Die seltsame Angst der Germanen vor sich bewegender Luft

September 17, 2007

Es war an diesem Wochenende wieder kurz warm in Berlin. Das ist gut, denn Kind Nummer Eins konnte sich draußen müde toben. Noch besser war aber, dass dieser Autor mit dem Auto unterwegs sein konnte, denn in der S-Bahn treibt ihn eine Sache bei warmem Wetter zum Wahnsinn: Die seltsame Angst der Germanen vor sich bewegender Luft.

Jedes Jahr die gleich Situation: Man sitzt in der S-Bahn. Draußen sind es mehr als 30 Grad, keine Wolke am Himmel, die Sonne strömt durch die Fenster und heizt alles mit einem politisch völlig unstrittigen Treibhauseffekt auf, bis niedrige Backofen-Temperaturen erreicht sind. Und alle Fenster sind zu.

Denn was passiert, wenn jemand eins öffnen will? Sofort erschallt der Chor:

Fenster zu! Es zieht! Es zieht! Oh weh! Es zieht!

Weiter geht es dann in der fahrenden Sauna. Ein Deo nach dem nächsten versagt, Schminke läuft die Wangen herunter und alle werden von Minute zu Minute gereizter. Und etwaig anwesende Amerikaner greifen verzweifelt nach ihrem Touristen-Führer um zu sehen, ob sie das mit der Berliner Luft falsch verstanden haben. Wirkt Tschernobyl vielleicht noch nach?

Denn der US-Bürger kennt diese Angst vor Luftzügen nicht. Es gibt zwar das Wort draft, aber es wird benutzt, um in Romanen Hinweise auf Geheimausgänge zu beschreiben. Amerikaner werden nicht bleich, wenn sie es hören. Die germanische draftophobia ist ihnen deswegen rätselhaft:

None of us could understand any German and we had no idea what was going on until someone took the time to explain it to us. The explanation was that if we open the windows, the air would blow through the train. We explained that we realized this and it was for precisely that reason that we opened the windows in the first place.

Das stieß auf so wenig Verständnis wie in der Berliner S-Bahn, denn: What elsewhere is known as a breeze is, in the Teutonic realm, the grim reaper’s mocking breath.

Nun sind auch Amerikaner der Meinung, dass es nicht klug ist, mit nasser Kleidung im Wind herumzustehen. Deswegen haben sie Gore-Tex erfunden. Aber das gilt nicht für den Alltag und trockener Kleidung. Wer die USA besucht, muss sich darauf einstellen, dass an heißen Tagen die Fenster und Türen aufgerissen werden, auch wenn, nein, insbesondere wenn das bedeutet, dass eine steife Brise durch die Wohnung oder das Büro zieht.

(Die Schönste Germanin möchte anmerken, dass es Ausnahmen gibt, wie in Phoenix, Arizona, wo es im Sommer gerne mehr als 40 Grad heiß wird. Dort rufen Amerikaner wie Deutsche nicht „Tür zu! Es zieht!“ sondern „Tür zu! Es wird warm!“ Alles, was ein Dach und eine Tür hat, hat in Phoenix auch eine Klima-Anlage.)

Die amerikanische Bloggerin Ada beschreibt einen weiteren Aspekt der germanischen Zugangst:

The weird thing about this whole draft business is that while Germans are terrified of drafts, they are also big fans of „fresh air.“ They sleep with their windows open in the middle of winter.

Auch das kommt diesem Autor bekannt vor, denn diese Diskussion führt er jeden Winter mit der Schönsten Germanin. Die hat zwar kein Problem mit Luft, die sich bewegt, aber leider auch keins damit, dass sich Eiszapfen an der Türklinke bilden. Binationale Ehen erfordern in mehr als einer Beziehung ein dickes Fell.

(Nach einem Hinweis von K, vielen Dank)