Archive for August, 2006

Was haben die mit East Virginia gemacht?

August 31, 2006

Erdkunde in den USA macht keinen Spaß: Entweder sind die Namen unmöglich zu buchstabieren („Massachusetts“, „Mississippi“), werden völlig anders ausgesprochen, als man erwartet („Arkansas“, „Chicago“), oder sind so banal, dass man Kopfschmerzen bekommt („Rio Grande“). Und dann sind da noch die Details, die zur Falle werden können. Es gibt zum Beispiel North und South Dakota sowie North und South Carolina, aber nur West Virginia und Virginia – ein East Virginia sucht man vergeblich.

Das hindert die Einheimischen natürlich nicht daran, damit Touristen in den April zu schicken. Da wir das nicht wollen, hier die kurze Erklärung:

Carolina wurde noch während der Kolonialzeit in zwei Hälften getrennt, und North und South Dakota entstanden kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts zur gleichen Zeit aus demselben Territorium. Keiner dieser Bundesstaaten ist also wirklich älter als sein Zwilling. Die Abspaltung von West Virginia geschah dagegen im Streit während des Bürgerkrieges – West Virginia ging an den Norden, Virginia blieb beim Süden – und so dachte man in „Rest“-Virginia überhaupt nicht daran, seinen Namen zu ändern. Verrecken sollten die Spalter!

Es hätte schlimmer kommen können. Die ursprüngliche Kolonie Virginia war groß und aus ihr sind mehrere Bundesstaaten hervorgegangen, darunter auch das heutige Kentucky, das kurz nach der Revolution seinen eigenen Weg ging. Eigentlich hätte das besser „West Virginia“ heißen können. Dann hätten wir mit dem heutigen West Virginia ein Problem gehabt – „Middle Virginia“ and „Almost-West Virginia“ hören sich nicht gut an. „North Virginia“ würde gehen, aber nur auf Kosten der Frage, wo jetzt bitte „South Virginia“ geblieben ist?

Eigentlich dürfte das alles für Deutsche überhaupt kein Problem sein, denn niemand hierzulande stört sich daran, dass es zwar eine „Ostsee“ gibt, die dazugehörige „Westsee“ aber „Nordsee“ heißt – so etwas fällt nur Kindern, Betrunkenen und Ausländern auf. Leider kann man sich damit nicht bei Amerikanern für das „East Virginia“ rächen: Für sie ist die Ostsee the Baltic.

Kurz erklärt: Filibuster oder wenn Senatoren Windeln tragen

August 29, 2006

Im US-Senat gibt es keine Begrenzung der Redezeit und keine Regel, dass man sich an ein bestimmtes Thema halten muss. Eine Methode, unliebsame Abstimmungen über Gesetzentwürfe zu blockieren, besteht deswegen darin, dass ein Senator anfängt zu reden, über irgendwas, und dann einfach nicht mehr aufhört. Dieser Vorgang heißt filibuster, ein Begriff, der auf auf das niederländische Wort für „Freibeuter“ zurückgeht.

Den Rekord für einen Filibuster hält Strom Thurmond aus South Carolina, der 24 Stunden und 18 Minuten gegen das Bürgerrechtsgesetz von 1957 anredete (vergeblich). Solche Taktiken erfordern natürlich außerordentliche Vorbereitungen: Früher wurde der Filibuster auch talking to the diaper genannt, denn bei einer Pinkelpause ist alles vorbei.

In der Praxis bleibt der Filibuster meist bloß eine Drohung, ist also ein taktisches Werkzeug. Seit 1917 kann eine Mehrheit der Senatoren mit einem cloture (nicht: closure, obwohl die Worte verwandt sind) eine Abstimmung erzwingen. Seit 1975 sind drei Fünftel der Stimmen – also gegenwärtig 60 – nötig, um ein Cloture zu erwirken.

Der Filibuster ist keine amerikanische Erfindung. Im ersten Buch von De Bello Civilibeschwert sich Julius Caesar über seinen Erzfeind Cato, der im Senat den ganzen Tag redet. In Großbritannien sagt man, dass eine Frage talked out wird. Eine andere, verwandte Taktik ist der slow walk, bei dem man sich zur Urne schlecht. Scheinbar ist dies besonders in Japan (als ushi aruki, „Kuhgehen“) beliebt.

Was zur Frage führt – was genau ist mit den Bundestagsabgeordneten los, dass sie keine derartigen Verfahren entwickelt haben?

Kulturelle Missverständnisse per Händedruck

August 27, 2006

Dieser Autor kommt oft in Situationen, wo er nicht nur Deutschen etwas über die USA erzählen muss, sondern auch Amerikanern etwas über Deutschland. Eines der ersten Dinge, die er seinen Landsleuten nach der Ankunft erklärt – ziemlich direkt nach I’m afraid there are speed limits on some of them und Never touch a German’s car without permission – ist die Sache mit dem Händeschütteln.

Deutsche lieben es, sich die Hand zu geben. Sie können nicht genug davon kriegen. Sie tun es vor einer Geschäftssitzung und nach einer Geschäftssitzung, sie tun es mit Unbekannten, mit Bekannten, mit Freunden, manchmal sogar mit ihrer eigenen Familie, selbst in ihren eigenen vier Wänden. Amerikaner, die sich nur beim ersten Kennenlernen und bei sehr formellen Anlässen die Hand geben, kommen sich vor wie in einem Trainingscamp für Nachwuchspolitiker. Wer wem wann in Deutschland die Hand zuerst gibt ist für sie am Anfang ein schwieriges Thema.

Nun wäre das alles nur einer dieser lustigen kulturellen Unterschiede wie die Sache mit den Tischmanieren, wenn es nicht ein gewisses Detail bei der Ausführung des Händedrucks gäbe. Denn Deutsche machen beim handshake eine ganz kleine Verbeugung, ein kurzes Nicken, auch wenn es ihnen selbst oft nicht auffällt. Amerikaner bleiben dagegen kerzengrade stehen und halten den Kopf hoch.

Amerikanern fällt das deutsche Nicken auf, etwa so wie ein Deutscher merkt, wenn ein Japaner beim Händeschütteln instinktiv seine halbe Verbeugung macht. Sie finden es eher reizend und spekulieren schon mal, ob es ein Überbleibsel der ständigen Verbeugungen vor dem Lehnsherren ist – das Kaisertum wurde ja irgendwie erst Vorgestern oder so abgeschafft. Für sie gehört das zum Charme der Alten Welt. Nur der Handkuss macht mehr Spaß.

Die Probleme gibt es in der anderen Richtung. Der Deutsche merkt, dass irgendwas fehlt, dass der Amerikaner etwas ausgelassen hat, und empfindet ihn, ohne dass er genau sagen könnte, warum, instinktiv als arrogant, abweisend, im Extremfall hochnäsig – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das, obwohl vielleicht noch kein Wort gewechselt wurde.

In Benimmregeln für Manager steht daher unter „Germany“ auch schon mal etwas wie:

[A] handshake may be accompanied with a slight bow. Reciprocating the nod is a good way to make a good impression, as failure to respond with this nod/bow (especially a superior) may get you off to a bad start.

Was zeigt uns dieses Beispiel? Das selbst die grundlegendsten Dinge in den USA anders ablaufen können als in Europa. Amerikaner sind (inzwischen) mehr als nur „herausgeworfene Europäer“, zumindest was ihr Verhalten angeht. Die Unterschiede im täglichen Umgang sind zwar nicht so groß wie bei, sagen wir mal, den Chinesen. Aber sie sind da und wenn man sie ignoriert, gibt es Probleme. Deswegen werden wir hier auch immer wieder auf die wichtigsten Fallen hinweisen.

Die gute Nachricht: Wer erstmal weiß, dass es diese Unterschiede gibt, kann sich wappnen. Wir müssen sie nur etwa 300 Millionen Amerikanern und 80 Millionen Deutschen erklären. Verglichen mit anderen Herausforderungen – die Sache mit dem Popcorn zum Beispiel – ist das eine reine Fleißarbeit.

META: Behinderungen durch Hardwareprobleme

August 25, 2006

Es ist inzwischen nicht nur so, dass der ThinkPad der Schönsten Germanin in der Reparatur ist, nein, dieser Autor gehört auch zu den glücklichen iBook-Besitzern, die einen neuen Akku gewonnen haben. Lieferzeit allerdings: Mindestens vier Wochen. Im Moment wird der verbliebene Rechner liebevoll geteilt; daher werden sich in den kommenden Tagen allerdings Postings und auch Antworten auf Fragen per Mail etwas verzögern. Sorry.

Nach Pluto: Das Problem mit Uranus

August 25, 2006

Gestern war ein traumatischer Tag für diesen Autor: Die grausamen, herzlosen, schlicht fehlgeleiteten Astronomen dieser Welt haben seinen geliebten Planeten Pluto degradiert. Weder dass dessen ehemaliger Mond Charon dabei zu einem Zwergplaneten befördert wurde – im Englischen spricht man jetzt von einem double-dwarf, was bestimmt eine Klage von irgendeinem Rollenspiel-Hersteller nach sich ziehen wird – noch dass mehr Leute jetzt wissen, wer Xena ist, vermag ihn zu trösten: Pluto ist von uns gegangen, und UB313 wird nie den coolen Namen behalten dürfen, denn Astronomen sind bei der Namensgebung etwas eigen.

Das beste Beispiel dafür dürfte der Planet Uranus sein, jetzt ja plötzlich der Vorletzte des Sonnensystems vor Neptun. Es gibt im Englischen einen Kleinkrieg mit den Astronomen um die Aussprache des Namens, was den meisten Deutschen nicht bekannt sein dürfte.

Normale Angelsachsen sprechen „Uranus“ nämlich „yoor ANUS“ aus, also etwa „jür-ÄH-ness“, oder, um nicht um den kalten, dunklen Gasball herumzuschleichen, genau wie your anus. Sie haben in der Schule einmal darüber albern gekichert, dann sind sie erwachsen geworden und es war nicht mehr witzig. Wer nie erwachsen geworden ist wie Matt Groening (zum Glück), verbringt zwar etwas mehr Zeit mit diesem Wortspiel. Aber das ist die Ausnahme. Selbst dieser Autor, der allgemein leicht zu unterhalten ist, kann darüber nicht mehr lachen. Nicht mehr so richtig, auf jeden Fall.

Die Astronomen sind aber empört oder peinlich berührt oder wohl einfach humorbefreit, und versuchen daher seit Jahren gegen den Willen des Volkes durchzudrücken, dass es eigentlich „YOOR un nus“ ausgesprochen werden soll – „JÜR-ahnuss“ also.

Für Amerikaner schmerzt das fürchterlich im Ohr, denn es klingt so, als würde ein britischer Butler mit Hollywood-Akzent nach einem langjährigen Dienst in der Castro Street über, nun, den Darmausgang sprechen. Die völlig unnatürliche Aussprache ist auch verwirrend, bis man sich erstmal wieder klar gemacht hat, warum sie gewählt wurde. Get over it, möchte man dann schreien.

Fairerweise muss man anerkennen, dass die Astronomen neben den coolen Namen auch die peinlichen stoppen. Der Entdecker von Uranus, William Herschel, hatte ursprünglich vorgeschlagen, den Planeten nach dem britischen König zu benennen – „the Georgian Planet“, oder kurz wohl „George“. Das war dann doch selbst den Briten zu viel und wäre für die Amerikaner absolut unerträglich gewesen.

Kurz erklärt: Grundnahrungsmittel Erdnussbutter

August 23, 2006

Das wohl albernste Vorurteil über die USA ist die Idee, Amerikaner würden den ganzen Tag Hamburger, Hot Dogs und Doughnuts in sich hineinstopfen. Das mit Abstand wichtigste Nahrungsmittel des Alltags ist vielmehr Erdnussbutter.

Deutsche, besonders Westdeutsche, verbinden mit Erdnussbutter meist eine ölige, fast schleimige, übel riechende Paste aus den Niederlanden namens pindakaas („Erdnusskäse“), mit dem die Indonesier die Holländer für deren Sünden als Kolonialherren bestrafen. Amerikanische Erdnussbutter ist dagegen cremig und gleichmäßig püriert, per Vorschrift. Zu den bekanntesten Marken gehören Jif und Skippy. Es gibt traditionell zwei Varianten: creamy (auch smooth genannt) und crunchy, also mit Erdnuss-Stückchen.

Die wichtigste Anwendung von Erdnussbutter ist der peanut butter and jelly sandwich, abgekürzt PBJ, PBJS oder PB&J. Er stellt zudem die einzige diesem Autor bekannte Entschuldigung für die Existenz dieser weißen, leicht gummiartigen Substanz dar, die in den USA als Brot verkauft wird: Erdnussbutter schmeckt nur damit. Auf Grau- oder gar Schwarzbrot kommt sie einfach nicht.

Die Zubereitung eines PBJ ist denkbar einfach: Zwei Scheiben Brot, Erdnussbutter, Marmelade, aber keine Butter – der germanische Reflex, sofort Butter oder Margarine auf jede offenliegende Scheibe Brot zu schmieren, ist Amerikanern fremd. Die Beliebtheit von PBJs soll auf den Zweiten Weltkrieg zurückgehen, als der hohe Proteingehalt bei geringem Preis wichtig war. Seitdem gilt es als fast unmöglich, junge Amerikaner ohne große Mengen von PBJs aufzuziehen. Kinder mit einer Nussallergie haben es in den USA schwer.

Erdnussbutter besetzt also die kulinarische Nische, die in Deutschland Nutella einnimmt. Das ist zwar besser für die Zähne, aber schlechter für das Herz, weswegen es inzwischen Varianten wie low fat und low sodium (Salz) gibt. Kenner ziehen es vor, einfach nicht ewig zu leben.

Eine ganz besondere Anwendung von Erdnussbutter zum Schluss: Die Ehrenwerte Mutter hat eine Vorliebe für Erdnussbutter auf Apfelstücken, die zu Schulzeiten bei den deutschen Freunden dieses Autors schon vom Anblick her reihenweise Ohnmachtsanfälle verursachte. Es ist ein acquired taste, oder wie es in Kochbüchern so schön heißt, eine Spezialität.

Drei Bemerkungen zur Todesstrafe in den USA

August 20, 2006

Die netten Leute von Udo Vetters Law Blog haben letztens über die Strafe diskutiert, die Mel Gibson für seine Trunkenfahrt bekommen hat: Drei Jahre auf Bewährung. Und wie immer wenn Deutsche über US-Recht sprechen, landete die Diskussion am Ende bei der Todesstrafe. Ein netter Mensch verwies allgemein auf dieses Blog, und so fühlt sich dieser Autor verpflichtet, früher als eigentlich vorgesehen etwas über capital punishment zu schreiben. Wir sind hier ja proaktiv serviceorientiert, oder wie das auch immer heißt.

Weil es aber doch etwas über’s Knie gebrochen ist, werden wir zunächst nur drei Punkte behandeln: Wo es die Todesstrafe gibt, warum es sie gibt und die Rassenfrage.

Fangen wir mit den einfachen Dingen an: „Die USA“ haben keine Todesstrafe. Wie wir in einem anderen Zusammenhang gesehen haben, sind die USA eher ein Staatenbund im Sinne der EU als eine Bundesrepublik wie Deutschland. Jeder Bundesstaat hat sein eigenes Rechtssystem und entscheidet damit auch selbstständig, ob er Verbrecher hinrichtet oder nicht. Der Bund hat kein Recht, in diese Entscheidung einzugreifen.

Einige Teile der USA haben daher auch sehr viel länger keine Todesstrafe als Deutschland (Westen letzte Hinrichtung 1949, Osten offenbar 1981), Frankreich (abgeschafft 1981, aus der Verfassung gestrichen 2007) oder Großbritannien (größtenteils abgeschafft 1969, gänzlich 1998). Die erste englischsprachige Regierung der Welt, die die Todesstrafe abschaffte, war die von Michigan. Dort ist noch nie jemand hingerichtet worden, seit der Gründung des Bundesstaates 1837 nicht. Wisconsin untersagte Exekutionen 1853, Maine 1887, Minnesota 1911. Hessen hat dagegen übrigens bis heute die Todesstrafe in der Verfassung, das Grundgesetz verhindert allerdings die Anwendung.

(Aber warum steht dann in Medienberichten, dass die USA die Todesstrafe 1976 „wieder eingeführt“ oder „wieder zugelassen“ hätten? Tatsächlich hatte das Oberste Gericht 1972 in Furman vs Georgia ein Stopp der Hinrichtungen verfügt. Das geschah aber nicht aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern weil es mit der Art unglücklich war, wie uneinheitlich sie angewandt wurde. Richter Potter Stewart schreib dazu:

I simply conclude that the Eighth and Fourteenth Amendments cannot tolerate the infliction of a sentence of death under legal systems that permit this unique penalty to be so wantonly and so freakishly imposed.

(Der Achte Verfassungszusatz verbietet unter anderem „grausame und ungewöhnliche Bestrafungen“. Der 14. Zusatz besagt, dass dies auch für die Verfassungen der Bundesstaaten gilt.)

Die Bundesstaaten änderten daraufhin ihre Gesetze, und in Gregg vs Georgia befand das Gericht dann 1976:

The punishment of death for the crime of murder does not, under all circumstances, violate the Eighth and Fourteenth Amendments.

Auch Stewart schloss sich dieser Meinung an. Es bleibt dabei, dass der Bund sich nicht einmischen darf.)

Wer also fordert, „die USA“ müssten die Todesstrafe abschaffen, zeigt erstmal, dass er die Struktur des Landes nicht verstanden hat. Die professionellen Gegner der Todesstrafe wissen das und gehen differenzierter vor. Alle Petitionen an den US-Präsidenten, bestimmte verurteilten Mörder zu begnadigen, sind damit kontraproduktiv, weil sie nur zeigen, dass die Unterzeichner sich nicht ernsthaft mit dem Fall beschäftigt haben können. Der Gouverneur des Bundesstaates ist der richtige Adressat.

Im Moment haben 38 der 50 Bundesstaaten [PNG] die death penalty (August 2006). Darin sind auch die Staaten enthalten, die sie nicht mehr anwenden. Der Bund kennt auch Vergehen, die mit dem Tode bestraft werden können (viele davon gehen auf Bill Clinton zurück) und auch im Militärrecht gibt es die Todesstrafe, was im Fall Haditha wichtig sein könnte. Der Regierungsbezirk District of Columbia hat sie nicht, Puerto Rico auch nicht. Wir werden diese und andere Sonderfälle für ein anderes Mal aufheben. Wenden wir uns stattdessen dem zweiten Punkt zu: Warum haben diese 38 Bundesstaaten die Todesstrafe?

Auch das ist einfach: Weil die Mehrheit der dortigen Bevölkerung sie haben will und die USA eine Demokratie sind.

Zum Beispiel werden die Bürger von Wisconsin im November per Referendum gefragt, ob sie nach 153 Jahren ohne Hinrichtung die Todesstrafe einführen wollen. In New Mexico ist es Medien zufolge der Druck der Bevölkerung, der eine Abschaffung undenkbar macht – der Gouverneur gilt übrigens als Präsidentschaftskandidat. Insgesamt befürworten 65 Prozent der US-Bürger [PDF] (Juli 2006) die Todesstrafe in der einen oder anderen Form.

Druck aus der Bevölkerung gibt es nicht nur in den USA. Offenbar traut man sich in Hessen nicht, die Todesstrafe aus der Verfassung zu streichen, weil man eine Niederlage in dem dafür notwenigen Referendum fürchtet. Wegen der starken direkten Demokratie in den USA und weil die Politiker direkt gewählt werden, haben die Bürger aber dort vergleichsweise mehr zu sagen. Und in vielen Bundesstaaten sagen sie: Mörder sollen sterben.

Damit ist auch klar, wann die Todesstrafe in den USA abgeschafft werden wird: Wenn die Bürger der jeweiligen Bundesstaaten sie nicht mehr haben wollen. Nicht früher und nicht später.

Viele deutsche Gegner der Todesstrafe tun sich mit dieser Antwort schwer, ganz so, als ob sie dagegen sind, dem Volk wichtige Entscheidungen zu überlassen. Demokratie ja, aber doch bitte nicht bei so etwas! Und auch Amnesty International scheint von der Mitbestimmung des Volkes nicht viel zu halten:

The decision to abolish the death penalty has to be taken by government officals and legislators. The decision can be taken even though the majority of the public favor the death penalty, which indeed has historically almost always been the case.

In anderen Staaten mag man den Volkswillen so ignorieren können, aber wegen der Direktwahl ist das in den USA politischer, nun, Selbstmord. Amerikanische Bürgerrechtsgruppen wie die mächtige American Civil Liberties Union (ACLU) setzen bei ihrer Arbeit daher auch an der Basis an: Gegner der Todesstrafe sollen nicht nur an ihre Abgeordneten schreiben, sondern auch:

Tell a Friend (or ten). Friends have a great impact on other friends. If you educate and motivate one of your friends, that person may become passionate about some of the same issues you are, and this will allow you both to work towards protecting our civil liberties.

Das Ziel ist es, die Meinung des Volkes zu ändern, weil das aus amerikanischer Sicht die korrekte Vorgehensweise in einer Demokratie ist. Auch das kennt man in Deutschland: In Bayern führte 1998 ein Referendum zur Streichung der Todesstrafe aus der Verfassung des Freistaates.

Tatsächlich sinkt in den USA die Zustimmung zur Todesstrafe seit Jahren kontinuierlich. Hintergrund ist insbesondere die Alternative einer lebenslangen Haft ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung (life without parole), die inzwischen in 37 der 38 Bundesstaaten mit Hinrichtungen möglich ist. In der oben zitierten landesweiten Umfrage sank auch die Zustimmung zur Todesstrafe auf 50 Prozent, wenn dies als Alternative angeboten wurde. Für diesen „Kompromiss“ machen sich auch zum Teil die Medien stark.

Damit sind wir bei dem dritten Punkt, der Rasse.

Bei Diskussionen über die Todesstrafe in den USA wird in Deutschland meist irgendwann behauptet, das System sei rassistisch. Das Argument lautet dabei etwa so: Von den Hingerichteten sind 34 Prozent Schwarze, aber Schwarze machen nur zwölf Prozent der US-Bevölkerung aus.

Nach dieser Logik gäbe es aber ein sehr viel gravierenderes Problem: Von 1976 bis heute waren 99 Prozent der Hingerichteten Männer (um genau zu sein wurden sechs Frauen getötet, zuletzt Frances Elaine Newton in Texas). Der Frauenanteil in den Todeszellen beträgt weniger als zwei Prozent, aber mehr als die Hälfte der US-Bürger sind Frauen.

In beiden Fällen ist der Denkfehler gleich: Die Annahme, dass alle Bevölkerungsgruppen gleich viele Verbrechen verüben. Es ist aber so, dass Männer mehr Gewaltverbrechen begehen als Frauen und – auch wenn es in Deutschland als politisch inkorrekt gilt, es anzusprechen – Schwarze in den USA nun mal mehr als Weiße. Von 1976 bis 2004 wurden etwa 59 Prozent aller Morde (felony murders) in den USA von Schwarzen begangen.

Im Gegenteil ist es statistisch gesehen also wahrscheinlicher, dass ein verurteilter weißer Mörder in den USA hingerichtet wird als ein schwarzer. Damit wäre das System natürlich immer noch rassistisch, aber dieser Autor hat die Erfahrung gemacht, dass Deutsche sich bei dieser Variante unwohl zu fühlen scheinen, warum auch immer.

(Übrigens werden Mörderinnen tatsächlich wesentlich seltener hingerichtet als ihre männlichen Kollegen, aber das lassen wir jetzt.)

Damit nicht der falsche Eindruck entsteht: Auch 43 Prozent der Mordopfer in den USA sind Schwarze. Dabei werden 94 Prozent aller ermordeten Schwarzen von anderen Schwarzen getötet, Weiße in 86 Prozent der Fälle von anderen Weißen – gemordet wird innerhalb der eigenen Rasse, egal, was man im Fernsehen sieht.

Die eigentliche Frage bei unserem dritten Punkt lautet also, warum schwarze Amerikaner so viel häufiger Gewaltverbrechen begehen und deren Opfer sind. Dies ist eines der wichtigsten Probleme, vor denen die USA im Moment stehen, und damit nicht mehr Gegenstand dieses Eintrags.

In den USA selbst ist man auch von der Betrachtung des Täters bei der Frage von Rassismus bei Hinrichtungen eher abkommen. Denn viel stärker wird die Kritik an dem System, wenn man von der Rasse des Opfers ausgeht: Studien weisen darauf hin, dass die Mörder von Weißen überproportional häufig hingerichtet [PDF] werden, egal welcher Rasse sie selbst angehören:

In 1990, the US General Accounting Office reviewed 28 such studies that had been conducted around the country. It concluded that „in 82% of the studies, race of victim was found to influence the likelihood of being charged with capital murder or receiving a death sentence, i.e., those who murdered whites were found to be more likely to be sentenced to death than those who murdered blacks. […]“

Da der überwiegende Anteil der Morde an Weißen von Weißen begangen werden, würde das System damit wieder Weiße diskriminieren, denn sie würden für das gleiche Verbrechen eher hingerichtet. Außer natürlich, man sieht den Sinn in der Todesstrafe darin, das Opfer zu rächen. Dann würden die Schwarzen benachteiligt, weil ihnen weniger Vergeltung zuteil wird. Die Entscheidung darüber bleibt dem interessierten Leser überlassen.

Bei diesen drei Punkten wollen wir es erstmal belassen: Die Faszination der Deutschen mit der Todesstrafe in den USA (verglichen mit, sagen wir mal, in Japan mit seinem nach deutschem Vorbild aufgebauten Rechtssystem) ist legendär und bietet noch Stoff für viele, viele weitere Einträge. Wobei wir für Gibson hoffen, dass er nicht immer der Anlass sein wird.

[Überarbeitet 18. April 2007. Ergänzt 4. Juni 2007 Link zur GAO-Studie, Danke an AB]

Zu Bushs illegalem Abhörprogramm: Was ist eigentlich die NSA?

August 18, 2006

Eine amerikanische Bundesrichterin hat ein von der Presse aufgedecktes Abhörprogramm der US-Regierung für illegal erklärt. Der US-Nachrichtendienst National Security Agency (NSA) hatte ohne richterliche Genehmigung Auslandsgespräche von US-Bürgern abgehört.

Wir wollen zuerst zwei Dinge klarstellen, die in einigen Medienberichten und bei Bloggern im Moment etwas durcheinander gehen:

Erstens, das Abhören von derartigen Gesprächen bleibt im Prinzip legal. Grundlage ist der Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) von 1978. Dieser sieht jedoch richterliche Genehmigungen und eine Überwachung durch den Kongress vor. Bush hat den FISA bewusst umgangen. Das Urteil lautet also nicht „die Regierung darf nicht abhören“, sondern „die Regierung muss sich an die Regeln halten“.

Zweitens, dieser Fall hat nichts mit einem anderen zu tun, bei dem die NSA eine Datenbank mit Millionen von Verbindungsdaten von Telefongesprächen in den USA erstellt haben soll. Hierbei handelt es sich auch ausdrücklich nicht um ein Abhörprogramm, wie in Deutschland gelegentlich zu lesen ist. Die Urteile dazu stehen noch aus.

Dieser Autor möchte den interessierten Leser empfehlen, sich selbst das Urteil anzuschauen. Wie (fast) alle Urteilstexte im angelsächsischen Raum ist es von der Sprache her auch für Normalsterbliche verständlich (das Geschworenensystem verhindert, dass Juristen in Fachkauderwelsch abdriften). Richterin Anna Diggs Taylor geht – sozusagen als Ergänzung zu unseren jüngsten Einträgen – ausgiebig auf sehr grundsätzliche Fragen ein wie die Bedeutung der Gewaltenteilung

It was never the intent of the Framers to give the President such unfettered control, particularly where his actions blatantly disregard the parameters clearly enumerated in the Bill of Rights. The three separate branches of government were developed as a check and balance for one another.

und die Macht des Präsidenten:

The Government appears to argue here that […] particularly because the President is designated Commander in Chief of the Army and Navy, he has been granted the inherent power to violate not only the laws of the Congress but the First and Fourth Amendments of the Constitution, itself. […] There are no hereditary Kings in America and no powers not created by the Constitution.

Wie man an diesen beiden Zitaten sieht, sind amerikanische Richter auch nicht für ihre höfliche Zurückhaltung bekannt. Die letzten Sätze des Urteils sind ähnlich direkt:

Plaintiffs have prevailed, and the public interest is clear, in this matter. It is the upholding of our Constitution.

Es wird interessant zu sehen, auf welcher Grundlage die Regierung ihre angekündigte Berufung aufzieht.

Wir wollen die Gelegenheit nutzen, einen kurzen Blick auf die NSA selbst zu werfen. Unter den zahlreichen Geheimdiensten der USA nimmt sie besonders zwei Aufgaben wahr:

  1. Abhöraktivitäten im Ausland. Deutschen ist vielleicht am besten die Beteiligung an dem Echelon-System der angelsächsischen Staaten bekannt. Die NSA soll dadurch zum Beispiel Informationen [DOC] über die Lieferung von Teilen für eine Giftgasfabrik in Libyen durch deutsche Firmen gewonnen haben.
  2. Schutz von Computersystemen. Dazu gehört auch der Entwurf von besonders sicheren Versionen des alternativen Betriebsystems Linux.

Allgemein ist die NSA damit beschäftigt, Codesysteme zu erstellen und zu knacken – es ist also kurz gesagt die Kryptografie-Behörde der USA.

Eine Zeit lang war so etwas in den USA verpönt. Berühmt wurde der Spruch von Außenminister Henry L. Stimson „Gentlemen don’t read each other’s mail“, mit dem er ausgerechnet kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eine Vorläuferbehörde schließen ließ.

Als Verteidigungsminister änderte Stimson seine Meinung. Die USA knackten zahlreiche japanische Codes, was maßgeblich zum Sieg im Pazifik beitrug. Die Lehren daraus führten in den 50er Jahren zur Gründung der NSA. Ihr Chef ist bis heute immer ein Militär, das Budget ist geheim. Überhaupt leugnete die US-Regierung lange, dass es überhaupt die NSA gab, was zu der Bezeichnung als No Such Agency führte.

Die NSA hat eigentlich innerhalb der USA nichts zu melden – ein Grund für das jetzige Urteil und für die Aufregung über die mutmaßliche Datenbank mit Telefondaten. Für Abhöraufgaben im Inland ist der Bundesermittlungsdienst FBI verantwortlich. Im Gegensatz zu anderen Geheimdiensten wie die CIA unternimmt die NSA auch keine Einsätze (operations), egal wie süß Halle Berry als „NSA-Agentin“ Giacinta „Jinx“ Johnson in dem James-Bond-Film „Die Another Day“ aussah. Trotzdem wird der Dienst in Filmen immer mehr als Finsterling sondergleichen dargestellt („Sneakers“, „Enemy of the State“).

Das würde allerdings heißen, dass Mathematiker ein sehr viel aufregenderes Leben führen als dieser Autor es jemals vermuten würde. Der NSA wird nachgesagt, der größte Arbeitgeber von Mathematikern weltweit zu sein (auf ihrer Website heißt es dazu nur schamhaft „it is said“). Häufig wird auch behauptet, sie sei der größte Einkäufer von Supercomputern.

Bekannt ist, dass der Stromverbrauch des Hauptquartiers im Bundesstaat Maryland – wieder einmal sind wir also nicht in Washington – riesig ist. In der Presse wird im Moment über einen angeblich so hohen Verbrach spekuliert, dass die Versorgung und damit die ganze Arbeit der NSA gefährdet sei.

Vielleicht hat sich das Problem durch das neue Urteil erstmal erledigt.

(Wenn wir schon bei Verschlüsselungen sind, will dieser Autor am Ende noch schamlos eine Empfehlung für eines seiner Lieblingsbücher loswerden – Cryptonomicon von Neal Stephenson. Auch hier kommt die NSA vor, dazu noch geheime U-Boote, japanische Codes, Nazi-Gold, bizarre Sprachen auf den britischen Inseln und jede Menge Unix. Genau das richtige für alle Verschwörungstheoretiker, die kein Wort von dem glauben, was oben steht.)

Der Bund Teil 6: Wie Bush sein Ding durchzieht: Executive Orders

August 16, 2006

Wir wissen, wie der Kongress Gesetze macht, wir können uns in etwa denken, wie das Oberste Gericht Urteile fällt, aber wie erteilt der Präsident Anweisungen? Da es in Deutschland kein vergleichbares Amt gibt, gibt es auch keinen vergleichbaren Mechanismus. Wir besprechen heute daher die executive orders (EO) des Präsidenten, meist übersetzt als „Dekret“, „Erlass“ oder eben „Anweisung“.

Wie immer schweigt sich die amerikanische Verfassung über die entsprechenden Details aus. Der Präsident soll dafür Sorge tragen, dass die Gesetze gewissenhaft umgesetzt werden, heißt es lapidar in Artikel II, Sektion 3. In der Praxis teilt er den Organen der Exekutive in kurzen Texten – den EOs – seine Wünsche mit. Diese sind mit seiner Unterschrift sofort gültig. Ein Berater von Präsident Bill Clinton, Paul Begala, handelte sich eine Menge Ärger mit einem Spruch ein, der das ganz gut zusammenfasst:

Stroke of the pen. Law of the land. Kind of cool.

Wir haben gesehen, dass der Präsident in der Lage sein soll, schnell zu handeln, und deswegen ist es nur logisch, dass er in seinem Machtbereich auch schnell Befehle geben kann. Die wichtige Frage ist also, was alles zu diesem Bereich gehört.

Da sich die amerikanische Verfassung strikt an die klassischen Vorstellungen der Gewaltenteilung hält, gilt: Die Legislative macht die Regeln und die Exekutive setzt sie um. Eine Anweisung des Präsidenten muss sich also innerhalb eines Rahmens bewegen, den die Gesetze oder die Verfassung vorgeben. Die Verfassung ist der einfache Teil, den wir schon besprochen haben: Der Präsident darf Verträge schließen und Leute ernennen, ist Chef des Militärs und so weiter. Das Problem sind die Gesetze.

Denn es steht dem Kongress frei, der Exekutive weitgehende Befugnisse einzuräumen, den Rahmen also groß zu machen. Ein Beispiel dafür ist der Patriot Act, der nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 verabschiedet wurde. Das Gesetz selbst ist nicht die leichteste Lektüre, aber schaut man sich eine Analyse des Textes an (hier vom demokratischen Senator Patrick Leahy), wird der Rahmen sichtbar (Title I, Sec. 106):

The new provision permits the President, when the United States is engaged in military hostilities or has been subject to attack, to confiscate property of any foreign country, person or organization involved in hostilities or attacks on the United States.

Wir müssen die Bush-Hasser unter unseren Lesern enttäuschen: Was er da so macht, ist vom Kongress erlaubt oder wird zumindest geduldet. Wenn die Abgeordneten wirklich gegen – sagen wir mal – das Gefangenenlager in Guantanamo Bay wären, könnten sie versuchen, es per Gesetz zu schließen oder die Gelder dafür zu verweigern. Gerade aber weil der Kongress als Ganzes keinen Handlungsbedarf sieht, müssen diese Fälle vor Gericht geklärt werden, mit der entsprechenden Verzögerung.

(Bush hat offenbar tatsächlich zum Teil versucht, am Kongress vorbei zu handeln, mit der Begründung, das sei für die nationale Sicherheit notwendig. So etwas macht die Abgeordneten aber so richtig fuchsig und sie kennen dann keine Parteibanden mehr. In der deutschen Presse sucht man Berichte über diese Fälle meist vergeblich, weil das Gesamtsystem und damit die Tragweite oft nicht verstanden wird.)

Wir können jetzt als Faustregel eine Hierarchie aufstellen:

  1. Präsident: Executive Orders (Anweisungen). Am schnellsten, aber auch am schwächsten.
  2. Kongress: Laws (Gesetze). Langsamer, aber stärker. Geben den Rahmen der Executive Orders vor.
  3. Oberstes Gericht: Rulings (Urteile). Schneckentempo, aber allmächtig. Geben den Rahmen der Gesetze vor, können Executive Orders aufheben.

Das ist sehr grob vereinfacht: Die Verfassung weist jeder Gewalt gewisse Bereiche zu, in denen die anderen nicht wildern dürfen; der Präsident kann zum Beispiel nicht per EO am Haushalt herumspielen oder die Verfassung ändern. Auch sind die Gewalten nicht gleich: Der Präsident und der Kongress handeln aus eigenem Antrieb; das Oberste Gericht darf dagegen nur über Fälle entscheiden, die ihm vorgelegt werden, ist also „ohne Wille“.

Aber als Faustregel ist diese kleine Liste nützlich, denn damit werden einige Dinge klar:

Wenn der Präsident etwas anordnet, und der Kongress nicht weiter darauf eingeht, hat es Gesetzeskraft. Das kann aus reiner Faulheit geschehen – wenn der Kongress eh damit einverstanden ist – oder wenn die Abgeordneten sich nicht auf ein Gesetz einigen können. EOs können damit eine Blockade in der Legislative überbrücken. Das ist ein Mittel, das parlamentarischen Demokratien fehlt, wo Streit unter den Abgeordneten oder zwischen zwei Kammern sofort zum berüchtigten „Reformstau“ führt. Es kann auch vorkommen, dass der Kongress sich nicht auf die Feinheiten eines Gesetzes einigen kann und die Details der Umsetzung einfach dem Präsidenten überlässt, frei nach dem Motto „George, du machst das schon“.

EOs galten lange als interne Angelegenheit der Exekutive, und niemand bemühte sich, sie aufzubewahren. Inzwischen werden sie archiviert und fortlaufend nummeriert, rückwirkend angefangen mit der Emancipation Proclamation, also der Sklavenbefreiung durch Abraham Lincoln vom Januar 1863, als die Nummer 1.

Bekannte (oder berüchtigte) Anweisungen sind EO 9066, das zur Einrichtung von Internierungslagern für Japanisch-Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs führte, EO 10834, der offizielle Aufbau der amerikanischen Fahne, oder EO 13119 [PDF], der Beginn der US-Beteiligung am Kosovo-Krieg. Wir sind inzwischen (August 2006) bei EO 13409 [PDF] angekommen.

Aber Moment mal. Wie kam Lincoln eigentlich dazu, die Sklaven zu befreien? War dafür nicht ein Gesetz oder sogar eine Verfassungsänderung notwendig?

Nein. Lincolns Trick bestand darin, die Sklaverei nur in den eroberten Teilen der Südstaaten für beendet zu erklären – als oberster Feldherr durfte er das. Wo auch immer die Blauen einmarschierten, waren die Schwarzen frei. Im Norden – also in den „Rest-USA“ – blieb die Sklaverei zwar weiter Sache der einzelnen Bundesstaaten, aber die Symbolkraft fegte alles hinweg: Der erste und wichtigste Schritt auf dem langen Weg zur Gleichberechtigung war getan.

Theoretisch hätte die Proklamation allerdings mit dem Ende des Krieges aufhören können zu wirken, und deswegen wurde die Sklavenbefreiung 1865 mit dem 13. Amendment in die Verfassung aufgenommen. Alles wie vorgeschrieben also.

Wir haben von der Angst gesprochen, der Kongress könne alle Macht an sich reißen und wie in Großbritannien eine „Diktatur des Parlaments“ aufstellen. Die Angst vor einem US-Präsidenten, der sich zum Diktator macht, gibt es natürlich auch. Das Oberste Gericht entschied 1935 in Schechter Poultry Corp. v. United States ausdrücklich, dass der Kongress dem Präsident nicht das Recht übertragen kann, Gesetze zu erlassen. Der Rahmen muss sozusagen im Rahmen bleiben, Legislative (und Exekutive) könnten sich nicht selbst entmachten. Die ersten 220 Jahre hat das auch ganz gut funktioniert.

Was die Frage aufwirft, was mit der dritten Gewalt, der Judikative ist – gibt es da auch die Befürchtung, sie könnte die Macht an sich reißen?

Tatsächlich hat sich der Supreme Court ganz am Anfang einige seiner wichtigsten Befugnisse einfach selbst zugesprochen. Nicht wenige Leute werfen ihm heute vor, seit einigen Jahrzehnten weit außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs zu handeln. Das hat mit Abtreibungen, britischen Science-Fiction-Comics und Sylvester Stallone zu tun und wird das Thema des nächsten Eintrags dieser Serie.

Kurz erklärt: Feiertage und Ladenschlusszeiten

August 14, 2006

Heute wollen wir über landesweite Pflichtfeiertage und Ladenschlussgesetze in den USA sprechen. Das geht schnell, denn es gibt keine.

Der Bund kennt zehn offizielle Feiertage (holidays):

  • New Year’s Day, am 1. Januar
  • Birthday of Martin Luther King, Jr., dritter Montag im Januar
  • Washington’s Birthday, dritter Montag im Februar
  • Memorial Day, letzter Montag im Mai
  • Independence Day, 4. Juli
  • Labor Day, erster Montag im September
  • Columbus Day, zweiter Montag im Oktober
  • Veterans‘ Day, 11. November
  • Thanksgiving Day, vierter Donnerstag im November
  • Christmas Day, 25. Dezember

(Washington’s Birthday wird auch als „Presidents‘ Day“ bezeichnet. Am Memorial Day wird den Kriegstoten gedacht, wer überlebt hat, wird am Veterans‘ Day geehrt. Labor Day findet im Gegensatz zum „Tag der Arbeit“ nicht am 1. Mai statt, was wir irgendwann ausführlich erklären werden, genauso wie die Sache mit Thanksgiving, das nicht das gleiche wie Erntedank ist, denn es ist kein religiöser Feiertag.)

Diese Feiertage gelten aber nur für Mitarbeiter und Angestellte des Bundes wie Postbeamte und Bundesrichter. Die Bundesstaaten haben die meisten davon zwar für ihre Angestellten übernommen und teilweise eigene hingefügt – wie zum Beispiel Constitution Commemoration Day am 17. September in Arizona. Mit dem Bürger in der Privatwirtschaft hat das aber alles erstmal nichts zu tun.

Zwar folgen viele Unternehmen und Geschäfte diesen Vorgaben und bleiben ebenfalls geschlossen. Aber sie tun es rein aus eigenem Antrieb. Amerikaner finden die Idee etwas seltsam, dass der Staat jemanden vorschreiben können soll, wann er sein Geschäft zu schließen hat. Wem gehört der Laden denn, dem Staat? Nein? Na also. Dann soll er sich bitteschön auch nicht einmischen.

Ganz undenkbar wäre es, wenn der Bund den Sonntag als arbeitsfrei vorschreiben würde: Das widerspricht aus amerikanischer Sicht der Trennung von Kirche und Staat. Warum sollen Nicht-Christen am christlichen Ruhetag ihren Laden schließen müssen?

Etwa die gleichen Argumente lassen sich auf den Ladenschluss übertragen. Da es diese Diskussion (inzwischen) auch in Deutschland gibt, müssen wir nicht weiter darauf eingehen, und dieser Autor kann wieder zurück ins Fantasy Filmfest.