Archive for März, 2008

Homosexualität, Kinsey und die Stonewall Riots

März 27, 2008

Stonewall is regarded as the single most important event that led to the modern movement for gay and lesbian civil rights.

National Park Service der USA

Inzwischen wird der interessierte Leser – egal, ob er die „New York Times“ oder andere Zeitungen liest, ABC News verfolgt, bei MTV abhängt oder nur dieses Blog besucht – mitbekommen haben, dass Buffy in Heft 12 mit einer Frau geschlafen hat. Für unsere Slayer ist das eigentlich ein Schritt in die Normalität – zwei frühere Partner waren Vampire und damit streng genommen Leichen.

Die Diskussion in der amerikanischen Presse geht auch weniger um den Akt an sich als um die Frage, was Joss Whedon mit Buffys Beziehung zu Satsu machen wird, jetzt, wo seine Schöpfungen auf dem Papier leben und der FCC den Stinkefinger zeigen können. Denn Buffy war schon für den unkonventionellen Umgang mit Geschlechterrollen und Sexualität berüchtigt, als die Funkaufsicht argwöhnisch jeden Kuss verfolgte.

Am bekanntesten war damals die Liebe zwischen Willow und Tara [YouTube]. Willows coming out wurde über Jahre vorbereitet und die emotionale Tiefe der Beziehung betont, die zur Längsten ihre Art im amerikanischen Fernsehen wurde. Junge Lesben verwiesen auf Willow und Tara als Vorbilder und alle machten sich Gedanken, ob der Name ihrer Katze – „Miss Kitty Fantastico“ – nicht ein versteckter Witz über great pussy war.

Dummerweise hat Whedon hat eine an Leon Uris erinnernde Angewohnheit, seine Charaktere zu töten. Tara wurde erschossen, einfach so. Ihr sinnloser Tod und Willows anschließende mörderische Raserei wurden in den USA zu einem Politikum: Wütende Homosexuellen-Gruppen warfen Whedon vor, Vorurteile wie das dead lesbian cliché zu bedienen. Er wies das entschieden zurück:

I knew some people would be angry with me for destroying the only gay couple on the show; but the idea that I couldn’t kill Tara because she was gay is as offensive to me as the idea that I did kill her because she was gay.

Wer die Reaktionen auf Taras Tod liest, wird von der Vehemenz der Kritik überrascht sein. Überhaupt wirkt die homosexuelle Subkultur in den USA im Vergleich zu ihren europäischen Gegenstücken lauter, aggressiver, mehr in your face – genauso wie die Leute, deren Lebensinhalt der Hass auf Homosexuelle zu sein scheint. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die öffentliche Debatte in Amerika viel bösartiger geführt werden darf, wirkt alles irgendwie extrem.

Dahinter steckt eine brutale politische Realität. Die Gesetze zur Homosexualität werden von den Bundesstaaten und Kommunen gemacht, und auf diesen Ebenen sind die USA eher eine direkte Demokratie. Entsprechend wird zum Beispiel die Frage, ob Homosexuelle heiraten dürfen, gerne durch Volksabstimmungen entschieden. Die Antwort lautet im Moment meistens „nein“.

Schwule und Lesben stehen damit – wie jede andere Minderheit in den USA – vor der Herausforderung, das Volk auf ihre Seite zu ziehen. Wenn sie etwas erreichen wollen, müssen sie an die Öffentlichkeit gehen und laut ihr Anliegen vortragen – sehr laut. Ihre Gegner tun das allerdings auch, und das führt zu dem dramatisch gehobenen Schallpegel, der Betrachter aus Übersee nach Ohrenstöpseln greifen lässt. Da das Volk in Europa bei so etwas gar nicht erst gefragt wird, reicht hier die dezentere und vor allem leisere Lobbyarbeit bei hochrangigen Politikern.

Der Mechanismus erklärt auch andere Dinge in den USA wie die heftige Debatte, welcher Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt gay ist. Die Faustregel 1 in 10 war lange ein eiserner Glaubensgrundsatz unter amerikanischen Homosexuellen – wie sie entstand, sehen wir gleich – während homophobe Gruppen die Zahl möglichst kleinreden wollen.

Tatsächlich gehen die meisten Studien heute von einer niedrigeren Zahl von eher fünf Prozent aus. Das sehen Feinde von Homosexuellen-Rechten wie die Traditional Values Coalition als Vorteil:

[P]olitically, the leverage is not there when you take the numbers and spread them across America.

Schwule US-Politiker wie der Abgeordnete Barney Frank sagen dagegen, dass es ohnehin wichtiger für die Homosexuellen sei, sich Gehör zu verschaffen, nach dem Prinzip Qualität statt Quantität:

What’s important politically is not how many there are, but what you do about it. The extent to which you mobilize enormously outweighs the numbers.

Damit wird das coming out nicht nur ein Schritt, um die eigene Sexualität zu akzeptieren oder langfristig Vorurteile abzubauen, sondern hat eine handfeste politische Bedeutung.

Dass die Diskussion in den USA heftiger ist, hat aber auch historische Gründe. In Amerika fanden zwei der zentralen Ereignisse in der Geschichte der modernen Homosexuellen-Bewegung statt.

Das erste war theoretischer Natur und verlangt einen kurzen Abstecher in die Geschichte der Sexualwissenschaft. Denn lange Zeit sah dort die „Forschung“ zu Dingen wie Homosexualität so aus, dass die Ärzte sich ihre Fälle anschauten, am Schreibtisch ein wenig auf ihrem Bleistift herumkauten und ihre Vorstellungen dann als „Theorie“ verkauften. Das beste Beispiel ist Sigmund Freud, der wenigstens den Anstand hatte, sich ausdrücklich von der wissenschaftlichen Methode zu verabschieden.

Ein Wespenforscher namens Alfred Kinsey fand das alles komisch, denn in der Biologie bekam man für so ein unsystematisches Vorgehen eine geklatscht. Und so befragte der in Harvard ausgebildete Professor der Indiana University in standardisierten Interviews 18.000 Amerikaner zu ihrem Sexualleben. Daraus entstand der Kinsey Report, dessen erster Teil 1948 veröffentlicht wurde.

Eine ganze Menge Dinge waren dadurch plötzlich anders. So griff Kinsey mit einer Skala die Vorstellung an, dass Menschen entweder rein Homo- oder Heterosexuell sind – es kamen die Grauschattierungen der Bisexualität dazu. Wichtiger noch: Kinseys Daten wurden so interpretiert, dass einer von zehn Menschen homosexuelle Neigungen hatte. So hatte das Kinsey zwar selbst nie gesagt, aber die Zahl blieb allen im Gedächtnis.

Die Studie revolutionierte mehr als nur die Sexualforschung. Bis dahin galten Homosexuelle einzelne Kranke, gering an der Zahl. Die Chancen, einen Gleichgesinnten zu treffen, waren vernachlässigbar. Aber wenn zehn Prozent – oder auch fünf – der Bevölkerung die gleichen Neigungen haben, ändert sich alles. Man kann eine Subkultur aufbauen. Für Homosexuelle lautete die zentrale Botschaft des Kinsey-Berichts: Du bist nicht allein!

Der Report wurde in den USA zu einem Bestseller und war natürlich umstritten. In Deutschland blieb die Diskussion etwas gedämpfter, was verständlich ist, denn die meisten Proto-Bundesbürger hatten 1948 andere Sorgen.

Im Jahr 1973 strich die American Psychiatric Association als Folge der weiteren Forschung (und gegen den erbitterten Widerstand der Psychoanalytiker) die Homosexualität aus ihrem Diagnostikhandbuch. Homosexualität war offiziell keine Krankheit mehr. Die letzten Reste wurden 1986 getilgt. Bis dahin hatte das zweite Schlüsselereignis die politische Dimension eröffnet.

Denn in der Nacht zum 28. Juni 1969 hatte die Polizei von New York im Bezirk Greenwich Villiage eine Razzia in einer Schwulenbar nahe dem Sheridan Square durchgeführt, dem Stonewall Inn. Offiziell ging es um die Alkohol-Lizenz (die Bar hatte keine), aber solche Überfälle auf Homosexuellen-Treffs waren Routine und die Beamten nicht zimperlich.

Aber diesmal war eine Sache anders: Die Schwulen wehrten sich. Die „New York Times“ schrieb am nächsten Tag:

The police estimated that 200 young men had been expelled from the bar. The crowd grew to close to 400 during the melee, which lasted about 45 minutes, they said.

Es kommt zu einer Straßenschlacht. Steine und Dosen fliegen, die Schwulen sperren einige Polizisten in der Stonewall Inn ein, jemand legt Feuer. Die herbeigerufene Polizei-Verstärkung befreit ihre Kollegen und löscht den Brand. Dreizehn Menschen werden festgenommen. Die Nachricht von der Schlägerei verbreitet sich in der Stadt, andere Schwule strömen hinzu. Die Krawalle dauern drei Tage. Von den Homosexuellen kommt dabei immer wieder der Ruf: Gay power!

Bereits damals war den Beteiligten klar, dass sich etwas grundlegend geändert hatte. Suddenly they were not submissive anymore, beschrieb es ein Mitglied der Polizeiführung. Der Dichter Allen Ginsberg, selbst homosexuell, schaute sich die Menge an und erklärte:

You know, the guys there were so beautiful —- they’ve lost that wounded look that fags all had 10 years ago.

Die Botschaft der „Stonewall Riots“ war: Du musst Dir das nicht gefallen lassen!

Die Homosexuellen hatten dabei von der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen gelernt. Direkt nach den Krawallen begannen sie mit den Vorbereitungen für einen Gedenkmarsch zum Jahrestag der Razzia. Der erste Gay Liberation Day-Marsch [GIF] fand tatsächlich 1970 statt.

Heute werden die Umzüge zur Erinnerung an die Stonewall Riots weltweit meist unter dem Begriff Gay Pride [Flickr] geführt. Die große Ausnahme ist Deutschland. Hier übernahm man den Namen der Straße, in dem die Bar liegt, und spricht vom Christopher Street Day (CSD).

Dass Homosexuelle in aller Welt ausgerechnet eine Straßenschlacht in New York als zentrales Fest begehen, ist ein Beleg für ein anderes Phänomen: Weil die die amerikanischen Schwulen und Lesben damals die Vorreiter waren und bis heute mehr öffentliche Politik betreiben müssen, um ihre Interessen durchzusetzen, sind auch ihre Symbole in der Öffentlichkeit bekannter. Die Folge ist etwas, das man „Subkulturimperialismus“ nennen könnte.

Das fängt mit der „Regenbogenflagge“ an, die Gilbert Baker 1978 in San Francisco entwarf (damals noch mit acht statt sechs Streifen [Video]). Die Kluft der „Lederkerle“ (leathermen) geht auf schwule US-Veteranen zurück, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Motorrad-Clubs zusammenschlossen. Von dort aus ging schwarzes Leder in den heterosexuellen SM über. Begriffe wie gay und queer müssen in Deutschland nicht erklärt werden – höchstens, dass gay auf Englisch nicht mehr nur für „schwul“ steht, sondern auch allgemeiner als Synonym für „homosexuell“ benutzt wird.

Entsprechend sah sich Buffy schon im Heft zuvor mit der Frage von Satsu konfrontiert, ob sie denn gay sei. Nein, sagte Buffy (als gute Angelsächsin war sie natürlich nicht so direkt, sondern sagte Not so you’d notice). Bisexualität war in der Serie bislang eher Interpretationssache. Wir werden abwarten müssen, wie weit Buffy auf der Kinsey-Skala nach rechts driftet.

Alumin(i)um

März 24, 2008

Der aufmerksame interessierte Leser des Eintrags zum Energieverbrauch wird bemerkt haben, dass die Kanadier ihre aluminum-Industrie für den hohen Stromverbrauch mitverantwortlich machen und nicht etwa ihre aluminium-Industrie. Das war kein Tippfehler: In Nordamerika wird das Metall hinten -um geschrieben, nicht -ium. Die Briten schreiben aber aluminium.

Nun gibt es im Englischen beide Endungen in der Chemie: titanium für Titan und uranium für Uran auf der einen Seite, platinum für Platin und molybdenum für Molybdän auf der anderen – aber sonst nicht für ein und demselben Wort. Schuld an dieser speziellen Schlacht im endlosen innerangelsächsischen Sprachkrieg sind zwei Leute: der englische Entdecker des Elements, Sir Humphry Davy, und der amerikanische Lexikologe Noah Webster.

Davy trägt die Hauptschuld, denn er litt an akuter Entscheidungsschwäche. Er nannte das Metall 1807 zunächst alumium, dann wechselte er zu aluminum und schließlich ging er 1812 zu aluminium über. Die Briten benutzten die -um und -ium Formen einige Zeit parallel, bis sich die längere Variante durchsetzte. Sie wird a-loo-MIN-ium ausgesprochen.

Webster – dem wir einen eigenen Eintrag widmen werden – nahm in seinem einflussreichen Wörterbuch von 1828 aber nur aluminum auf. Auch in den USA gab ein fröhliches Nebeneinander der Formen – tatsächlich war das Metall am Anfang unglaublich teuer, so dass eigentlich niemand großartig Gelegenheit hatte, darüber zu schreiben. Am Ende siegte wegen Webster die kürzere Form, die a-LOO-min-um ausgesprochen wird.

Die American Chemical Society legte 1925 die -um Form als verbindlich fest, was die Diskussion für die Nordamerikaner abschloss. Die International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) stellte sich allerdings (dann doch schon) 1990 hinter die -ium Variante. Da die Kanadier und Amerikaner sie nur auslachten, ist auch aluminum als Alternative zugelassen.

Trotzdem, ein Sieg für die Briten? Wenn ja, dann kein entscheidender. Genau umgekehrt lief es beim Schwefel, wo Websters Variante sulfur sich in der IUPAC gegenüber sulphur durchsetzte. Selbst die Royal Society of Chemistry empfiehlt heute die amerikanische Form. Der Krieg geht weiter …

Einige Bemerkungen zum Energieverbrauch der USA

März 20, 2008

In Nord-Minnesota wurde im vergangenen Monat die Rekord-Tief-Temperatur von Minus 40 Grad gemessen. Mit 196 Zentimeter riss der Schneefall-Rekord in Wisconsin. Allgemein war die Schneedecke über Nordamerika so dick wie seit 1966 nicht mehr.

Nun wäre das zusammen mit der ungewöhnlichen Kälte in anderen Ländern und dem ersten Schnee in Bagdad seit Menschengedenken ein guter Einstieg für einen Eintrag über die kritischen Haltung einiger Amerikaner zur globalen Erwärmung. Aber das ist ein arg kontroverses Thema für dieses bescheidene Blog, das wir daher erst anpacken werden, wenn die Hölle zufriert.

Stattdessen nehmen wir die ungewöhnlich tiefen Temperaturen in diesem Winter als Aufmacher für ein Thema, das zu etwas – wenn auch nicht viel – weniger Aufregung führt: Dem Energieverbrauch der USA.

Beginnen wir mit der Kälte. Dass Wisconsin und Minnesota nicht den Notstand ausgerufen haben, liegt daran, dass es dort ständig schweinekalt ist. Wir hatten im Zusammenhang mit dem Superbowl über die Kleidung der Greenbay-Packers-Fans [JPEG] gesprochen. Auch die 3,5 Millionen Menschen im Ballungsgebiet Minneapolis-St. Paul laufen dick eingepackt herum, haben Notfallausrüstungen im Haus und wärmen über Nacht den Motor ihres Autos mit einem block heater vor.

Das verbraucht natürlich Energie.

Das umgekehrte Extrem finden wir in Arizona. Zum Superbowl Anfang Februar war es dort gemütlich, 16 bis 20 Grad, aber im Sommer liegen die Temperaturen wochenlang über 40 Grad, Plus diesmal. Dann klebt normaler Straßenteer an den Schuhen, ausgekipptes Wasser verdunstet beim zuschauen und man muss auch ohne einen Tropfen Regen ständig die Scheibenwischer austauschen, denn die Sonne zerstört das Gummi.

Auch die 1,5 Millionen Menschen in Phoenix – inzwischen die fünftgrößte Stadt der USA – wissen, wie man damit klarkommt: Hier stimmt wirklich das Vorurteil, dass Amerikaner nirgendwohin zu Fuß gehen. Alle trinken Unmengen Wasser (oder sollten es zumindest) und was ein Dach und eine Tür hat, hat auch eine Klimaanlage.

Die Energie verbraucht.

Ein dritter Punkt: Die Entfernungen. Die USA sind der drittgrößte Staat der Welt. Selbst wenn man Alaska und Hawaii ausklammert, sind die Wege lang, für Fracht, für Personen, für die Auslieferung der Buffy-Comics. Die Strecke Berlin-Rom passt in Kalifornien, und wer in Europa von Paris nach Warschau fährt, hat in den USA gerade einmal Texas durchquert.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Bevölkerung an den Küsten konzentriert ist. Böse Menschen sprechen von der West Coast und East Coast, die durch eine unbedeutende Einöde namens Fly-Over getrennt sind.

Noch mehr Energie.

Nun wird bei Diskussionen über Energie gerne darauf hingewiesen, dass US-Bürger mehr davon pro Kopf verbrauchen als die Deutschen. Die einzig sinnvolle Antwort darauf lautet: well, duh, denn die Bedingungen sind anders. In Mitteleuropa würden Temperaturen wie in Minnesota oder Arizona als Klimakatastrophen eingestuft. Deutschland ist zwar eine große Nation mit großartigen Menschen, aber als Staat eher klein kompakt.

Schon allein wegen des Klimas und der Entfernungen verbrauchen die Amerikaner im Durchschnitt mehr Energie, und sie werden es bei vergleichbarer Lebensqualität auch immer tun. Selbst wenn die westliche Zivilisation morgen zusammenbrechen sollte, würden die Menschen in Minnesota mehr Brennholz verfeuern als in Hessen und die Pferdekutschen der amerikanischen Post würden wieder [JPEG] mehr Heu pro Brief verbrauchen.

Das klingt schrecklich banal. Ist es auch. Aber dieser Autor hat die Erfahrung gemacht, dass es nicht allen Diskussionsteilnehmern klar ist.

Damit soll nicht behauptet werden, die USA würden absolut gesehen nicht zu viel Energie verbrauchen. Die Effizienz von vielen Dingen ist (räusper) ausbaufähig, wie selbst die amerikanische Regierung zugibt. Energieverbrauch und Umweltschutz sind zwar politische Themen, haben aber besonders auf Bundesebene eine andere Priorität, wie wir am Präsidentschaftswahlkampf sehen. In den Programmen von Hillary Clinton und Barack Obama wird Energiesparen als Unteraspekt der energy independence geführt, bei John McCain bilden Energie und Umweltschutz Punkt 13 von 15. Amerikanische Befürworter der Solarenergie klagen:

The greatest obstacle to implementing a renewable U.S. energy system is not technology or money (…). It is the lack of public awareness that solar power is a practical alternative

Ob die USA übermäßig viel Energie verbrauchen, ist daher hier nicht das Thema – das wäre auch ein sehr viel kürzerer Eintrag. Es geht darum, dass ein direkter Vergleich zwischen einem Flächenstaat, der sich über mehrere Klimazonen erstreckt, und einem, äh, übersichtlichen Land in der gemäßigten Zone wenig sinnvoll ist.

Ja, aber mit wem kann man die Amis dann vergleichen?

Schauen wir uns den Energieverbrauch pro Kopf der sieben führenden Industriestaaten (G-7) an, finden wir eine Zweiteilung (in Kilogramm Öl-Äquivalent):

Land KgÖÄ
Kanada 8.301
USA 7.795
Frankreich 4.518
Deutschland 4.203
Japan 4.040
Großbritannien 3.918
Italien 3.127

Die USA sind nicht allein in ihrer Verbrauchsklasse, sondern liegen zusammen mit Kanada um die 8.000er Marke herum – je nach Studie und Jahr sind mal die Kanadier oben, mal die Amerikaner. Die Europäer und Japaner folgen alle mehr als 3.000 KgÖÄ dahinter.

(Damit niemand die Tabelle falsch versteht: Es geht hier nur um die G-7-Staaten. Kanada hat nicht einmal ansatzweise den weltweit größten Energieverbrauch pro Kopf. In Katar haben wir zum Beispiel 21.396 KgÖÄ, auf Island 11.718 KgÖÄ und selbst in Luxemburg 9.409 KgÖÄ. Wir konzentrieren uns hier auf die G7-Staaten, weil sie von ihrer Wirtschaftsstruktur und ihrem Wohlstand vergleichbar sind.)

Nun sind die Kanadier von der Lebensart her ihren südlichen Nachbarn ähnlich – unser besonderer Freund Mark Steyn nennt seine Landsleute spöttisch Americans in denial. Im Winter sind sie allerdings stärker von Dunkelheit und Kälte betroffen. Die Kanadier haben daher einen hohen Stromverbrauch pro Kopf, was man eindrucksvoll sieht, wenn man ihn gegen den UN-Index der Lebensqualität aufträgt [JPG] (Stand: 2004).

In Kanada wird es dafür nicht ernsthaft heiß und die Entfernungen sind nicht ganz so groß, wie sie beim Blick auf die Landkarte wirken: Der Löwenanteil der Bevölkerung lebt dicht gedrängt im Osten an der Grenze zu den USA, was immer so aussieht, als warteten die Kanadier nur darauf, auszuwandern zu dürfen (was im Winter nicht ganz falsch ist). Klein ist Kanada trotzdem nicht. Auch die Kanadier selbst sehen sich in einer Gruppe mit den USA:

Together with the USA, Canada is one of the world’s most energy intensive economies and societies on a per capita basis. In part this is due to our size, climate and the weight of energy-intensive industries (e.g. aluminum, pulp and paper) in our economy.

Ein Vergleich zwischen Kanada und den USA könnte also sinnvoll sein. Wir belassen es bei dieser Feststellung, denn die Einzelheiten sind nicht Thema des Blogs. Auch hier wieder ausdrücklich der Hinweis, dass damit nichts über einen vielleicht übermäßigen Verbrauch gesagt wäre – wer süße kleine Robbenbabys mit Keulen erschlägt, lässt bestimmt auch Nachts im Kühlschrank das Licht an.

Versuchen wir stattdessen mit einem anderen Ansatz, doch die Europäer einzubeziehen. Wir betrachten dabei mal wieder nicht die USA als Ganzes, sondern den Energie- und Stromverbrauch der einzelnen Bundesstaaten.

Vor der Aufgabenteilung im Staatsgefüge passt das auch besser, denn Energiesparprogramme sind Innenpolitik und fallen damit in die Zuständigkeit der Landes- und Kommunalregierungen. Unser Hinweis auf die Präsidentschaftskandidaten war eigentlich unfair: Die Aufgabe des Siegers wird weniger die Umstellung der Verkehrsampeln in Upper Sandusky, Ohio auf LED-Lampen sein als die Frage, wie die USA ihre Abhängigkeit von ausländischen fossilen Energiequellen reduzieren können.

Hilft die geänderte Perspektive? Nur bedingt.

Zwar lassen sich so zum Teil Klima und Entfernung isolieren. Aber nicht alle Bundesstaaten haben die gleiche Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur wie die G-7-Mitglieder. Einen Zwergen-Staat wie Rhode Island mit Deutschland zu vergleichen ist so sinnlos wie Deutschland mit den gesamten USA. Arizona hat viele Klimaanlagen, aber nur wenig klassische Schwerindustrie und über Iowa hatten wir schon gesprochen. Die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten sind auch sonst groß: In Florida heizen 90 Prozent der Haushalte mit Strom, in Utah 89 Prozent mit Erdgas und in Maine 79 Prozent mit Öl.

(Auf Hawaii haben 61 Prozent der Haushalte überhaupt keine Heizung. Dafür darf man sie im Winter ruhig ein wenig hassen.)

Immerhin sehen wir damit, wie groß die Spannen sind. Bei der Energie führt erwartungsgemäß Alaska mit 1.193 Btu pro Kopf, sechs Mal so viel wie Rhode Island als Schlusslicht mit 212 Btu und bei einem landesweiten Durchschnitt von 339 Btu. Beim Strom haben wir Wyoming mit 26.400 Kilowattstunden pro Kopf im Jahr an der Spitze und am Ende steht Kalifornien mit einem Viertel davon, nämlich 6.700 kWh. Letzteres ist nicht nur halb so viel wie die USA als Ganzes (13.000 kWh), sondern der gleiche Wert wie in Deutschland.

(Was machen die Leute in Wyoming mit dem ganzen Strom? Es gibt dort eine große Bergbauindustrie, deren Verbrauch auf gerade einmal einer halben Million Einwohner verteilt wird. Elektrizität ist dort zudem deutlich billiger als in anderen Teilen des Landes, fast halb so teuer wie in Kalifornien.)

Schauen wir uns Kalifornien genauer an. Der Bundesstaat hat die Fläche Schwedens, mehr Einwohner als Kanada und hätte als unabhängiges Land die sechstgrößte Volkswirtschaft. Mit etwas gutem Willen geht das Reich von Gouverneur Arnold Schwarzenegger als G-7-Staat durch. Das Klima ist (für amerikanische Verhältnisse) gemäßigt, zumindest wenn wir kurz so tun, als läge ganz Death Valley in Nevada.

Kalifornien gehört nun zu den Bundesstaaten, die in Sachen Energiepolitik mächtig Druck machen. Nach den Stromengpässen 2001 ergriff die Regierung in Sacramento scharfe Maßnahmen mit Milliardeninvestitionen und Programmen [YouTube] wie „Flex Your Power“.

And Californians flexed, big-time. In short order, they replaced nearly eight million lightbulbs with CFLs in their homes. Cities and towns installed thousands of light-emitting diode (LED) traffic lights, which use less than half as much electricity as the incandescent lamps they replaced. Factories swapped out thousands of old motors for more-efficient new ones.

Auch hier ersparen wir uns die schmutzigen Details des tatsächlichen Vergleichs und halten fest: Kalifornien zeigt, dass die Amerikaner genauso gut wie die anderen Kinder Energie sparen können, wenn das Klima es zulässt und wenn in den Bundesstaaten der politische Wille dazu da ist. Neben Kalifornien wird das insbesondere Vermont, Connecticut und Massachusetts bescheinigt, aber die sind von der Wirtschaftsstruktur nicht g7oid. Wir überlassen die Analyse der übrigen 46 Bundesstaaten dem interessierten Leser als Übung.

Kalifornien dürfte es in diesem Jahr trotz aller Bemühungen schwer haben, das gleiche Niveau wie Deutschland zu halten. Denn zum Valentinstag gab es in San Diego ein seltenes Schauspiel: Schnee.

META Blogpause bis Donnerstag, 20. März 2008

März 12, 2008

Die wirkliche Welt drängt sich wieder vor, und daher muss ich eine Blogpause einlegen bis Donnerstag, dem 20. März 2008. Der nächste Eintrag wird vermutlich von amerikanische Kriegsliedern handeln, die im deutschen Rundfunk als Unterhaltungsmusik gespielt werden.

(Nachtrag 20. März: Es kam dann doch anders …)

Kurz erklärt: Wie man mit Mississippi die Zeit misst

März 10, 2008

Morgen finden die nächsten Vorwahlen statt, in Mississippi. Der Bundesstaat wird benutzt, um Sekunden zu zählen:

one-Mississippi,
two-Mississippi,
three-Mississippi…

Damit kann man zum Beispiel berechnen, wie weit weg der Blitzeinschlag war. Für Meilen muss man übrigens durch fünf teilen, nicht durch drei wie bei Kilometern.

ZEUGS: Militärausgaben, Bush als Hitler und Buffy-Sex in der „New York Times“

März 6, 2008
  • Zu der Marine: Die Suche nach einer guten deutschen Übersetzung für amphibious assault ship geht weiter, leider ohne Erfolg. Der interessierte Leser E weist auf „Kampflandungsschiff“ hin, das tatsächlich in einigen Online-Lexika zu finden ist. Allerdings anscheinend nur dort und nicht in irgendwelchen Berichten, was stutzig macht – dieser Autor wird den Eindruck nicht los, dass hier voneinander abgeschrieben wurde. LT weist auf den Begriff „Baby-Träger“ hin, den er aber auch nicht gelungen findet.
  • Zur Marine und Geld: Bei Diskussionen über die Verteidigungsausgaben gibt es das Argument, dass die absolute Summe wenig zu bedeuten habe, da die USA (wie besprochen) für ein Viertel der Weltwirtschaft verantwortlich sind. Der Dollar-Betrag wirke zwar gigantisch, müsse aber im Verhältnis zur Größe der Volkswirtschaft gesehen werden. Tatsächlich betragen die US-Militärausgaben etwa 4,1 Prozent des BIP, womit die USA auf Platz 28 liegen (Deutschland belegt mit 1,5 Prozent Platz 110, knapp vor Albanien). So betrachtet sind die US-Ausgaben historisch eher niedrig. Spitzenreiter ist Oman mit 11,4 Prozent, Letzter Island mit Null Prozent – das ist niedrig.
  • Zu den Politikerfinanzen: Wie erwartet sind die Einnahmen und Ausgaben Wahlkampfthema, hier zum Beispiel bei Hillary Clinton.
  • Zu Mais: Der interessierte Leser AB weist auf einen Werbespot von Bonduelle hin, in dem 1982 der Maismarsch geblasen wurde. Die Firma schreibt selbst [PDF]:

    Dank Bonduelle entwickelte sich Mais schnell zu einer der populärsten Gemüsesorten der Deutschen – angeführt vom Bonduelle Goldmais, der seit vielen Jahren das umsatzstärkste Einzelprodukt der Warengruppe Gemüsekonserven ist.

    Der Agrarkonzern Monsanto erwartet übrigens, dass sich die Mais-Produktion in den USA bis 2030 verdoppelt. Der Grund: Gentechnik.

  • Zur Meinungsfreiheit: Spam ist nicht durch den First Amendment geschützt, hat jetzt das Oberste Gericht von Virginia entschieden. Ob das ein weiterer Grund ist, warum Europa die USA als weltgrößte Spam-Quelle abgelöst hat?
  • Zur Meinungsfreiheit, nochmal: Dafür darf eine andere Plage des Internets sich in den USA sicher fühlen. Ein Gericht in Kalifornien hat bestätigt, dass nervende anonyme Trolle geschützt sind, auch wenn ihre Aussagen unquestionably offensive and demeaning daherkommen.
  • Zur Meinungsfreiheit und dem fehlenden Recht von Politikern auf Beleidigungsklagen: Dort, wo wir die Bilder des Berkeley-Marsches gefunden haben, bei Zombietime, gibt es auch eine Dokumentation über die Kritik, die sich ein US-Präsident zu Hause gefallen lassen muss: Bush als Hitler, Bush mit Hitler, Bush mit Hitlergruß, Bush mit „Mein Kampf“, Bush mit Hitler-Schnurrbart, Bush mit Hitler-Schnurrbart am Galgen, brennende Bush-Puppen, Bush als psychotic murderer. Die meisten dieser Beispiel sind weiter unten, die oberen sind von Anti-Israel-Demos – Juden als Nazis, die israelische Fahne mit einem Hakenkreuz oder Juden als Organdiebe. Ja, in den USA ist das alles legal. Und dieser Autor möchte nochmal betonen, dass er keine Verantwortung für den Inhalt externer Links übernimmt.
  • Zu Zombietime: Der Betreiber der Site, der sich nur „Zombie“ nennt, wundert sich übrigens inzwischen über den Ansturm von Besuchern aus Deutschland (Kommentar Nummer 6). Da er leider keine E-Mail-Adresse angibt, für ihn die Erklärung:

    Dear Zombie:

    The reason you are getting these hits from Germany is because I am using your pictures to show what is covered by the First Amendment, how the police are structured, and a few other things. This is a blog that tries to explain to Germans how the U.S. works, and your pictures are fantastic examples, because a lot of stuff shown is verboten over here. I’ll be using the Folsom Street Fair series (both parts) in a future entry about public nudity, so there will probably be more hits coming. Thanks for all the work!

    Yours from Germany,
    Scot W. Stevenson

    Wer die Bilder von Folsom jetzt schon suchen will, tut es bitte nicht vor dem 18. Lebensjahr und besser nicht auf der Arbeit.

  • Zum Butt Slap, weil es irgendwie zu Folsom passt: Der interessierte Leser AD weist auf eine Sportler-Werbung mit Shaquille O’Neal hin, bei dem das am Ende der Gag ist. Das kann man sich auf der Arbeit angucken.
  • Zu Meinungsfreiheit und dem FCC: Wir kommen in diesem Eintrag wohl nicht mehr vom Schweinkram weg. Denn die Satire-Journalisten des Onion habe die umstrittene Bußgeld-Politik der US-Funkaufsicht mit einem Video-Bericht aufs Korn genommen. In der Parodie erklärt ein FCC-Sprecher, dass Nacktheit immer obszön ist, außer, es geht um Alyson Hannigan:

    I’m sure any person can see the inherent artistic value in Alyson Hannigan slowly peeling away layer after layer of clothing until her milky-white bosom is in full view, obscured only by a few wisps of her auburn hair.

    In allen anderen Fällen wären „bis zu 500 Millionen Dollar“ Strafe fällig. Wir wollen da nicht widersprechen, denn wir kennen Hannigan natürlich aus Buffy, wo sie die Hexe Willow Rosenberg spielt. Und das bringt uns –

  • Zu Buffy, denn die gute alte „New York Times“ bespricht ausführlich die plötzlichen Veränderungen in Buffys Liebesleben in dem grade erschienen Heft 12 der achten Staffel (aufmerksame Leser werden die Entwicklung erwartet haben). Dabei stellt die „NYT“ das komplette erste Heft [PDF] der Staffel kostenlos zur Verfügung. Wer einen Download von etwas mehr als 100 MByte nicht scheut, kann damit nochmal die Beispiele für den Vornamen durchgehen.

Von der amerikanischen Marine und ihren „amphibischen“ Angriffsschiffen

März 3, 2008

When word of crisis breaks out in Washington, it’s no accident the first question that comes to everyone’s lips is: Where is the nearest carrier?

Ex-Präsident Bill Clinton

Wegen der Spannungen im Libanon hat die US-Regierung vor einigen Tagen das Kriegsschiff USS „Cole“ ins östliche Mittelmeer beordert. Die radikal-islamische Hizbollah ist darüber nicht glücklich. Das wirft die Frage auf, wie sie sich erst fühlen wird, wenn die USS „Nassau“ ankommt: Die „Cole“ ist nur ein Zerstörer, die „Nassau“ dagegen ein amphibious assault ship.

Ein bitte was, werden jetzt einige interessierte Leser fragen.

Die USA sind wie das ehemalige Mutterland Großbritannien eine Seefahrernation. Das kann einige Dinge für Deutsche schwierig machen, denn Germanen sind grundsätzlich Landratten. Teilweise – wie bei der „Nassau“ – fehlen schon die Vokabeln. Allgemein wird die Bedeutung der Marine unterschätzt. Dem wollen wir heute entgegenwirken.

Ausgangspunkt ist eine Merkwürdigkeit. Amerika gibt in absoluten Zahlen mehr für die Verteidigung aus als jedes andere Land. Etwa die Hälfte der weltweiten Militärausgaben entfallen auf die USA.

Gemessen daran ist das amerikanische Heer mit einer halben Million [PDF] Soldaten klein. Chinas Landstreitkräfte umfassen zwei Millionen Soldaten, Nordkoreas mehr als eine Million, Russlands immer noch 400.000 und der viel kleinere Iran stellt 350.000 Soldaten. Für eine Supermacht sind eine halbe Million mickerig.

Die USA können sich das aus dem gleichen Grund leisten wie Großbritannien seine traditionellen Vorbehalte gegen ein stehendes Heer: Die See ist ihre erste Verteidigungslinie. Deswegen lautet die Strategie, den Feind gar nicht erst an Land gelangen zu lassen. Die Engländer setzen das seit Jahrhunderten mit der Royal Navy um, wie es Thomas Augustine Arne, Autor des Liedes Rule Britannia, formulierte:

Britain’s best bulwarks are her wooden walls.

(Die „hölzernen Wände“ gehen auf das Orakel von Delphi und die Seeschlacht von Salamis zurück. Eher dort und nicht bei der Schlacht bei den Thermopylen wurde die westliche Kultur gerettet, egal was Frank Miller bei 300 schreibt.)

Die Marine (und Küstenwache) der USA verfolgen die gleiche Strategie wie die Briten. Mit 330.000 Matrosen, 279 Kriegsschiffen und mehr als 3.700 Kampfflugzeugen – getrennt von der Luftwaffe – ist die United States Navy die mit Abstand größte Seestreitmacht der Welt. Das klingt schon eher nach Supermacht.

Dabei gehen die Amerikaner weiter als nur eine Wand zu errichten. Warum erst warten, bis die Bösen vor der eigenen Küste stehen? Warum nicht den Kampf an deren Küste austragen? Das Schlagwort heißt forward deployment. In einem neuen Strategiepapier [PDF] von Oktober 2007 mit dem Titel A Cooperative Strategy for 21st Century Seapower heißt es:

Maritime forces will defend the homeland by identifying and neutralizing threats as far from our shores as possible.

Bei so etwas denkt man zuerst an Flugzeugträger, und das ist richtig so. Die Überlegenheit der USA bei aircraft carriers ist erdrückend. Trägt man auf einem Schaubild alle Flugzeugträger der Welt zusammen, sieht man, dass die USA selbst bei einer großzügigen Definition des Begriffs zwei Mal so viele Schiffe dieser Klasse haben wie alle anderen Staaten zusammen. Wenn es um die projection of power geht, spielen die elf großen Träger mit ihren jeweils 85 Flugzeugen eine Schlüsselrolle.

Die Flugzeugträger sind nicht allein unterwegs, sondern als carrier strike groups organisiert. Die Begleitschiffe schützen den verwundbaren Träger und führen außerdem Waffen wie Marschflugkörper mit sich. Überlegt man sich nun, wie kurz es dauert, bis eine solche Rakete von (sagen wir mal) dem Persischen Golf bis nach (beispielsweise) Teheran braucht, versteht man, woher so Szenarien wie der berüchtigte „Enthauptungschlag“ herkommen.

(Science-Fiction-Fans ahnen: Dass der Kampfstern „Galactica“ ohne Begleitung auskommen muss, ist ein Zeichen dafür, wie verzweifelt seine Lage ist.)

Jetzt kommt der nächste logische Schritt. Warum vor der Küste des Feindes halt machen? Warum nicht direkt auf seinem Gebiet zuschlagen?

Früher war das schwierig. Wenn man mehr machen wolle als nur bombardieren, lief es etwa so ab: Ein Haufen Draufgänger rennt von Landungsbooten an den Strand und errichtet einen Brückenkopf. Dann schleppt man jede Menge Ausrüstung an Land, der Brückenkopf wird ausgebaut. Von dort werden dann in einer zweiten Phase die Vorstöße ins Umland gestartet.

Optimal war das nie. Den Strand einzunehmen ist bestenfalls aufwändig und teuer und schlechtestenfalls ein Massaker. Danach sitzt man an diesem Punkt fest und hat damit einen großen Teil seiner Beweglichkeit verloren. Vielleicht will man gar nicht lange bleiben. Vielleicht ist einem der ganze Strand schnurz und man will eigentlich etwas im Inneren unternehmen.

Daher haben sich die USA eine andere Taktik einfallen lassen: Der Teil mit dem Brückenkopf wird ausgelassen. Ein Schiff dient als Brückenkopf. Von dort aus kann man Ziele im Landesinneren angreifen, Truppen absetzen oder doch den Strand einnehmen, wenn es unbedingt sein muss. Vor allem bleibt man flexibel. Das Prinzip heißt auf Militärisch operational maneuver from the sea [PDF]. Weil die amerikanischen Streitkräfte eine ans Zwanghafte grenzende Vorliebe für Abkürzungen haben, sprechen sie von OMFTS.

(Das Beispiel im Strategietext der Marines ist bizarr, denn es beschreibt, wie toll Spanien mit OMFTS die USA und Kanada angreifen könnte:

A naval expeditionary force attacking from Spain, for example, would have the ability to fight a campaign on the western side of the Atlantic without having to establish a base at some intermediate point.

Als Angriffsorte werden Richmond, Charleston und New Jersey genannt. Ob das Heimatschutzministerium davon weiß?)

Das bringt uns zurück zur „Nassau“, denn damit kann OMFTS umgesetzt werden. Das Schiff sieht zwar auf den ersten Blick aus wie ein Flugzeugträger. Tatsächlich hat es Hubschrauber und Senkrechtstarter an Bord und ist mit einem eigenen Verband unterwegs als expeditionary strike group. In diesem Fall sind es zwei Schiffe für amphibische Landungen, die USS „Nashville“ und „Ashland“, die Zerstörer USS „Ross“ und „Bulkeley“, der Kreuzer USS „Philippine Sea“ und das Atom-U-Boot USS „Albany“. Aber die „Nassau“ hat auch Platz für Landungsboote und bis zu 1.600 Marineinfanteristen. Sie verfügt über vier Operationssäle und 300 Krankenhausbetten.

Diese Art von Schiff ist vergleichsweise neu – die „Nassau“ lief 1978 vom Stapel. Daher fehlt noch eine gute deutsche Übersetzung für amphibious assault ship.

Am häufigsten scheint „Amphibisches Angriffsschiff“ benutzt zu werden, was aber eigentlich so falsch ist wie die berüchtigten „stehenden Ovationen“: Stehen tun die Zuschauer und nicht die Ovationen, und ein Schiff dieser Größe geht nicht an Land, auf jeden Fall nicht zweimal. Allerdings ist „Schiff für amphibische Angriffe“ unhandlich und „Hubschrauberträger“ irreführend. Während der interessierte Leser sich eine Lösung überlegt, schreibt dieser Autor um das Problem herum.

Die USA haben zehn solcher Schiffe (ein elftes, die „Makin Island“, soll 2008 in Dienst gestellt werden). In den Medien stehlen ihnen die Flugzeugträger die Schau, aber wer etwas aufpasst, sieht, wie viel und vor allem wie vielseitig sie eingesetzt werden.

Denn die, äh, Dingsbums-Schiffe eignen sich besser als Flugzeugträger für nichtmilitärische Einsätze. Nach dem Hurrikan „Katrina“ wurde die USS „Iwo Jima“ den Mississippi hinaufbeordert und diente als Koordinationszentrale. Die USS „Bonhomme Richard“ half Anfang 2005 nach dem Tsunami im Indischen Ozean aus, insbesondere mit ihrer Fähigkeit, 115.000 Liter Trinkwasser am Tag zu produzieren. Die humanitäre Hilfe nach Katastrophen gehört inzwischen ganz offiziell zu den Kernaufgaben der Navy. Wie sie es formuliert [PDF]:

We’ve always done this, but now we’ll plan to do it.

Und was genau macht jetzt der Kampfverband der „Nassau“ im Mittelmeer? Für Sicherheit und Stabilität sorgen, heißt es in der Presseerklärung. Wenn man verinnerlicht hat, dass mit „NAS ESG“ die „Nassau“ Expeditionary Strike Group gemeint ist und „CNE“ für den Commander, U.S. Naval Forces Europe steht, kann man sich an den folgenden Satz wagen:

The NAS ESG will also support the 2008 CNE operational objectives to improve maritime safety and security in Europe and Africa; be prepared for any contingency; provide exceptional stewardship to the regional workforce and their families; advance the art and science of maritime operations; advance awareness of the harmony of partner and U.S. interests and activities; and support U.S. European Command, U.S. Africa Command and other Navy component commanders.

Da haben wir es: harmony. Die „Nassau“ und ihre sechs bis an die Zähne bewaffneten Begleitschiffe sind im Dienst der Harmonie unterwegs. Dagegen kann doch selbst die Hizbollah nichts sagen.