Das wirkliche nationale Trauma der USA

Februar 7, 2007

In the first part of Lincoln’s Dreams, Jeff is offered a job researching the long-term effects of the Vietnam War. He turns it down. „I’m busy studying the long-term effects of the Civil War.“ And I guess that’s what I was doing, too, writing this book.

Because the Civil War isn’t over. Its images, dreamlike, stay with us — young boys lying face-down in cornfields and orchards, and Robert E. Lee on Traveller. And Lincoln, dead in the White House, and the sound of crying.

– Connie Willis‘ Vorwort zu Lincoln’s Dreams [1]

Deutsche Journalisten schreiben ständig, der Vietnam-Krieg sei „das nationale Trauma“ der USA. Das ist inzwischen ein feststehender Ausdruck, also das, was man ein Klischee nennt. Es ist leider auch falsch.

Natürlich war der Vietnam-Krieg ein Trauma. Zusammen mit den anderen dramatischen Entwicklungen dieser Zeit – die Bürgerrechtsbewegung, die Kuba-Krise, die Ermordung Kennedys, die Mondlandung, die Drogenkultur, der Watergate-Skandal, die sexuelle Revolution – prägte er eine ganze Generation. Aber er war nicht das nationale Trauma in dem Sinn, dass er das Land politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich bis ins Fundament veränderte, wie es – um das nahe liegende Beispiel zu nennen – der Zweite Weltkrieg mit Deutschland tat.

Denn wenn es um ein nationales Trauma geht, eins, das kaum eine Institution unberührt ließ, das immer noch verarbeitet wird und dessen Narben bis heute jucken, dann kommt nur der Bürgerkrieg in Frage.

Die meisten Deutschen wissen vom Civil War (1861-1865) nur, dass am Ende die Sklaven frei waren, dass Scarlett und Rhett Probleme mit dem Wind hatten und dass irgendwie Patrick Swayze beteiligt war. Der Krieg kommt im Geschichtsunterricht nicht vor – verständlich, denn zu dieser Zeit wird ein gewisser Bismarck gerade preußischer Ministerpräsident. Das Wissen über den War Between the States, wie er auch heißt, bleibt daher der Populärkultur überlassen, mit entsprechenden Lücken und Verzerrungen.

So ist den wenigsten klar: Der Bürgerkrieg war mit Abstand der verlustreichste Krieg in der Geschichte der USA. Über 550.000 Soldaten starben. Die Zahl der reinen Gefechtstoten lag dabei mit knapp 200.000 nahe an der des Zweiten Weltkriegs, bei einer Gesamtbevölkerung, die mit 31 Millionen ein Fünftel betrug. Allein in den zwölf Stunden der Schlacht von Antietam wurden 23.000 Amerikaner getötet [JPG] oder verletzt, mehr als Amerikaner, Briten, Kanadier und Deutsche zusammengenommen bei der Landung in der Normandie 1944.

Ein Grund war die neue Form der Kriegsführung. Die technischen Neuerungen, die sich im Krim-Krieg angedeutet hatten, wurden erstmals im großen Stil eingesetzt. Der Civil War wurde damit zum ersten „modernen“, industrialisierten Krieg [2]. Es gab primitive Maschinengewehre, Land- und Seeminen (damals „Torpedos“ genannt), gepanzerte Schiffe, U-Boot-Angriffe und Experimente mit Flammenwerfern. Truppen wurden per Eisenbahn transportiert, Befehle über Telegraphen erteilt.

Während des Krieges wurde die Umstellung von der Muskete zum präziseren Gewehr mit gezogenem Lauf abgeschlossen. Die Amerikaner fügten das Magazin hinzu – aus der Entwicklung ging ein Jahr nach dem Krieg die berühmte Winchester hervor. Fatalerweise hinkte lange die Taktik hinterher. Am Anfang stand man sich noch in napoleonischen Schlachtreihen gegenüber, am Ende eines blutigen Lernprozesses waren dann Staaten wie Virginia mit Schützengräben [JPG] durchzogen.

Auch auf der strategischen Ebene gab es Änderungen. Der Süden verlor unter anderem, weil er lange keine umfassende Kriegsstrategie hatte und ihm die industrielle Basis fehlte: Tausende confederates marschierten und kämpften barfuß.

Der Norden passte seine Strategie an, um diese materielle Überlegenheit auszunutzen. General William T. Sherman, den wir vom Sherman Pledge kennen, schrieb dazu an den Oberkommandeur Ulysses S. Grant:

Until we can repopulate Georgia, it is useless to occupy it, but the utter destruction of its roads, houses and people will cripple their military resources…I can make the march and make Georgia howl.

Es folgte Shermans berühmter (oder berüchtigter) March to the Sea, mit dem er zum Wegbereiter des total war wurde, das die Wirtschaft des Feindes als Ziel einschloss. Nach der Eroberung von Atlanta ließ Sherman die Stadt niederbrennen zog im November 1864 mit dem Befehl in Richtung Südosten los, jeden Widerstand mit der Zerstörung von allem zu brechen, das dem Feind nützlich sein konnte.

Und so wurde in einer 150 Kilometer breiten Schneise alles niedergebrannt, geplündert oder abgerissen, mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung. Wo Shermans Truppen hinkamen, befreiten sie gemäß der Emancipation Proclamation die Sklaven, aus der Sicht des Südens auch ein Angriff auf die Wirtschaft. Gleise wurden hochgerissen, erhitzt, verdreht und als „Sherman’s Neckties“ um Bäume gewickelt. Das Transportnetz brach zusammen.

(Das Lied „The Night They Drove Old Dixie Down“, berühmt geworden durch Joan Baez, geht auf Stoneman’s Raid zurück, bei dem auch Gleise zerstört wurden.)

Zu Weihnachten übergab Sherman Präsident Lincoln Savannah [JPG] als Geschenk. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Marsch tief durch Feindesland und ohne jeden Kontakt zur Armeeführung ein militärischer Geniestreich war und den gewünschten Erfolg hatte. Das Ausmaß der Zerstörung löste aber endlose Verbitterung im Süden aus. Ob sie wirklich notwendig war, ist bis heute umstritten.

Daneben gab es unbestrittene Gräueltaten. In dem Militärgefängnis Andersonville in Georgia starben etwa 13.000 der inhaftierten Unionssoldaten an den unmenschlichen Bedingungen. Der Kommandant Henry Wirz wurde nach dem Krieg wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt. Noch auf dem Schafott [JPG] erklärte er, er habe nur Befehle befolgt. Das beeindruckte aber schon im 19. Jahrhundert niemanden.

Die Zahl der Toten, die Verwüstung ganzer Landstriche und die verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung erklären die gereizte Art, mit der Amerikaner auf die Behauptung reagieren, die USA hätten nie einen Krieg auf eigenem Boden erlebt und wüssten gar nicht, „was Krieg wirklich bedeutet“. Tatsächlich lagen Städte wie Atlanta, Charleston und Richmond [JPG] in Trümmern, als „Deutschland“ noch ein loser Bund von mehr als 30 Einzelstaaten war.

Das Gemetzel und die Zerstörung des Civil War prägte darüber hinaus die grundsätzliche Einstellung der Amerikaner zum Krieg. Für die naive Begeisterung und romatische Verblendung, mit der die Europäer noch in den Ersten Weltkrieg zogen, war spätestens nach Pickett’s Charge in den USA kein Platz mehr. „War is hell“ schärfte gerade Sherman immer wieder junge Soldaten ein und verfluchte jede Glorifizierung des Kriegs.

Zwar gab es seit dem Bürgerkrieg genug Fälle, in denen die USA im Glauben an eine gerechte Sache in den Kampf zogen. Amerikaner haben bis heute bekanntlich auch kein Problem damit, Soldaten als Helden zu ehren. Aber die Vorstellung, dass der Krieg selbst nobel, erhaben oder glorreich sein könnte, ging im Bürgerkrieg verloren, auch wenn sich das in den Reden gewisser Politiker gelegentlich etwas anders anhört.

Wir haben mit den Toten und der Vernichtung angefangen, weil die Zahlen leichter zu vermitteln sind als andere Aspekte wie die Entschlossenheit, mit dem beide Seiten antraten. Mag für Lincoln die Freiheit der Sklaven hinter der Einheit des Landes gestanden haben, für die Abolitionists und ihre Widersacher in den Südstaaten was es das alles bestimmende Thema. Es ging schließlich um nichts weniger als die Frage, wann ein Mensch wirklich ein Mensch ist.

In einer Zeit ohne Fernsehen oder Hörfunk bestimmten dabei Pamphlete und die Kommentare von Zeitungen viel vom Bild des Gegners. Zum Teil war es Propaganda, wie man heute sagen würde, aber oft genug nur realistische Schilderungen der alltäglichen Brutalität der Sklaverei. Am bekanntesten ist der Roman Uncle Tom’s Cabin. Als Lincoln 1862 die Autorin Harriet Beecher Stowe traf, soll er gesagt haben: „So this is the little lady who caused the great war.“

Besonders in den Grenzstaaten spaltete der Streit um die Sklaverei die Bevölkerung, ja selbst Familien. Im Krieg kämpfte dann Bruder gegen Bruder, wie es bei Alexander und James Campbell in der Schlacht von Secessionville der Fall war. James schrieb Alexander anschließend (Schreibweise modernisiert):

I hope you and I will never again meet face to face bitter enemies on the battlefield. But if such should be the case, you have but to discharge your duty for your cause for I can assure you I will strive to discharge my duty to my country and my cause.

Beide überlebten und verstanden sich nach dem Krieg gut. Die Entfremdung zwischen Nord- und Südstaaten klingt allerdings bis heute nach. Die musikalischen Ausläufer sind vielen Deutschen bekannt, etwa der Streit zwischen dem (gebürtigen Kanadier) Neil Young und Lynyrd Skynyrd mit „Southern Man“ und „Sweet Home Alabama“.

Der Krieg selbst war leider nur die halbe Tragödie. Der Wiederaufbau – die Reconstruction – und die Wiedereingliederung der Südstaaten missglückte gründlich (und ist eigentlich ein eigenes Thema). Tausende carpetbaggers – die Bürgerkriegs-Version des „Besser-Wessis“ – zogen in den Süden. Darunter waren Idealisten, die den Schwarzen helfen wollten, aber auch Opportunisten, die die Besatzungszeit brutal ausnutzen. Wirtschaftlich erholte sich der Süden bis weit ins 20. Jahrhundert nicht. Viel von dem, was nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland richtig gemacht wurde, entsprang den bitteren Erfahrungen der postbellum period.

Dabei war das Ende des Krieges ein so guter Anfang gewesen. General Robert E. Lee wies alle Forderungen seiner Untergebenen nach einem Guerilla-Krieg des Südens zurück. Er und Grant suchten bei der Kapitulation nahe Appomattox die Versöhnung.

Das Treffen ist legendär. Lee erschien in seiner Parade-Uniform, während Grant noch seine verdreckte Kampfkleidung trug. Man redet über dieses und jenes, von einem Treffen vor dem Krieg, bis Grant – der sich sehr unhöflich dabei vorkam – dann doch irgendwann die Kapitulation ansprach. Für die hungernden Grauröcke organisierte er Lebensmittel und schickte sie dann einfach nach Hause, mit ihren Pferden, für die Ernte. Nicht umsonst wird von The Gentlemen’s Agreement gesprochen.

Auch Lincoln war auf Versöhnung aus und stellte sich gegen den Kongress, der äußerste Härte forderte. Vielleicht hätte er die Abgeordneten umstimmen oder wenigstens in Schach halten können, aber dann wurde er ermordet. Der beste Präsident in der Geschichte der USA wurde von einem der schlechtesten abgelöst, Andrew Johnson (nicht zu verwechseln mit Andrew Jackson). Im Kongress setzen sich die Betonköpfe durch.

So wurde die Sklaverei zwar formell mit dem 13. Verfassungszusatz beendet, aber die Südstaaten nutzten jeden nur denkbaren Trick, um das mit den Jim Crow Laws zu umgehen. Es dauerte ein Jahrhundert, bis die Bürgerrechtsbewegung wenigstens die gröbsten Ungleichheiten beseitigen konnte und damit endlich die höheren Ziele des Bürgerkriegs erreichte. Martin Luther Kings „I Have a Dream“-Rede beginnt nicht umsonst mit einer Anspielung auf Lincolns Gettysburg Address.

Es gibt noch viele andere Elemente des Bürgerkriegs, die besprochen werden müssten, noch mehr Gründe, warum das sound of crying und das Bild von Lee auf seinem Pferd für die Amerikaner noch so gegenwärtig ist. Abraham Lincoln ist wohl der wichtigste davon, ein großer Mann mit einem tragischen Leben, das mit einer großen Tragödie endete. Etwas handfester ist der 14. Verfassungszusatz, der die grundsätzliche Struktur der USA änderte. Wir werden diese und andere Punkte später aufgreifen, wobei Lincoln eher ein Thema für ein lebenslanges Studium ist.

Wir haben mit einem Zitat angefangen und enden daher auch mit einem Zitat des Bürgerkriegs-Historikers Shelby Foote:

Any understanding of this nation has to be based and I mean really based, on an understanding of the Civil War. I believe that firmly. It defined us. The Revolution did what it did. Our involvement with the European wars, beginning with the First World War, did what it did. But the Civil War defined us, what we are, and it opened to us what we became, good and bad things. And it is very necessary, if you are going to understand the American character in the twentieth century, to learn about this enormous catastrophe of the nineteenth century. It was the crossroads of our being, and it was a hell of a crossroads.

([1] Lincoln’s Dreams Connie Willis, Bantam Books New York 1987, ISBN 0-533-27025-7, [2] The Penguin History of the USA, Hugh Brogan, Penguin Books 1999, ISBN 0-14-025255-X)

(Danke an DKS für Hinweise auf Zitate)

[Umformatiert 10. April 2007]