Archive for Juli, 2013

Demon Core – Die verfluchte vierte Atombombe

Juli 29, 2013

Der Zeichner Randall Munroe hat in seinem Blog xkcd wieder eine wunderbare Idee gehabt: Unter dem Titel „Scary Names“ hat er aufgetragen, wie gruselig die Namen von Dingen sind im Vergleich zu wie gruselig die Dinge selbst sind. Die meisten Einträge dürfte der interessierte Leser kennen, wie mustard gas oder nuclear football, der Koffer des US-Präsidenten, in dem die Atomcodes aufbewahrt sind.

Der demon core dürfte dagegen etwas weniger bekannt sein. Dabei handelt es sich um den 6,2 Kilogramm schweren Plutonium-„Kern“ einer Atombombe, die den Namen nach zwei tödlichen Unfällen [PDF] erhielt.

Erster Unfall: Am 21. August 1945 — sechs Tage nach der Kapitulation Japans — stapelte der Wissenschafter Harry K. Daghlian in Los Alamos Blöcke aus dem Neutronenreflektor Wolframkarbid um den Kern. Dabei ließ er aus Versehen einen Block auf den Versuchsaufbau fallen. Der Kern wurde kurz „superkritisch“ und Daghlian bekam genug Strahlung ab, dass er 25 Tage später starb. Er war 24 Jahre alt. Ein Wachmann erhielt eine schwächere Dosis und starb 33 Jahre später an Leukämie.

Beim zweiten Unfall am 21. Mai 1946 war Leichtsinn im Spiel. Der kanadische Physiker Louis Slotin zeigte sieben Mitarbeitern, wie man mit einer Beryllium-Schale um den Kern eine Kettenreaktion einleiten würde. Um die beiden Hälften noch auseinander zu halten, benutzte er einen Schraubenzieher. Später schrieb einer seiner Kollegen:

I’m quite sure that several of us knew that he was using the Pu hemispheres for demonstrations of simple critical assemblies, but were not aware of his unsafe method until it was too late. After all, he was the expert in this work.

Der Schraubenzieher rutschte aus, die Hälften der Schale umschlossen das Plutonium. Slotin schlug sie sofort wieder auseinander und rettete damit vermutlich den anderen Männern im Raum das Leben. Er selbst starb neun Tage später an den Folgen der Strahlung. Anschließend wurde in Los Alamos die Verwendung von Maschinen zur Bearbeitung von derartigen Materialien zur Pflicht.

Der Kern selbst wurde in die Atombombe „Gilda“ eingebaut und als Teil von Operation Crossroads im „Test Able“ am 1. Juli 1946 im Bikini-Atoll detoniert [YouTube]. Es war die vierte Atombomben-Explosion der Geschichte nach „The Gadget“ und den beiden Bomben im Zweiten Weltkrieg.

Damals, als die Amerikaner gar niemanden abhörten

Juli 22, 2013

Man kann sich das im Moment kaum vorstellen, aber vor etwa 75 Jahren haben die USA auf Abhöraktionen verzichtet, weil ihnen das Ganze, nun, unhöflich erschien.

Unsere Geschichte fängt mit der Washington Naval Conference von November 1921 bis Februar 1922 an. Auf diesem Abrüstungsgipfel wurde unter anderem über die relativen Stärken der Schlachtschiffe in den Flotten von Großbritannien, den USA und Japan verhandelt. Die Regierung in Tokio verlangte dabei öffentlich ein Verhältnis von zehn für die beiden angelsächsischen Staaten zu sieben für sich (kurz 10:10:7 oder noch kürzer 10:7).

Jetzt tritt der amerikanische Kryptologe Herbert Yardley [PDF] auf die Bühne, wenn auch, äh, hinter den Kulissen. Zusammen mit seinen gerade einmal 13 Kollegen bildete er den Nachrichtendienst Military Intelligence Branch, Section 8 (MI8) — heute besser als America’s Black Chamber bekannt. Sie bekamen ein Telegramm aus Tokio vom 28. November 1921 in die Finger, das aus Tokio an den japanischen Verhandlungsführer adressiert war. Yardleys Team entschlüsselte bis zum 2. Dezember die Botschaft, deren Kern er so zusammenfasste:

It shows that if America presses Japan vigorously, Japan will give up proposal 1, then proposal 2, and that provided the status quo of the Pacific defenses is maintained, she will even accept a ten-to-six naval ratio.

Die US-Delegation unter Leitung von Außenminister Charles Evans Hughes kannte jetzt die Minimalforderung der Japaner — 10:6 — und konnte darauf hinarbeiten. Eine Woche später stimmte das Kaiserreich genau diesem Verhältnis zu. Ein diplomatischer Sieg für die USA und ein Riesenerfolg für den kleinen Nachrichtendienst.

In einer Welt ohne Computer war Yardley nach der Konferenz völlig erschöpft von der Entschlüsselungsarbeit und musste sich in Arizona ausruhen. Er bekam von Hughes einen (allgemein gehaltenen) Lobesbrief und vom Militär einen Orden. Zudem erhielten er und seine Mitarbeiter 1921 einen Weihnachtsbonus, unerhört zu dieser Zeit im amerikanischen Staatsdienst. Yardley bekam 184 Dollar.

Etwa acht Jahre später strich das Außenministerium die Gelder für MI8. Der Dienst wurde geschlossen.

Was war geschehen? Im Jahr 1929 wurde Henry L. Stimson Außenminister unter Präsident Herbert Hoover. Die Schließung von MI8 sollte zwar auch Geld sparen. Aber Stimson fand die ganze Sache in Friedenszeiten vor allem ethisch fragwürdig. Ihm wird folgender Spruch (in verschiedenen Varianten) zugeschrieben:

Gentlemen do not read each other’s mail.

Damit verfügten die USA ab dem 1. November 1929 über keine Möglichkeit mehr, ausländischen diplomatischen Verkehr abzufangen und zu entschlüsseln. Zwar schuf das Heer in seinem Signal Corps eigene Codes, brach fremde jedoch nicht. Erst 1932 – neun Jahre vor dem Angriff auf Pearl Harbor – nahm das amerikanische Militär diese Arbeit wieder auf.

Die Geschichte hat ein Nachspiel. Der plötzlich arbeitslose Yardley schrieb 1931 ein Buch über seine Arbeit bei MI8 mit dem Titel The American Black Chamber. Es wurde zum Bestseller, auch in Japan, wo man vor Wut schäumte und die Verschlüsselungsverfahren änderte. Im Jahr 1935 entstand auf der Grundlage der Agentenfilm Rendezvous. Die bösen Spione waren natürlich Deutsche.

Wie reagierte die amerikanische Regierung auf das Buch? Nun [PDF]:

The State Department, in the best tradition of „Mission: Impossible,“ promptly disavowed any knowledge of Yardley’s activities. Secretary Stimson (…) was now said never to have heard of it, and State Department spokesmen indignantly denied that Yardley had broken Japanese codes during the Washington arms conference of 1921-22. The War Department declined public comment except to say, curiously, that Yardley’s bureau had not operated in the last four years.

Es mag den ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden interessieren, dass gegen Yardley keine Anklage erhoben wurde: Damals gab es noch keine juristische Grundlage, um ihm den Prozess zu machen. Er blieb allerdings ein ausgestoßener und arbeitete später für China – und Kanada.

[Zur Erinnerung und für neue Leser: Wir haben bereits die Bedeutung der US-Nachrichtendienste im Krieg gegen Japan besprochen. Dort auch die Diskussion über die Abhöraktionen gegen neutrale und verbündete Staaten während des Krieges, die dazu führten, dass die Archive erst 1995 vollständig geöffnet wurden, was wiederum Folgen für die Diskussion über den Einsatz der Atombomben hat.]

META Blogpause bis 22. Juli wegen Chaos

Juli 14, 2013

Wegen des Chaoses im Hause Stevenson ruht dieses Blog bis Montag, dem 22. Juli 2013. Wir haben schlicht den Aufwand unterschätzt.

(Und nein, die Pause liegt nicht daran, dass Civilization V durch Brave New World endlich die nötige Spieltiefe erhalten haben soll — leider.)

Warum Snowden weiter Bürger der USA ist

Juli 3, 2013

Eigentlich bereitet dieser Autor schon einen Text über die Enthüllung des Abhörprogramms Prism vor. Aus aktuellem Anlass allerdings ein Einschub: Offenbar sind einige Leute der Meinung, dass die US-Regierung dem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden die Staatsbürgerschaft entzogen hat. Hintergrund ist dieser Satz aus einem Schreiben, das von WikiLeaks veröffentlicht wurde:

Although I am convicted of nothing, it has unilaterally revoked my passport, leaving me a stateless person.

Das wäre doof, wenn man ohne Reisepass kein US-Bürger wäre, denn nur etwas mehr als ein Drittel der Amerikaner haben so etwas — und das ist ein größerer Anteil als jemals zuvor.

(Zur Erinnerung: In den USA gibt es wie in Großbritannien, Kanada, usw. keine Personalausweise.)

Tatsächlich kann die US-Regierung nicht einfach herkommen und einem Amerikaner nach Lust und Laune die Staatsbürgerschaft aberkennen. Das wäre ja noch schöner. Insbesondere „naturalisierten“ US-Bürgern kann diese zwar entzogen werden, aber dafür bedarf es etwas mehr als eine Anordnung von Präsident Barack Obama.

Ein Sprecher des US-Außenministeriums erklärte zu dem Vorgang (umformatiert):

As you know, Mr. Snowden has been lawfully charged in U.S. courts. (…) [A]s a routine matter — and I know we’ve talked about this but it’s very relevant here — persons with felony arrest warrants are subject to having their passport revoked. He remains a U.S. citizen.

Dass der Reisepass für ungültig erklärt wurde, ist nicht wirklich sensationell: Wer als Amerikaner vor einem US-Gericht angeklagt wurde, soll nicht in der Welt herumreisen, sondern nach Hause kommen und sich dem Verfahren stellen. Ob im Fall Snowden die Anklage gerechtfertigt ist, bleibt ein Thema für die Meinungsblogs.

Kritiker des ganzen Systems der Reisepässe — auch die gibt es — halten derartige Dokumente übrigens für einen Rückfall in die Feudalzeit und raten dazu, sich sicherheitshalber eine zweite Staatsbürgerschaft zuzulegen.

[Nach einem Hinweis von DM, vielen Dank]