete wohnt. Spätestens wenn die Kinder kommen, hört das Verständnis für Mehrfamilienhäuser auf.

Der Kontrast zu Deutschland ist dabei besonders groß, denn kaum ein anderer Industriestaat hat so wenig privates Wohneigentum. Die „Wohneigentumsquote“ liegt in Deutschland bei 44 Prozent, in den USA bei rund zwei Drittel. Deutsche Hausbesitzer sind auch deutlich älter: Mit 40 bis 44 Jahren haben knapp die Hälfte der deutschen Haushalte eigene Wände um sich. In den USA sind es 70 Prozent.

Das liegt sicher nicht daran, dass die Deutschen gerne zur Miete wohnen – 80 Prozent hätten gerne ein Haus. Allein, es ist zu teuer. Wer ein eigenes Dach haben will, muss im Durchschnitt fünf bis sechs Jahreseinkommen ausgeben. In dieser Spanne sind dabei auch die, äh, günstigen Häuser in Ostdeutschland aus der DDR-Zeit mit eingerechnet. Im Westen der Republik bracht man knapp acht Jahreseinkommen. In den USA sind zwei bis drei normal; die jüngsten „hohen“ Preise waren Teil einer Immobilien-Blase, die jetzt wieder schrumpft.

Ein Grund für den Unterschied ist natürlich die Bevölkerungsdichte, aber man darf diesen Faktor nicht überbewerten. Die Briten haben die gleiche Wohneigentumsquote wie die USA und die Spanier liegen mit 80 Prozent sogar höher. Es gibt zahlreiche Gründe – Bauvorschriften, Kreditbedingungen, dass Deutschland Europas Schlusslicht beim Wohnungsbau ist und ganz einfach eine unterschiedliche Politik der Eigenheimförderung. Das ist allerdings alles nicht Thema dieses Blogs.

Wir lassen das Deutsche Institut für Altersvorsorge am Ende die unterschiedlichen Ansichten zusammenfassen:

In den USA ist ein Haus eine Ware … Als Single kauft man seine erste Wohnung und dann, wenn man als Paar zusammenwohnt, eine größere. Wenn man Kinder hat, steigt man auf ein Haus um und zieht später, wenn die Kinder ausgezogen sind, in eine Eigentumswohnung um.

Wir sollten der Vollständigkeit halber erwähnen, dass nicht alle mit dieser Situation zufrieden waren. Auch das fing bei den Pilgrim Fathers an: Plötzlich wohnten ihre Gemeindemitglieder nicht mehr eng zusammen, wo man streng auf ihr moralisches Wohlergehen achten konnte. Die Chance, aus der Neuen Welt eine perfekte Glaubensgemeinschaft zu machen, ging mit der Einführung des Privatbesitzes verloren. Manchen Leuten kann man nie etwas recht machen.

([1] American Beliefs. What Keeps a Big Country and a Diverse People United. John Harmon McElroy, Ivan R. Dee 1999, ISBN 1-56663-314-1. [2] The Penguin History of the USA, Hugh Brogan, Penguin Books 1999, ISBN 0-14-025255-X)

Kulturelle Ikonen 2: Rosie the Riveter

Oktober 25, 2006

Der amerikanische Feminismus verdankt Hitler eine seiner wichtigsten Ikonen: Rosie the Riveter („Rosie die Nieterin“), das Sinnbild für die Frauen, die im Zweiten Weltkrieg in der Industrie arbeiteten. Am bekanntesten ist das Poster We Can Do It! von J. Howard Miller aus dem Jahr 1943, das eine Frau vor einem gelben Hintergrund zeigt. Es gibt inzwischen endlose Abwandlungen davon. Neben dem Poster gab es ein Lied, das den Namen beisteuerte. Von Norman Rockwell, selbst eine Art Ikone, kam ein Gemälde, das die beiden Elemente endgültig zusammenführte.

Hintergrund des Programms war der akute Mangel an Arbeitskräften nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941. Die Regierung rief die Frauen dazu auf, den Platz der Männer an den Fließbändern der Rüstungsindustrie zu übernehmen. Aber es gab Widerstand. Die Regierung begann mit einer Werbekampagne. Das half: Am Ende stellten sich sechs Millionen Frauen an die Bänder.

Zwar gingen die meisten von ihnen nach dem Krieg auch wieder an den Herd zurück, aber die Dinge würden nie so sein wie früher. Die amerikanischen Frauen hatten gelernt, dass sie selbst die härtesten Jobs genauso gut machen konnten wie die Männer. Was für sie aus der Not geboren wurde, sollten ihre Töchter als ein Grundrecht beanspruchen.

(Nach einem Vorschlag von BK, vielen Dank)

Warum Abgeordnete (und viele Beamte) in den USA direkt gewählt werden

Oktober 23, 2006

Dieser Autor hat inzwischen seine Unterlagen für die Wahlen am 7. November bekommen und steht jetzt vor eine der wichtigsten Fragen, die sich ein Amerikaner in Deutschland bei der Inanspruchnahme seiner demokratischen Rechte stellen kann: Wenn zwingend ein number 2 pencil vorgeschrieben ist, was ist das für eine Bleistift-Härte im HB-System? Es gab einen guten Grund für den vorherigen Eintrag.

Die zweite Frage ist natürlich, wieso Bleistift und nicht Tinte, aber das ist eine Vorschrift des für diesen Autor zuständigen Bundesstaates New Mexico bei der Briefwahl. Die Zettel werden unter Aufsicht in Zählmaschinen gelegt, die eine Nummer 2 haben wollen. Angeblich alles kein Problem. Hmmm.

Die dritte und für uns heute wichtigste Frage lautet aber, wo ist der Anspitzer, denn es gibt viele, viele Kreise auszufüllen. Der etwa 20 mal 40 Zentimeter große Wahlzettel aus der zuständigen Gemeinde von New Mexico enthält folgende Posten:

Einen Senatssitz (Bund), einen Sitz im Repräsentantenhaus (Bund), Gouverneur und Vize-Gouverneur (Bundesstaat), einen Sitz im Repräsentantenhaus (Bundesstaat), Secretary of State (Bundesstaat), State Auditor (Bundesstaat), State Treasurer (Bundesstaat), Attorney General (Bundesstaat), Commissioner of Public Lands (Bundesstaat), County Commissioner (Gemeinde), County Assessor (Gemeinde) und der Sheriff (Gemeinde).

Dazu kommen weiter:

Fünf Landesbezirksrichter, sechs Richter des Metropolitan Court, 16 Richter, die abgewählt oder bestätigt werden können, drei Abstimmungen über die Herausgabe von zweckgebundenen Schatzbriefen des Bundesstaates (für Einrichtungen für Rentner, für die Bildung und für die Bibliotheken des Landes), sechs Abstimmungen über zweckgebundene Schatzbriefe der Gemeinde (für Investitionen in den Hochwasserschutz, in die Gemeindebibliothek, in Sicherheitsmaßnahmen für öffentliche Gebäude, in Parks und Schwimmbäder, für behindertengerechte Umbaumaßnahmen und in Straßen und Fahrradwege), eine Abstimmung über eine zweckgebundene Steuererhöhung für Kulturprojekte und vier Anträge auf eine Änderungen der Verfassung des Bundesstaates.

Einige Posten und Ämter, die man sonst erwarten würde, fehlen auf dem Wahlzettel, die Behörden der school districts zum Beispiel. Entweder werden sie von der Übersee-Briefwahl ausgeklammert, oder sie werden in zwei Jahren mit dem Präsidenten gewählt. Auf die Schnelle ließ sich das nicht klären.

Zur zweiten Gruppe: Wir hatten von der direkten Demokratie in den USA gesprochen, und so sieht das in der Praxis aus. Die Wahl der Richter und die Möglichkeit, sie aus dem Amt zu werfen, wird in einem späteren Eintrag besprochen.

Wir werden uns heute mit der ersten Gruppe beschäftigen. Für jeden dieser Posten stehen mindestens zwei Namen auf der Liste (in einigen Fällen kann man Kandidaten per Hand nachtragen). Dahinter steht zwar bei fast allen eine Partei, aber nur als Hintergrundinformation. Eine Zweistimme wie in Deutschland gibt es nicht. Das ist einer der größten Unterschiede zwischen Europas parlamentarischen Demokratien und dem amerikanischen Kongress: In den USA werden Menschen gewählt und nicht Parteien. Warum?

Drei Hauptgründe:

1. Kontrolle und Rechenschaft.

Die Amtsinhaber sollen einzig den Wählern Rechenschaft schuldig und auch nur von ihnen abhängig sein, nicht von einer Partei. Diese schirmt den Kandidaten sonst vom Volk ab: Am wichtigsten für ihn wird es, auf eine Parteiliste zu gelangen und dort einen möglichst hohen Platz zu bekommen. Er konzentriert sich darauf, den Parteibossen zu gefallen statt dem Bürger.

(Allgemein gelten Parteien in den USA seit Anfang an bestenfalls als ein unvermeidbares Übel, wie wir in einem eigenen Eintrag besprechen werden. Schon George Washington hat gegen sie gewettert. Amerikaner sind perplex, dass andere Länder mit ihnen ihren ganzen Staat aufbauen.)

Im Gegensatz dazu muss jeder einzelne Abgeordnete in den USA persönlich um seinen Posten kämpfen. Auch das Geld dafür muss er selbst aufbringen. Vom dienstältesten Parteivorsitzenden zum kleinsten Hinterbänkler hat niemand eine Garantie, die nächste Wahl zu überstehen. Das System der Vorwahlen verschärft das nur: Die Parteiführung kann nicht einmal entscheiden, wer ihr Kandidat sein soll.

Theoretisch könnte damit alle zwei Jahre das gesamte Repräsentantenhaus und alle sechs Jahre der ganze Senat ausgewechselt werden, ohne dass sich die Mehrheitsverhältnisse ändern: Gleiche Parteien, völlig andere Leute. In der Praxis sind größere „Säuberungswellen“ allerdings selten. Wir haben gesehen, dass einige Senatoren seit Jahrzehnten an der Macht sind.

Es werden aber nicht nur Abgeordnete direkt gewählt. Schauen wir uns die Liste nochmal an, finden wir den State Treasurer (Schatzmeister) oder den Attorney General (Generalstaatsanwalt/Justizminister) – Kabinettsposten also. Das ist wieder der im System eingebaute Zwang zum Kompromiss. Aber auch Ämter, die in Deutschland ernannt werden, werden von der Bevölkerung bestimmt: Der County Assessor bestimmt den Wert von Grundstücken und natürlich haben wir dann noch den Sheriff der Gemeinde (die Polizeichefs der Städte sind Angestellte). Diese Posten bringen uns zum zweiten Punkt:

2. Unabhängigkeit.

Da der Gewählte einzig seinen Wählern Rechenschaft schuldig ist, können ihm alle anderen den Buckel herunterrutschen. Im Idealfall folgt er immer seinem Gewissen und nicht nur dann, wenn die Parteiführung gnädigerweise mal den Fraktionszwang aufhebt.

Der Nachteil für den Abgeordneten ist aber: Er steht ganz allein für seine Entscheidungen gerade. Kein Senator oder Mitglied des Repräsentantenhauses kann sich herausreden, er habe sich der Parteidisziplin beugen müssen. In New Mexico war die republikanische Abgeordnete Heather Wilson für den Irak-Krieg, ihre Herausforderin Patricia Madrid (bislang Attorney General des Bundesstaates) von den Demokraten fordert jetzt einen klaren Zeitplan für den Abzug.

Fast wichtiger als bei Politikern ist diese Unabhängigkeit bei den Beamtenposten, wie man sie in Deutschland nennen würde. Zum Beispiel wird in Arizona (aber nicht in New Mexico) der State Mine Inspector gewählt, der für die Sicherheit der Bergwerke zuständig ist. Er soll durch die Direktwahl in die Lage versetzt werden, politisch unliebsame Dinge zu sagen, ohne Angst um seinen Job haben zu müssen. Wahlen werden in New Mexico von dem jeweiligen County Clerk organisiert, der auch für die Verwaltung von bestimmten Akten zuständig ist. Auch hier soll der Amtsinhaber von politischen Machtspielchen abgeschirmt werden. Vermutlich ist diese Person auch für die Bleistifte zuständig.

Wenn etwas schief läuft, ist damit auch die Verantwortung eindeutig: Er war’s. Die Bürger müssen nicht auf einen Untersuchungsausschuss oder ein „internes Disziplinarverfahren“ hoffen, in dem sich oft der Spruch mit den Krähen und den Augen als richtig erweist. Sie können die Person selbst herauswerfen. Wichtig ist, dass der Amtsinhaber das weiß, denn das bringt uns zum dritten Punkt:

3. Besserer Service.

Für solche Ämter gilt als nützlicher Nebeneffekt: Jeder glückliche Kunde ist ein treuer Wähler. Dieser Autor hat nur die besten Erfahrungen mit Behörden gemacht, die einen gewählten Leiter hatten – die Angestellten sind freundlich, zuvorkommend, hilfsbereit und schnell, denn ihr Boss will wiedergewählt werden. Diese Posten werden auf Bundesebene nicht gewählt, was oft zu einem deutlichen Kontrast führt und den gemeinen US-Bürger in seiner Überzeugung bestätigt, dass the feds ein Haufen ineffizienter Geldverschwender sind.

Es gibt noch eine Reihe von Nebengründen für die Direktwahl. Der ganze Mechanismus ist leicht zu verstehen, im Gegensatz zu dem gemischten Wahlsystem des Bundestages, das selbst deprimierend wenige Deutsche korrekt beschreiben können. Auch Dinge wie „Überhangmandate“ gibt es bei der Direktwahl nicht.

Das US-System hat aber auch Nachteile. Der erste ist die bereits in diesem Blog beschriebene Lautstärke: Jeder einzelne dieser gewählten Politiker und Beamten muss sich profilieren und dem Bürger zeigen, warum er wiedergewählt werden sollte. Erträglich ist das nur, weil alle zwei Jahre im November gewählt wird und nur dann. Ob der Einfluss von Lobbyisten größer ist, ist umstritten. Die Amerikaner haben den Abramoff-Skandal und die Deutschen die Flick-Affäre, immun ist also kein System. Ein unbestrittener Nachteil ist dass die Kandidaten mehr an ihrem öffentlichen Auftreten und Verhalten gemessen werden als einigen lieb ist.

Die Direktwahl führt zu einigen Effekten, die Europäer nicht kennen. Den Gewählten steht es nicht nur völlig frei, ihre persönliche Meinung zu äußern, mehr noch, die Bürger verlangen von ihnen oft, Position zu beziehen.

Und so setzen sich die Feuerwehrleute von New Mexico für die Wiederwahl der Abgeordneten Wilson ein. Ihre Rivalin Madrid hat die Lehrer hinter sich. Im tief republikanischen Arizona wird die demokratische Gouverneurin Janet Napolitano unter anderem von acht Sheriffs, sechs Kommunalstaatsanwälten und der Autobahnpolizei unterstützt. Die Sheriffs treten in voller Uniform in ihren Wahlspots auf. Bei Volksbefragungen sehen auch Richter sich berufen, ihre Meinung zu dem einen oder anderen Vorschlag abzugeben, wenn es zum Beispiel um Steuererhöhungen für den Bau von Gefängnissen geht. Solche endorsements können wahlentscheidend sein.

Der Anspitzer ist am Ende im Spielhaus von Kind Nummer Eins aufgetaucht. Wo auch sonst.

(Korrigiert 23. Okt 2006: Senat könnte alle sechs Jahre ausgetauscht werden (alle zwei Jahre ein Drittel), nicht alle 18 Jahre. Zuerst entdeckt von FL, vielen Dank)

Kurz erklärt: Bleistifthärten

Oktober 21, 2006

In den USA gibt es ein anderes System zur Einteilung von Bleistifthärten. Statt H, B oder HB werden Nummern benutzt. Dabei entspricht „#1“ dem europäischen „B“, „#2“ dem HB, „#3“ dem „H“ und „#4“ dem „2H“. Am wichtigsten ist die Nummer 2, die bei allen möglichen Ankreuztests verwendet wird – auch für Wahlzettel.

Halloween. Ein Leitfaden für die Nacht der Kinder.

Oktober 18, 2006

Irgendwann im Oktober beginnen amerikanische Kinder unruhig zu werden. In den Geschäften dominieren die Farben Orange und Schwarz, die Nachbarn malen Gespenster auf ihre Fenster und schnitzen Fratzen in Kürbisse und überall tauchen Bilder von Fledermäusen, Gruselmasken und Hexenhüten auf. Wer schon zählen oder den Kalender lesen kann, ist im Vorteil – die Unter-Ein-Meter-Fraktion muss sich damit begnügen, ihre Eltern mit Varianten von How long? in den Wahnsinn zu treiben. Denn wenn die Blätter fallen und die Nächte länger werden, naht Halloween.

Halloween ist nach Ansicht dieses Autors das schönste Fest, das Nordamerika zu bieten hat, auch wenn es eher wie eine Schnitzeljagd der Addams Family daher kommt. Zwei Gründe:

Halloween ist ein reines Kinderfest. Das geht beim Übergang in andere Kulturen oft verloren und auch in den USA und Kanada gibt es immer mehr Teenager- oder Erwachsenen-Partys. Sein Hauptzweck besteht aber bis heute darin, Kinder glücklich zu machen. Einen Tag im Jahr können sie ihr Feen- oder Spiderman-Kostüm auf der Straße anziehen, sich mit erziehungspolitisch fragwürdigem Zeug beschäftigen und bekommen so viele Süßigkeiten, wie sie tragen können. Weihnachten, das Lichterfest und Ostern sind zwar auch schön für Kinder, aber immer nur informell. Bei Halloween stehen sie einmal ausdrücklich im Mittelpunkt.

Halloween ist nicht religiös oder politisch. Das folgt eigentlich aus dem ersten Punkt – Kinder sind bekanntlich noch zu nah an Gott, um sich Sorgen um Religion zu machen – sollte aber betont werden. Christen und Juden mögen im Dezember ihre eigenen Wege gehen, aber zu Halloween rennen ihre Kinder noch zusammen durch die Straßen. Inzwischen hat sich auch jede kulturelle oder ethnische Zugehörigkeit abgeschliffen. Schokolade eint alle.

Halloween ist also ein Kinderfest ohne ideologischen Hintergrund. So etwas ist selten: Das oberflächlich mit Halloween verwandte Karneval ist auch für Erwachsene, wie die Schnapsleichen in den Straßen bezeugen, und andere Feste – selbst Thanksgiving in den USA oder Sankt Martin in Deutschland – schleppen zumindest eine moralisch erbauende Hintergrundgeschichte mit sich herum. Halloween nicht. Es soll nicht an irgendwas erinnern, zu irgendwas mahnen oder gar irgendwen betrauern. Es geht um glückliche Kinder.

Und weil das so selten ist, soll Halloween in diesem Text der Alten Welt näher gebracht werden.

Bringen wir zuerst die unspaßigen Pflichtteile hinter uns, auf die nur Erwachsene bestehen: Geschichte und Geld.

Halloween hat Wurzeln im keltischen Neujahrsfest Samhain und wird am Abend des 31. Oktober gefeiert. Der Name selbst stammt vom All Hallow’s Eve – die Nacht vor Allerheiligen, dem 1. November. Entsprechend war Halloween zuerst in katholischen Gebieten verbreitet, und bis heute haben selbst professionelle Exorzisten kein Problem damit. An dem Datum sehen wir auch, dass der Reformationstag in den USA von geringer Bedeutung ist.

(Einzelne fanatische Protestanten verbieten ihren Kindern Halloween trotzdem, weil es a) Spaß macht und b) sie Martin Luthers Mahnungen über die Bedeutung der Freude für Kinder nicht verstanden haben. Die Geschichten über Satanismus und Halloween sind moderne Legenden, über die echte Satanisten empört sind.)

Zentrale Elemente kamen dann aus der Neuen Welt oder wurden dort anpasst, was jeder begrüßen wird, der schon mal versucht hat, einen europäischen Kürbis auszuhöhlen. Inzwischen beanspruchen alle möglichen Gruppen und Länder Halloween für sich, selbst die Engländer, die dieses Mal nun wirklich gar nichts zu melden haben. Für die Kinder ist das nur gut: Wer Ami-Hasser als Eltern hat, kann ihnen erklären, dass es ja eigentlich europäisch ist. Und auch in Kanada gefeiert wird. Und dass man nebenbei für UNICEF sammeln kannirgendwas, bloß um auch mitmachen zu können.

Zum Geld: Der durchschnittliche US-Konsument gibt zu Halloween 18,72 Dollar (etwa 15 Euro) für Süßigkeiten und 21,57 Dollar für Kostüme aus. Insgesamt liegt das Fest mit Ausgaben von fünf Milliarden Dollar weit abgeschlagen an sechster Stelle hinter den Winterfeiertagen (Weihnachten plus Lichterfest), dem Valentinstag, Ostern, Mutter- und selbst Vatertag. Zur Einordnung: Für die Winterfeiertage werden in den USA mehr als 450 Milliarden Dollar ausgegeben.

Klagen über die kommerzielle Seite von Halloween sind entsprechend seltener als bei anderen Festen. Ohnehin wird viel selbst gebastelt. In Gesprächen mit älteren Landsleuten fand dieser Autor vielmehr immer wieder ein Bedauern darüber, dass der Charakter eines reinen Kinderfestes verloren gehe. Auch das bestätigt der Einzelhandel: Etwa 85 Prozent der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren will demnach 2006 Halloween feiern, verglichen mit 67 Prozent im Jahr zuvor. Nicht unbedingt durch die Straßen ziehen – das bleibt Kinderkram – aber feiern.

Und damit kommen auch wir zum spaßigen Teil.

Vorbereitung.

Zuerst dekoriert man sein Haus oder seine Wohnung. Fenster werden mit allem bemalt oder beklebt, das schaurig ist: Gespenster, schwarze Katzen, Hexen, Skelette, ghouls (Aas fressende Monster, die auf angelsächsischen Friedhöfen leben), gargoyles (die „Wasserspeier“, die in Europa mit Kathedralen vorlieb nehmen müssen), Spinnen, Vampire, Mumien und ähnliches. Wer einen Garten hat, stellt ihn voll; nur zu den Winterfeiertagen steht in den USA dort mehr herum. Das Ganze wird mit Lampen geschmückt. In Deutschland hat die Dekoration einen weiteren Zweck: Es zeigt, wer mitspielt.

Das zentrale Symbol von Halloween ist der aufwändig geschnitzte und einem Licht bestückte Kürbis (pumpkin), der jack-o‘-lantern. Die Herstellung eines Jack-O‘-Lanterns ist eine Kunstform, aber die Standardvariante kann jeder: Zwei Dreiecke als Augen, ein weiteres Dreieck als Nase und einen Mund mit einem oder zwei Zähnen. Für das Innenleben des Kürbisses gibt es Rezepte.

Dann gibt man seine besagten 18,72 Dollar für Süßigkeiten aus. Einige Varianten gibt es hauptsächlich zu Halloween, darunter Candy Corn, das aussieht wie radioaktive Maiskörner und (leider) noch nicht seinen Weg über den Atlantik gefunden hat. Die Süßigkeiten kommen in eine große Schale oder eine Tüte, in die dann die Kinder hineingreifen.

Gibt es eine Alternative zu Süßigkeiten? Amerikanische Kinder definieren einen bösen Menschen als jemanden, der zu Halloween Zahnbürsten verteilt. Als dieser Autor, die Schönste Germanin und Kind Nummer Eins 2005 Halloween bei den Ehrenwerten Eltern in Arizona verbrachten, gab jemand bunte, dünne Halsringe heraus, die im Dunkeln leuchteten. Das wurde zwar von den Kindern mit gemischten Gefühlen angenommen – cool, aber kein Zucker – aber die Eltern waren für die zusätzliche Sicherheit auf der Straße dankbar. Am Ende geht es aber um Süßigkeiten, nicht um Spielzeug.

Verkleidung.

Deutsche kennen Verkleidungen von Karneval her, daher muss man hier nicht viel sagen. Ob das Kind das gleiche Kostüm nimmt, hängt davon ab, wie gruselig man Funkenmariechen findet.

Trick-or-Treating.

Das Kernritual von Halloween ist der Zug durch die Nachbarschaft, das trick-or-treating. Die Gruppe von Kindern rennt (am Anfang des Abends) oder schleppt sich (gegen Ende) in ihren Kostümen von Haustür zur Haustür, klingelt an und sagt den magischen Spruch auf – in Deutschland scheint sich „Süßes oder Saueres“ durchgesetzt zu haben. Dann und erst dann kriegt man Süßigkeiten. Es gehört zum guten Ton, sich als Erwachsener erschrocken zu zeigen oder sonst wie auf das Kostüm einzugehen, je mehr, desto jünger und aufgeregter die Racker sind.

(Ganz kleine Kinder entwickeln bei Halloween übrigens ungeahnte Fähigkeiten beim Spracherwerb. Kind Nummer Eins, gerade zweieinhalb Jahre alt, brauchte zwei Häuser um zu begreifen, dass es Leckeres gab, wenn man folgende drei Sätze sagte:

Trick or Treat!
Happy Halloween!
Thank you!

wobei die Reihenfolge schon mal unter der allgemeinen Aufregung litt. Immerhin war ein Danke dabei.)

Die Gruppen werden von einem oder mehreren Erwachsenen begleitet, die verkleidet sein können, es aber oft nicht sind – es ist schließlich ein Fest für Kinder. Während die Blagen die Türen belagern, bespricht man die Dekorationen im Garten oder macht Witze über Zahnarztrechnungen. In einigen Nachbarschaften ziehen die Kinder noch alleine los, aber das scheint seltener zu sein als früher. Empfohlen wird es nicht. Wie genau der Rundgang aussieht, hängt vom Klima ab. In den nördlichen Teilen des Kontinents ist es Ende Oktober schon so kalt, dass die ganze Veranstaltung in Einkaufszentren oder anderen großen, geschlossenen Räumen stattfinden muss. In Arizona sitzen die Leute dagegen im Hemd auf ihren Liegestühlen vor der Haustür.

Trick-or-Treating wird oft als ritualisiertes Betteln bezeichnet – so erklärt man es zumindest Nicht-Amerikanern, damit sie ihre Kinder mitmachen lassen. In Wirklichkeit ist es ritualisierte Erpressung. Das Kind kriegt einen treat oder – so die formelle Drohung – es spielt einen trick, also einen Streich. „Süßes oder Saueres“ ist eine geniale Übersetzung.

Echte Streiche sind selten. Was wäre ein traditioneller Trick? Moment –

DIE FOLGENDEN HANDLUNGEN SIND STRAFBAR. SIE SIND HIER AUS GRÜNDEN DER DOKUMENTATION AUFGEFÜHRT, NICHT ZUR NACHAHMUNG. KEINESFALLS MÖCHTE DIESER AUTOR SO VERSTANDEN WERDEN, DASS ER ZU SOLCHEN HANDLUNGEN AUFRUFT, UND ER ÜBERNIMMT ERST RECHT KEINE HAFTUNG.

– so. Der Klassiker ist soaping windows, das Einseifen von Fenstern, ob an Autos oder Häusern. Die Fenster selbst werden (meist) nicht beschädigt und lassen sich verhältnismäßig leicht reinigen. Es werden Klopapierrollen über die Bäume geworfen. Überliefert werden in der Familie dieses Autors Geschichten über Klohäuschen, die auf’s Dach gestellt wurden, und über Gänse, die ein Kopfkissen gesteckt und auf den Friedhof gelegt wurden – damals noch, beim Ur-Ur-Opa. Die Toleranz für richtigen Vandalismus ist während Halloween allerdings wenn überhaupt noch geringer als sonst. Die Polizei fährt verstärkt Streife.

Was man Zuhause tut.

Irgendwann ist der Raubzug zu Ende. Eltern sehen anschließend die Beutel durch, um das Beste zu klauen sicherzustellen, dass nicht jemand etwas Unpassendes hineingelegt hat. Kinder, die nicht sofort ins zuckerinduzierte Schlafmangelkoma fallen, machen Partyspiele.

Traditionell ist hier das apple bobbing, auch ducking for apples genannt. Dabei werden Äpfel in eine Wanne mit Wasser geworfen, die dann mit dem Mund herausgefischt werden müssen. Eine andere Variante besteht darin, möglichst klebrige Süßigkeiten an eine Schnur zu hängen. Beides ist eine Riesensauerei. In Gruselkisten (geschlossene Pappkartons mit Löchern für die Hände) werden Schüsseln mit Würmern (kalte Spaghetti) oder Augäpfeln (kalte Litschis) gelegt und die Kinder lernen wichtige Dinge über die Macht der Suggestion. Es gibt Geistergeschichten und Taschenlampen, die unter’s Kinn gehalten werden.

Und irgendwann kommt doch die Zahnbürste, und man muss ins Bett, und der Spuk ist bis zum nächsten Jahr vorbei.

Zuletzt noch ein Hinweis, vielleicht sogar eine Warnung.

Halloween wird in Amerika seit Generationen gefeiert. Die Eltern, die mit ihren Kindern losziehen, wissen selbst wie es ist, verkleidet mit den Freunden durch die Straßen zu rennen, die Kerzen durch die Fratzen der Jack-O‘-Lanterns flackern zu sehen, die Herbstblätter oder den Schnee zu riechen, lustvoll zu kreischen, wenn an einer Haustür plötzlich eine unfassbar unechte Riesengummivogelspinne an einer Schnur herunterfällt, zu fühlen, wie die Tüte mit Süßkram immer schwerer wird. Sie können Halloween mit den Augen ihrer Kinder sehen, oder besser, sie sehen es mit den Augen der Kinder, die sie selbst einmal waren.

In Deutschland ist das nicht so. Deutsche Eltern sehen Halloween ausschließlich mit den Augen von Erwachsenen, mit ihren Sorgen und ihrem Misstrauen und ihren Ängsten, durch die Brille von Pädagogik und Religion und Politik. Sie lassen ihre Kinder vielleicht an dem Spaß teilnehmen, aber es wird für sie immer ein Ort bleiben, an dem sie selbst nie waren und wohin sie nicht mehr folgen können. Und genau hier liegt ein Problem: Süßigkeiten verstehen sie, Verkleidungen verstehen sie, aber der lustvolle Gruselfaktor von Halloween, der Spaß der (älteren) Kinder am scary stuff muss ihnen fremd bleiben. Von einzelnen Spukgeschichten am Lagerfeuer und ein paar Masken an Fasching abgesehen gibt es so etwas im germanischen Kulturkreis einfach nicht.

Deswegen: Wer Halloween aus den USA kennt, aus Kanada oder selbst Großbritannien, sollte sich mit dem diesem Teil zurückhalten, auch wenn es schwer fällt und es wie Weihnachten ohne Tannenbaum ist. Nicht wegen der Kinder – sie würden es lieben, wenn ein Mülleimer plötzlich aufspränge. Sondern wegen ihrer Eltern. Die Generationenkette, von der der Erfinder dieses Trash-Can-Kostüms spricht, ist in Deutschland noch am Anfang:

When I was a kid there was a guy in our neighborhood that used to jump out of the bushes in a gorilla suit and scare the bejeezus out of us. It was one of my fondest memories of halloween. Last year I decided to be that guy.

Das Schwierige an Kinderfesten sind bekanntlich immer die Erwachsenen.

(Danke an die Ehrenwerten Eltern für Recherchehilfen.)

(Korrigiert 27. Aug 2008: Im Herbst werden die Nächte, nicht die Tage länger. Zuerst gesehen von JP, vielen Dank)

Army Strong und die germanischen Plätzchen

Oktober 15, 2006

Vor einigen Jahren, als die Schönste Germanin noch bei einem Dotcom arbeitete, entdeckte sie während einer USA-Reise mit diesem Autor ein Plakat in einem Rekrutierungsbüro der Marines. Der Text lautete ungefähr so:

We’d promise you sleep deprivation, mental anguish, and muscles so sore that you’ll puke, but we don’t like to sugarcoat things

(To puke ist umgangssprachlich für „kotzen“). Das schien ihr genau der richtige Spruch für die Wand hinter ihrem Schreibtisch zu sein. Also ging sie in das Büro hinein.

Der diensthabende Marine – sehr groß, breitschultrig, schwarz, perfekt gekleidet – begrüßte sie mit einem Grinsen und der Frage, ob sie eine Marineinfanteristin werden wolle, worauf sie mit einem betont deutschen Akzent etwas im Sinne von „Mit Sicherheit nicht“ sagte – aber das Plakat da hätte sie gerne. Das war wohl nicht so einfach, denn es gab kaum welche davon. Aber die Schönste Germanin lächelte, was immer die erstaunlichsten Dinge möglich macht, und einige Tage später hatte er ein zweites Exemplar. Zum Dank brachte sie ihm kurz darauf Plätzchen vorbei, und zwar als er gerade in einer Diskussion mit einer ganzen Gruppe anderer Soldaten war. Seinem Grinsen nach zu urteilen hatte er nicht im geringsten vor, ihnen den Hintergrund zu erklären.

Die Bundesrepublik ist eine der letzten großen Demokratien, die noch eine Wehrpflicht haben. Damit entfallen in Deutschland nicht nur die Anwerbeprogramme und -Büros, die den Bürger zum Dienst an der Waffe ermuntern sollen, sondern auch die ganzen Witze, die Kritik und natürlich auch die politische Debatte, die daraus folgt. Denn in Staaten mit professionellen Armeen hat jede Teilstreitkraft einen besonderen Werbespruch, einen Slogan, wenn man so will, auch wenn einige wohl lieber von einem Motto sprechen würden.

In Kanada ist es Fight with the Canadian ForcesFight fear, fight distress, and fight chaos, in Großbritannien Be the best für die Army und in Australien The Army. The Edge. Die Niederländer haben auch Werbung, aber dieser Autor hat nur verstanden, dass es zwecklos ist, niederländischen Soldaten unter der Dusche das heiße Wasser abzudrehen. Wir beschränken uns daher vielleicht besser auf englischsprachige Länder.

Das US-Heer hat sich jetzt für einen neuen Slogan entschieden: Army Strong. Der alte, An Army of One, wurde erst Januar 2001 eingeführt nach etwa 20 Jahren mit Be all you can be. Der Umbruch kommt also vergleichsweise plötzlich. Hintergrund sollen die Rekrutierungsprobleme im Jahr 2005 sein, obwohl die Ziele für 2006 – 80.000 neue Soldaten für das Heer – wieder übertroffen wurden.

Army Strong wurde von der Werbeagentur McCann Worldgroup ausgedacht, was den amerikanischen Steuerzahler eine Milliarde Dollar über vier Jahre kosten wird. Zusammen mit dem Slogan gibt es eine Reihe von neuen Materialien wie ein Video, das man bei YouTube schon sehen kann. Die koordinierte Werbekampagne soll kurz vor Veterans Day beginnen, dem 11. November.

Andere bekannte amerikanische Militär-Slogans sind oder waren Cross into the blue für die Air Force, das inzwischen auf Do something amazing umgestellt hat (was wenigstens bei der Übersetzung nicht unfreiwillig komisch wird). Die Marines benutzen seit längerem The Few. The Proud. in Abwandlung eines Anwerbespruchs von 1799. Die Navy hat Accelerate your life und die Küstenwache Ready today, preparing for tomorrow.

Als Werbekampagne dürfte im Ausland allerdings immer noch das Plakat von James Montgomery Flagg [JPG] aus dem Ersten Weltkrieg am bekanntesten sein, auf dem die Symbolfigur der USA, Uncle Sam, auf den Betrachter zeigt und erklärt: I want YOU for U.S. Army. Was die meisten nicht wissen, ist dass es von einem britischen Plakat inspiriert wurde.

[Der aufmerksame Leser wird ein Detail bemerkt haben: Flaggs Plakat hat „U.S.“ (mit Punkten) und Army Strong „US“ (ohne Punkte). Die Frage der Abkürzung ist einen eigenen Eintrag wert.]

Kritiker und Witzbolde haben natürlich eine ganze Reihe von inoffiziellen oder „echten“ Slogans für das Militär parat. Einige sind zynisch (Risk your life for freedoms nobody appreciates), andere sind kritisch

Be All That You Can Be — Unless You’re Gay, In Which Case Be About Six Inches Less Outgoing Than You Can Be

– oder haben einen Humor, der, nun, nicht immer wirklich germanisch ist. Der bekannteste Spruch dieser Art dürfte Peace through superior firepower sein, das inoffizielle Motto dieses Autors bei Diablo II.

Wer diese Sprüche durchliest, wird feststellen, dass viele von Mitgliedern einer Teilstreitkraft sind, die Witze auf Kosten einer anderen machen. Diese Tradition wird damit erklärt, dass das die einzigen „Feinde“ sind, die durchhalten – in Großbritannien und Spanien herrscht inzwischen das Parlament, der Faschismus ist besiegt, die (echten) Kommunisten werden rar und selbst Castro schwächelt, aber die Navy hat nach 220 Jahren immer noch die Marines am Hals (oder umgekehrt). Und so darf es nicht nicht wundern, wenn es neben den vorhersehbaren Witzen wie Army strong, verbs hard auch jede Menge Gegenslogans wie Air Force smart oder Marines better gibt.

Wird sich die Bundeswehr auch irgendwann diesem Spott stellen müssen? Bislang schützt sie die Front der Wehrpflichtbefürworter. Als Berufsarmee würde sie aber nicht umhin kommen, sich ebenfalls moderner Marketingmethoden zu bedienen, mit TV-Spots, Image-Kampagnen, Plakaten und Rekrutierungsbüros. Und natürlich Slogans. Vielleicht bringt dann irgendwann eine schöne Angelsächsin auch mal Plätzchen vorbei.

(Submitted to Carnival of German-American Relations)

J wie Jedi

Oktober 13, 2006

Unsere allgemeine Diskussion um Synchronisationen wäre noch um ein Kuriosum zu ergänzen. Bekanntlich ist das „J“ im Englischen ein „Dsch“-Laut, was wir an jungle sehen, dem „Dschungel“. Wenn beide Sprachen ein Wort aus einer anderen Quelle übernehmen, hat es am Ende eine unterschiedliche Phonetik: „Jesus“ ist auf Englisch eher „Dschieseß“. Bei der Übernahme von englischen Wörtern ins Deutsche bleibt dagegen der ursprüngliche Laut: job wird „Dschobb“ ausgesprochen und jet „Dschett“.

Die große Ausnahme ist jedi.

Die Synchronisatoren von Star Wars haben die mystische Religion des Guten seit Episode 1 (also, inzwischen Episode 4) einfach so ausgesprochen, als wäre es ein deutsches Wort. Tatsächlich heißt es auf Englisch natürlich „Dscheddei“. Seltsamerweise wurde Darth Vader aber nicht zu „Dart Fader“ (h stumm, v wie f ähnlich „Vater“). Auch Chewbacca bekam kein deutsches ch, sondern blieb beim „Tsch“ wie in chicken. Es sind nur die Jedi.

Das schließt eigentlich aus, dass es sich um einen Fall von Inkompetenz handelt. Es bleibt nur eine Antwort: Die Synchronisatoren haben beschlossen, dass das Wort – und damit die Religion – so alt ist, dass es zwei verschiedene Aussprachen haben muss. Was ja auch im Vorspann so erklärt wird.

Tatsächlich geben Briten, Australier und Neuseeländer gerne bei Volkszählungen „Jedi“ als Religion an – in England und Wales soll es fast 400.000 Anhänger geben. Die britischen Behörden nehmen das mit Humor, während die Australier eine Strafe von 1.000 AU-Dollar verhängen.

Und in den USA? Die strenge Trennung von Kirche und Staat nach dem First Amendment verbietet es dem Volkszählungsbüro Fragen zur Religion zu stellen. Es geht den Staat nichts an, wie viele Leute welchen Glauben haben:

Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the government for a redress of grievances.

Das First Amendment nimmt in den USA die gleiche Stellung ein wie Artikel I des deutschen Grundgesetzes: Es ist das wichtigste Gut der Verfassung. Viele der Dinge, die der amerikanischen Demokratie ihren besonderen Charakter geben, gehen auf diesen einen (langen) Satz zurück. Wie wir in eigenen Einträgen sehen werden, sind da insbesondere die zentrale Stellung der Meinungs- und Religionsfreiheit zu nennen.

Heute wollen wir aber nur eine Konsequenz festhalten: Die Jedi (mit „Dsch“) könnten Amerika unterwandern, und die Bundesregierung würde es zunächst gar nicht merken. Dieser Autor kann nicht umhin, in diesem Zusammenhang auf den Temple of the Jedi Order hinzuweisen, der nach eigenen Angaben von den Steuerbehörden als gemeinnützig anerkannt wird im Sinne der Bildung – oder auch im Sinne einer Religion. Der Sitz ist, nur am Rande bemerkt, in Texas.

[KORRIGIERT 7. Aug 2010: Chicken statt Chicago als Beispiel für „tsch“. Nach einem Hinweis von NS, vielen Dank]

Der Bund Teil 9: Drei Bemerkungen zum Gesamtsystem

Oktober 11, 2006

Nachdem wir uns die Einzelteile des Bundes angeschaut haben, gehen wir zum Abschluss nochmal auf drei Aspekte des Gesamtsystems ein, die nicht unbedingt offensichtlich sind.

1. Es gibt keine Koalitionsgespräche.

Parlamentarische Demokratien fallen nach jeder Wahl in eine Phase der Handlungsunfähigkeit, weil sie zunächst durchdiskutieren müssen, wer mit wem regiert – die berüchtigten Koalitionsgespräche. Je nach Sitzverteilung und der Zahl der Parteien kann das Tage oder Monate dauern. Das abschreckendste Beispiel in jüngster Zeit war vermutlich der Irak, wo die Politiker sich trotz der Gewalt fast ein halbes Jahr nicht auf eine Regierung einigen konnten. Stehen die Koalitionen, müssen sie gepflegt werden. Wie viel Spaß das macht, zeigen im Moment (Oktober 2006) die Polen, aber auch die Große Koalition in Berlin.

In einem Kongress-System entfällt das alles. Wegen der Direktwahl und des fehlenden Fraktionszwangs gibt es überhaupt keine Koalitionsgespräche (da es meist nur zwei Parteien gibt, wäre das ohnehin albern). Nach einer Wahl müssen zwar die Posten in den Ausschüssen verteilt werden und den neuen Abgeordneten muss gezeigt werden, wo im Kapitol die Toiletten sind. Aber im Prinzip ist der Kongress sofort handlungsfähig.

Der Preis dafür ist allerdings, dass bei jeder einzelnen Abstimmung neu verhandelt werden muss, denn jedes Mal muss eine neue Mehrheit gefunden werden: Nicht jeder folgt den Vorgaben seiner Partei. Der Kuhhandel findet dabei zwischen einzelnen Abgeordneten und nicht zwischen den Parteien statt. Es schreien sich auch nicht zwei oder drei Parteichefs an, sondern gleich mehrere Dutzend Menschen, die alle ihren Wählern zeigen müssen, dass sie ihr Geld wert sind.

Steht dagegen endlich die Mehrheit in einer parlamentarischen Demokratie, können Gesetze wegen der festen, durch Fraktionszwang gesicherten Mehrheit zügig verabschiedet werden (was in den USA allerdings gar nicht erwünscht ist). Das Kongress-System mag zwar stabiler sein, aber es ist auch sehr viel lauter und oft langsamer.

Die deswegen vom Bürger abverlangte Geduld – in einigen Fällen wäre „Frustrationstoleranz“ wohl das bessere Wort – ist nichts für Staaten, die gerade eine Diktatur hinter sich haben, denn dort ist der Entscheidungsprozess bekanntlich sehr effektiv. Es fällt auf, dass zwar die von Spanien eroberten Kolonien Philippinen und Kuba bei der Unabhängigkeit ein Kongress-System erhielten, Deutschland, Japan, Afghanistan und der Irak dagegen nicht.

2. Der Präsident kann den Kongress nicht auflösen.

Können sich die Parteien in einer parlamentarischen Demokratie nicht auf eine Koalition einigen oder zerbricht sie während der Legislaturperiode, bleibt oft nur der Reset-Knopf: Auflösung des Parlaments und vorgezogene Wahlen. Auch das kennen die USA nicht. Da der Präsident direkt gewählt wird, ist die Exekutive nicht von der Legislative abhängig – wenn diese völlig zerstritten ist, werden halt keine neuen Gesetze verabschiedet (nicht unbedingt ein Problem) und auch nicht der Haushalt (schon eher schlecht). Aber das Land wird weiter regiert. In solchen Fällen fällt dem Bürger wieder auf, dass der Bund für den Alltag eh nicht so wichtig ist.

Komplett abwegig ist für Amerikaner die Vorstellung, dass der Präsident den Kongress auflösen können soll. Hier ist nicht nur die völlig andere Funktion des „Präsidenten“ in einer parlamentarischen Demokratie wichtig (eine häufige Frage von Amerikanern zum deutschen System ist, wozu man überhaupt den Bundespräsidenten braucht). Wir sind auch wieder beim Prinzip der Gewaltenteilung: Exekutive und Legislative sind unabhängig von einander. Das Volk hat sie eingesetzt, das Volk soll sie auch wieder absetzen.

3. Gewählt wird immer, egal was.

In den meisten parlamentarischen Demokratien gibt es für Notzeiten wie Krieg besondere Regeln: In Deutschland zum Beispiel werden im Verteidigungsfall nach Grundgesetz Artikel 115h die Wahlen ausgesetzt und die Legislative in ein Einkammer-System umgewandelt. Einen solchen „Kriegsmodus“ kennt die US-Verfassung nicht: Gewählt wird immer. Auch 1864, mitten im Bürgerkrieg, musste sich Abraham Lincoln den Wählern stellen. Gerade im Krieg sollte man wählen, würden viele Amerikaner sagen: Als zu groß gilt in die Gefahr, dass die Exekutive über solche Notstandsgesetze eine faktische Diktatur errichtet.

Wahlen finden in den USA wie nach einem Uhrwerk statt: Alle graden Jahre im November. Das ist in parlamentarischen Demokratien nicht möglich, weil man nach einer Auflösung des Parlaments nicht bis zu vier Jahre auf den nächsten Wahltermin warten kann. Früher oder später geraten diese Systeme aus dem Tritt. Da die Wahl der Gouverneure, der Parlamente der Bundesstaaten, der Bürgermeister und öffentlichen Ämter und auch die Volksbefragungen zusammen mit den Bundeswahlen abgehalten werden, haben die USA auch nicht das in Deutschland bemängelte Problem des ständigen Wahlkampfes. Der ganze Zirkus wird auf einmal abgefeiert. Dafür natürlich um so heftiger.

Und damit endet unsere Betrachtung des Bundes. Wir werden immer wieder zu Einzelpunkten zurückkehren, und dieser Autor ist natürlich für Fragen zu Aspekten dankbar, die noch fehlen könnten.

Plain English für komplizierte Deutsche

Oktober 8, 2006

Der „Spiegel“ hat kürzlich (Heft Nr. 40) in einer Titelgeschichte einen Verfall der deutschen Sprache beklagt, an dem – natürlich – irgendwie Englisch mit schuld sein soll. Wir wollen wie immer nicht direkt darauf eingehen, sondern uns mit einer Stelle in dem Artikel von Mathias Schreiber beschäftigen, die dieser Autor faszinierend fand:

Lange, architektonisch raffiniert gebaute Sätze, wie sie bei Kleist, Thomas Mann, Thomas Bernhard, sogar noch bei dem jungen Daniel Kehlmann zu finden sind, sterben allmählich aus. […] In den Sätzen von Goethe und Heine lag die durchschnittliche Zahl der Wörter noch bei 30 bis 36; Thomas Mann brilliert in dem Romanzyklus „Joseph und seine Brüder“ mit einem Rekordsatz, der 374 Wörter umfasst. Heutige Zeitungstexte begnügen sich mit 5 bis 13 pro Satz.

Faszinierend ist diese Passage deswegen, weil die Einstellung dahinter – lange Sätze sind gut und ein Zeichen für Anspruch – so völlig gegensätzlich zur Haltung der Angelsachsen ist.

Denn in den USA und Großbritannien gilt das Ideal einer möglichst klaren, eleganten Sprache, mit prägnanten, straffen Sätzen: Plain English nennt man das. Ein moderner englischer Text soll so geschliffen sein, dass man mit ihm Glas schneiden könnte. Sätze, bei denen man einen Architekten bemühen muss, gelten nicht als „brillant“, sondern bestenfalls als antiquiert. So schrieb man im 19. Jahrhundert.

Auch dieser kulturelle Unterschied wird nicht in der Schule gelehrt, mit vorhersehbaren Folgen: Deutsche schreiben auf Englisch den Stil weiter, der ihnen als „gut“ beigebracht wurde, der aber auf Angelsachsen unnötig kompliziert, umständlich oder sogar selbstverliebt wirkt. Amerikaner und Briten wollen ihrerseits auch auf Deutsch knackig und straff schreiben, was aber bei Deutschen als anspruchslos ankommt. Eine gewisse Grundkomplexität ist für Deutsche ein Zeichen der Bildung, wie der „Spiegel“ betont. Für Angelsachsen nicht. Dort gelten andere Kriterien.

Deswegen wollen wir uns heute mit Plain Englisch befassen.

Zuerst: Keiner der beiden Stil-Arten ist „besser“. Es gibt einfach unterschiedliche Vorstellungen darüber, was ein „guter“ Stil ist, genau so, wie es unterschiedliche Tischmanieren gibt. Wer in beiden Kulturen unterwegs ist, muss halt beide Arten kennen und möglichst auch anwenden können. Es sind ohnehin, wenn man so will, Mode-Erscheinungen: In 200 Jahren kann sich alles ins Gegenteil verkehrt haben.

Gehen wir aber erstmal zwei Jahrhunderte zurück und schauen uns Beispiele für die Entwicklung des Englischen an. Die Abschiedsrede von George Washington von 1796 müsste Herrn Schreiber das Herz jubeln lassen, denn schon der erste Satz hat etwa 100 Wörter:

The period for a new election of a citizen to administer the executive government of the United States being not far distant, and the time actually arrived when your thoughts must be employed in designating the person who is to be clothed with that important trust, it appears to me proper, especially as it may conduce to a more distinct expression of the public voice, that I should now apprise you of the resolution I have formed, to decline being considered among the number of those out of whom a choice is to be made.

Im Jahr 1863 haben wir dann den Gettysburg Address von Abraham Lincoln, das als eine der besten Reden in der Geschichte der USA gilt (wohl auch, weil sie nur drei Minuten dauerte). Dort ist schon alles kompakter:

Now we are engaged in a great civil war, testing whether that nation, or any nation so conceived and so dedicated, can long endure. We are met on a great battle-field of that war. We have come to dedicate a portion of that field, as a final resting place for those who here gave their lives that that nation might live.

Richtig lang ist nur der letzte Satz der Rede – hier nicht aufgeführt – aber das ist ein rhetorisches Mittel, ein Crescendo. Wir kommen 100 Jahre später zu Martin Luther Kings I Have a Dream:

But one hundred years later, the Negro still is not free. One hundred years later, the life of the Negro is still sadly crippled by the manacles of segregation and the chains of discrimination. One hundred years later, the Negro lives on a lonely island of poverty in the midst of a vast ocean of material prosperity.

Inzwischen reden die Politiker in den USA wie auch in Deutschland für das Fernsehen, in soundbites. Daher verzichten wir auf moderne Beispiele. Halten wir fest, dass Plain English seit 1998 für den Bund dank Bill Clinton vorgeschrieben ist und dass die US-Regierung dazu eine eigene Website betreibt.

Bevor wir von großen Politikern zu normalen Menschen kommen, kurz noch ein Ausflug zu den Göttern. Der stilistische Gegenpol zu Thomas Mann (Nobelpreis für Literatur 1929) ist Ernest Hemingway. Dessen Schreibe – „simple, direct, unpretentious, and aesthetically elegant“ – war ein Grund für seinen Nobelpreis 1954:

For his mastery of the art of narrative, most recently demonstrated in The Old Man and the Sea, and for the influence that he has exerted on contemporary style.

Zwar gab es schon vor Hemingway viele amerikanische Autoren, die einen klaren Stil bevorzugten – die meisten Deutschen dürften zumindest Mark Twain kennen. Aber Hemingway prägte Englisch bis ins Fundament. Der Sender CNN hält fest, dass selbst Fernsehjournalisten ihm bis heute nacheifern. Hemingway ist auch deswegen wichtig, weil er zeigt, wie schwierig ein klarer Stil ist: Er hat seine Texte endlos überarbeitet und sein Spruch über den Wert des ersten Entwurfes ist legendär (und jedem Autor, egal wo, egal in welcher Sprache, ein Trost).

Allerdings gab es neben Hemingway auch William Faulkner, ebenfalls Nobelpreisträger (1949), dessen Stil schon wieder in die andere Richtung geht. Die Götter sind vielleicht Vorbilder, aber als Normen für den Alltag nur bedingt hilfreich.

Schauen wir uns also die Normalsterblichen an und was man ihnen als guten Stil beibringt, wie Essays, Aufsätze, Geschäftsbriefe und alle andere Texte laut Lehrbuch auf Englisch geschrieben werden sollen.

Ein Klassiker ist The Elements of Style von William Strunk Jr. und E. B. White. Seit dem Ersten Weltkrieg aufgelegt, in millionenfacher Auflage gedruckt, ist es wesentlich einflussreicher als vergleichbare deutsche Werke wie die „Stilfibel“ von Ludwig Reiners. Strunk und White schreiben:

Clarity, clarity, clarity. […] Usually what is wrong is that the construction has become too involved at some point; the sentence needs to be broken apart and replaced by two or more shorter sentences.

Wie einflussreich White selbst war, sieht man am Random House Guide to Good Writing von 1991, der folgende Ratschläge zum Stil gibt:

The simple expressiveness common to all stylists is found especially in the writing of E. B. White, who spent fifty-one years writing for The New Yorker […] What distinguishes a stylist like White is not only the beauty of his expression but also his economy.

Und um zu zeigen, wie grundsätzlich diese Ansicht ist, hier noch die wenig subtile Bodybuilding-Metapher aus The Complete Idiot’s Guide to Grammar and Style:

Write simply and directly. […] Hard and lean sentences, like hard and lean bodies, require far more effort than flabby ones. And they are so much nicer.

Flabby – „schwabbelig“ – ist dann auch die Art, wie lange, „anspruchsvolle“ Sätze bei Angelsachsen ankommen: Als hätte man sich nicht bemüht, das Wesentliche herauszuarbeiten, sondern seine Gedanken nur hingerotzt. Nur ein fauler Mensch würde seinen Lesern solche Sprachbrocken zumuten.

Auch die Briten bemühen sich um Plain English und haben dazu viele Ratschläge. Beim britischen Wirtschaftsmagazin The Economist finden wir neben den berühmten Stil-Ratschlägen von George Orwell ein Zitat des amerikanischen Journalisten Arthur Brisbane:

Avoid fancy writing. The most powerful words are the simplest. ‘To be or not to be, that is the question,’ ‘In the beginning was the word,’ ‘We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep,’ ‘Out, out, brief candle,’ ‘The rest is silence.’ Nothing fancy in those quotations. A natural style is the only style.

Was ist bei allen Ratschlägen gleich? Write simply, write clearly – der ideale englische Stil ist schlicht, die Sätze sind klar formuliert, so klar, dass der Stil durchsichtig wird und der Inhalt zu schweben scheint. Make it look simple ist eine andere Variante dieser Forderung. Wer das alles seltsam findet, kann es als eine dieser angelsächsischen Formen des Understatement sehen.

Und wem das alles zu abstrakt ist: Hier ein konkretes Beispiel für die unterschiedliche Wertung. Bei der Wiedergabe der direkten Rede, sei es in Zeitungen oder Romanen, finden man auf Englisch said, immer und immer wieder – hier zum Beispiel. Deutsche Autoren streuen dagegen „betonte“, „erklärte“, „teilte mit“, „meint“ und ähnliche Variationen ein. Die amerikanische Bestsellerautorin Elizabeth George schreibt dazu:

[S]aid is a little miracle word that no one should abandon. What happens when a writer uses said in a tag line is that the reader’s eye skips right over it. The brain takes the name of the speaker, while the accompanying verb — providing it’s the verb said — simply gets discarded.

Said ist für sie ein „unsichtbares“ Verb, wie vielleicht noch asked und answered. Alles andere zieht nur unnötige Aufmerksamkeit auf sich – der Stil beginnt sich dem Leser aufzudrängen, er wird künstlich, affektiert, umständlich. Ein ständiges „sagte“ geht im Deutschen dagegen nicht, denn hier ist es wichtiger, Wiederholungen zu vermeiden. Auf Englisch ist das weniger zwingend, wie man oben bei White sieht, der zwei Mal sentence in kurzer Folge verwendet. Für einen Deutschen sind zwei Mal „Satz“ in einem Satz grundsätzlich ein „Satz“ zu viel.

Was können wir aus dem Ganzen mitnehmen? Es bestätigt zunächst eine frühere Feststellung in diesem Blog: Übersetzen ist die Hölle. Man verbringt viel Zeit damit, Deutschen zu erklären, warum aus einem ihrer sorgfältig konstruierten Sätze plötzlich drei englische geworden sind, oder muss Amerikanern klar machen, dass ihre geschliffenen Sprachjuwelen eine germanische Fassung benötigen. Dieser Autor wird dabei das Gefühl nicht los, dass mehr Bildung nur uneinsichtiger macht. Im untersten Höllenkreis stapeln sich die Texte von Professoren.

Wer als Deutscher auf Englisch schreibt, muss sich an das Gefühl gewöhnen, dass ihm alles viel zu schlicht erscheint. Er sollte seine Sätze aufbrechen und die Zahl der Nebensatz-Ebenen reduzieren. Semikolons werden zu Punkten, Adverbien werden ganz gestrichen. Konstruktionen wie „architektonisch raffiniert gebaut“ will man im modernen Englischen nicht sehen.

Wer wirklich viel auf Englisch schreibt, muss sich leider früher oder später die Mühe machen, tatsächlich eines der oben genannten Stilbücher zu lesen und sich Vorbilder suchen. Dieser Autor würde zum Beispiel töten, um auf Englisch Sachtexte so schreiben zu können wie die Autoren im Smithsonian Magazine.

Und zuletzt: Keine Angst vor dem angeblichen Problem des „Bad Simple English“ (BSE), einen Begriff, den es bezeichnenderweise im Englischen selbst überhaupt nicht gibt. Dahinter steht offenbar die Befürchtung, dass man sich mit einfachem Englisch lächerlich macht, oft gepaart mit der Forderung, doch lieber ganz bei Deutsch zu bleiben. Schlechtes Englisch ist natürlich genauso unschön wie schlechtes Deutsch, aber die Furcht vor mangelnder Komplexität kennen nur die Germanen.

In diesem Jahrhundert zumindest.

(„Deutsch for sale“, Martin Schreiber, „Spiegel“ Heft 40, 2. Oktober 2006; Zitat von Elizabeth George aus „Write Away“, Hodder & Stoughton 2004; „The Random House Guide to Good Writing“ Michell Ivers, Ballantine Books 1991; „The Complete Idiot’s Guide to Grammar and Style“, Laurie E. Rozakis, Alpha Books 1997; „The Elements of Style“, William Strunk Jr and E.B. White, Third Edition, MacMillan Publishing 1979)

(Geändert 12. Oktober 2006: Link zu britischen Handbüchern zu Plain English repariert)