Indianer, Teil 6: Herr Sequoyah erfindet eine Schrift

März 31, 2015

Furchtbare Nachrichten für alle Amerikaner in Deutschland: Der größte deutsche Beitrag zur Legendenbildung über die Indianer, Winnetou, soll neu verfilmt werden. Eigentlich hatte dieser Autor gehofft, dass die Bücher langsam in Vergessenheit geraten, denn selbst die Karl-May-Gesellschaft räumt ein:

[T]here is no denying that the majority of situations, no less than the personnel described by this writer, clash with reality: Life, and fights, and problems as he depicted them as characterizing the Western half of the US in the 1860’s and 1870’s, are strangely anachronistic.

„Anachronistisch“ ist nicht wirklich das Wort, das dieser Autor für die Darstellungen der Indianer in diesen Romanen benutzen würde, aber gut. Stellen wir uns darauf ein, dass wir auch die kommenden Jahrzehnte den Deutschen werden erklären müssen, dass sie (zweifellos spannend geschriebenen) Unfug lesen und den Amerikanern, was in aller Welt da in die Germanen gefahren ist. Ehrlich, warum können die Leute nicht einfach Terry Pratchett lesen?

Dem grammatikfaulen Winnetou wollen wir aus diesem Anlass einen Indianer entgegensetzen, der mit Fug und Recht nicht nur als Held seines Stammes, sondern als Genie der Menschheitsgeschichte vorgestellt werden kann: Sequoyah. Den gab es nicht nur wirklich, er hatte auch möglicherweise einen echten Bezug zu Deutschland. Da kann Karl May einpacken.

Sequoyah war ein Cherokee, der etwa 1760 im heutigen Tennessee geboren wurde. Seine Mutter gehörte zum Red-Paint-Klan — wichtig, weil die Zugehörigkeit zum Stamm über sie lief. Sein Vater, nun …

His father’s name has been identified as either George Gist, a German peddler, or Nathaniel Gist, a friend of George Washington’s and ancestor of the Blair family of Washington, D.C.

Sprich, möglicherweise war Sequoyah deutscher Abstammung. Als englischer Name wird auf einem Vertrag von 1828 „George Guess“ angegeben. Es finden sich diverse andere Schreibweisen des Nachnamens. Heute nennen ihn alle nur Sequoyah.

Sequoyah war im Laufe seines Lebens Händler, Soldat und Silberschmied. Wie die meisten Cherokee zu dieser Zeit war er Analphabet. Einer Schilderung aus dem Jahr 1820 zufolge geschah es nun eines Tages, dass er sich mit Stammesmitgliedern über die „überlegenen Fähigkeiten des Weißen Mannes“ unterhielt. Diese könnten sogar Botschaften auf Papier sprechen und dann über große Strecken verschicken — die talking leaves:

One said that white men could put a talk on paper, and send it to any distance, and it would be understood by those who received it. They all agreed that this was very strange, and they could not see how it could be done.

Dieser Schilderung zufolge soll Sequoyah dann erklärt haben: „You are all fools; why the thing is very easy, I can do it myself.“ und dann mit den ersten Zeichen experimentiert haben.

Ob diese auf Hörensagen beruhende Darstellung stimmt, ist unklar. Gesichert ist, dass er ab etwa 1809 an einem eigenen Alphabet für die Sprache der Cherokee arbeitete. Zuerst versuchte er, Bilder zu malen, was zu kompliziert war.[1] Dann ging er der Idee nach, für jedes Wort ein Symbol festzulegen, was zu viel wurde. Seine Freunde, so wird überliefert, lachten ihn aus oder hielten ihn für wahnsinnig.

Irgendwann vor 1821 kam ihm schließlich die Einsicht, dass Wörter aus Silben aufgebaut sind. Nach einigen Experimenten — Archäologen diskutieren, ob jüngst eine frühe Form gefunden wurde — kam er auf 85 Zeichen. Sie machen heute leicht verändert die Silbenschrift der Cherokee aus.

Einige Zeichen übernahm Sequoyah dabei aus einem Englischbuch, das ein Lehrer ihm geschenkt hatte. Da er aber leider keine Ahnung hatte, wie das lateinische Alphabet funktionierte, nahm er sie für völlig andere Laute [PDF]. So entspricht das „H“ der Silbe „mi“ und das „W“ einem „la“.

Seine Tochter A-Yo-Ka war die erste Person, die die neue Schrift lesen und schreiben lernte.

An dieser Stelle hätte der Aberglaube der Cherokee fast dem ganzen Projekt ein brutales Ende bereitet: Sequoyah und A-Yo-Ko wurden von ihrem Stamm der Hexerei angeklagt und sollten hingerichtet werden. Nach der offiziellen Geschichte der Cherokee Nation endete das Gerichtsverfahren allerdings damit, dass die Richter — alles Krieger — vom Wert der Erfindung überzeugt wurden:

[Town chief George] Lowery brought in a group of warriors to judge what was termed a „sorcery trial“. For evidence of the literacy claims, the warriors separated Sequoyah and his daughter to have them send messages between each other until they were finally convinced that the symbols on paper really represented talking. At the end of the trial, the warriors asked Sequoyah to teach them.

Innerhalb kurzer Zeit — die Cherokee selbst sprechen von very few months — konnte die Mehrheit des Stammes lesen und schreiben. Der Missionar Samuel Worcester setzte sich für eine Druckerpresse ein, um die Bibel in der neuen Schrift auflegen zu können. So entstanden Bücher, Pamphlete und Zeitungen. Erhalten sind unter anderem zweisprachige Versionen [PNG] der „Cherokee Phoenix“. Im Jahr 1827 wurde die Verfassung der Cherokee in der neuen Schrift gedruckt.

Sequoyah wurde zum Helden seines Stammes. 1829 wurde er zusammen mit 2500 anderen Cherokee von der US-Regierung nach Oklahoma umgesiedelt (der Trail of Tears kam zehn Jahre später). Er starb im August 1843. Wo er begraben wurde, ist nicht bekannt.

Seine Holzhütte in Oklahoma ist heute ein National Historic Landmark. Nach Sequoyah sind in den USA Schulen und Forschungseinrichtungen benannt, er taucht auf Briefmarken auf und ist am Library of Congress in Bronze verewigt. Er war 1917 der erste Indianer, der mit einer Statue im Kapitol geehrt wurde.

Die intellektuelle Leistung von Sequoyah kann nicht hoch genug bewertet werden. Zwar hatte er eine grobe Vorstellung, dass die komischen schwarzen Zeichen der Weißen irgendeine Bedeutung haben mussten — mehr aber auch nicht. Den Rest entdeckte er selbst, auf eigene Faust, in einer Gesellschaft, die ihn dafür fast hingerichtet hätte. Damit ist er nicht nur einzigartig unter den Indianern, sondern — zumindest, wenn man die vergangenen 3.500 Jahre oder so betrachtet — unter den Menschen.[1]

Winnetou dagegen … ach, wir lassen es einfach.

[1] Diamond, Jared Guns, Germs and Steel. A short history of everybody for the last 13.000 Years Vintage Press, 1997