Archive for Dezember, 2008

Krankenversicherungen und blutende Amerikaner vor der Notaufnahme

Dezember 30, 2008

Der zukünftige Präsident Barack Obama hat eine umfassende Reform des Gesundheitssystems zu einem zentralen Ziel seiner Regierung erklärt. Das zeigt, wie richtig unsere Entscheidung war, das Thema erstmal nicht aufzugreifen. Wenn der Kongress die benötigte Summe von mindestens 60 Milliarden Dollar aufgetrieben hat, können wir immer noch einsteigen.

Allerdings wird dieser Autor insbesondere von in den USA lebenden Deutschen ständig, anhaltend und mit Nachdruck aufgefordert, wenigstens ein Vorurteil aus der Welt zu schaffen: Dass amerikanische Krankenhäuser Menschen ohne Versicherung bei Notfällen nicht behandeln. Offenbar müssen sich Exil-Germanen ständig von ihren zu Hause gebliebenen Verwandten und Bekannten anhören, dass Amerikaner reihenweise auf dem Bordstein vor der Notaufnahme verbluten, weil die Ärzte sie ‚rausgeworfen haben.

Diese Vorstellung zeugt von einem erstaunlichen Mangel an Zynismus gegenüber der modernen Mediengesellschaft. Wenn dem tatsächlich so wäre, würden solche Fälle wie Verfolgungsjagden live im Fernsehen übertragen, auf DVDs mit Titeln wie Best Hospital Curb Deaths 2008 verkauft und auf YouTube gesammelt. Es würde (mindestens) eine Reality Show dazu geben, vielleicht direkt vor dieser MTV-Serie über leichtbekleidete bisexuelle Zwillinge auf Liebessuche. In Horror-Shootern spekulativen Computersimulationen wie Left 4 Dead findet man nicht umsonst die größten Zombie-Horden im Krankenhaus selbst und nicht auf der Straße davor. Das wäre ja auch zu einfach.

Also, einmal ganz ausdrücklich: Natürlich werden alle Notfälle im Rahmen des health care safety net behandelt. Konkret wird das durch ein Bundesgesetz geregelt, dem Emergency Medical Treatment and Active Labor Act (EMTALA):

Any patient who „comes to the emergency department“ requesting „examination or treatment for a medical condition“ must be provided with „an appropriate medical screening examination“ to determine if he is suffering from an „emergency medical condition“. If he is, then the hospital is obligated to either provide him with treatment until he is stable or to transfer him to another hospital in conformance with the statute’s directives.

Wir erinnern uns daran, dass die Gesundheit eigentlich Ländersache ist, was wir am Beispiel der Pflichtversicherung in Massachusetts gesehen hatten. Entsprechend gehen die Gesetze in einigen Bundesstaaten noch über EMTALA hinaus.

Tatsächlich ist diese Behandlungspflicht der Krankenhäuser einer der Gründe für die horrenden Kosten des amerikanischen Gesundheitssystems – bekanntlich gibt kein Land mehr Geld pro Kopf auf diesem Sektor aus als die USA. Denn wenn die Patienten in der Notaufnahme nicht zahlen können, müssen die Träger der Krankenhäuser selbst für die Behandlungskosten aufkommen.

Wenn wir schon mal dabei sind, und weil es bei der Diskussion über das neue System eine Rollen spielen wird, hängen wir noch etwas Hintergrund dazu an.

Fast 46 Millionen Menschen in den USA haben keine Krankenversicherung (Deutschland: knapp 200.000). Direkte Vergleiche mit anderen Industriestaaten sind schwierig, denn die meisten von ihnen haben nicht 11,3 Millionen illegal eingewanderte Menschen in ihren Reihen – das entspricht der Gesamtbevölkerung von Kuba. Zudem kann man in amerikanischen Krankenhäusern auch direkt bezahlen. Deswegen beschließen einige Leute, das Risiko auf sich zu nehmen und keine Versicherung abzuschließen, obwohl sie sich eine leisten könnten.

(Massachusetts versucht mit einer Strafsteuer [PDF] von bis zu 912 Dollar, diese Leute zu einer Teilnahme zu bewegen. Wie Obama mit ihnen umgehen wird, ist unklar. Zwar hat er sich im Wahlkampf gegen eine Versicherungspflicht (individual mandate) für Erwachsene ausgesprochen. Sein zukünftiger Gesundheitsminister Tom Daschle hält sie aber für absolut unumgänglich. Auch Hillary Clinton hatte im Vorwahlkampf eine Zwangsteilnahme gefordert und erklärt, ansonsten würden 15 Millionen US-Bürger weiter keine Versicherung abschließen.)

So oder so reden wir von mehreren Millionen Menschen in den USA, die gerne eine Versicherung hätten, sich aber keine leisten können. Sie gehen entsprechend selten zum Arzt und verschleppen damit Krankheiten so lange, bis sie akut werden. Dann bleibt ihnen nur noch die „kostenlose“ Notaufnahme:

[M]any of the uninsured people who arrive in America’s hospital emergency departments are in terrible shape. Emergency physicians say they have delayed needed care, live with more serious medical conditions and are more likely to die before their time than those with health insurance.

Inzwischen gibt es für 55 Prozent der Notfälle keinen finanziellen Ausgleich. Der entsprechende Betrag für diese uncompensated care allein für die kommunalen Krankenhäuser stieg von 6,1 Milliarden Dollar im Jahr 1983 bis 2004 auf 40,7 Milliarden Dollar. Auch die Wartezeiten in der Notaufnahme haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.

Selbst man den humanitären Aspekt völlig ignorieren würde, ist klar, dass diese Leute früher behandelt werden müssen, bevor ihre Krankheiten ein fortgeschrittenes Stadium erreicht haben (a stitch in time saves nine, sagt man dazu auf Englisch). Sonst bricht das System zusammen.

Allerdings gibt es Widerstände gegen einen zu radikalen Umbau. Der Grund dafür ist einfach, wenn auch erfahrungsgemäß in Deutschland wenig bekannt: Die Leute, die versichert sind – die anderen 260 Millionen Amerikaner – sind mit den Leistungen des Gesundheitssystems hochzufrieden [PDF].

Among insured Americans, 82 percent rate their health coverage positively. Among insured people who’ve experienced a serious or chronic illness or injury in their family in the last year, an enormous 92 percent are satisfied with their care, and 87 percent are satisfied with their coverage.

Den größten Unmut gibt es über die Kosten. Entsprechend betonte Obama im Wahlkampf immer wieder die finanzielle Seite, sprach von affordable healthcare, stellte mehr Transparenz und Effizienz in Aussicht und versprach eine Entlastung pro Familie von „typischerweise“ 2,500 Dollar.

Für die kommende Diskussion sollte man daher im Kopf behalten: Auch wenn eine Mehrheit der Amerikaner eine einheitliche, landesweite Krankenversicherung befürwortet, ist das politische Mandat für einen völligen Umbruch nicht wirklich gegeben. Das Ziel dürfte daher eher sein, das System effektiver zu machen und mehr Menschen daran teilhaben zu lassen. Das wird schwierig genug.

META: Frohe Weihnachten und Danke an die Nordamerikanische Flugabwehr

Dezember 24, 2008

Einige interessierten Leser werden schon die Geschenke aufgemacht haben, aber bekanntlich müssen amerikanische Kinder noch warten, und das nicht nur wegen der Zeitzonen. Wie lange noch, das verfolgen Kind Nummer Eins und Zwei wieder gespannt bei Norads Santa-Tracker. Dumm nur, dass es mit der Erdkunde noch nicht so gut klappt …

Ruhige Feiertage!

ZEUGS: Viel Energie und ein Schnee-Engel beim Football

Dezember 23, 2008

Die Heizung im Haus der Ehrenwerten Eltern in Arizona hat Aussetzer. Das ist ein begrenztes Problem, weil das heiße Wasser dort seit Jahrzehnten von einer Solaranlage kommt, draußen 16 Grad bei (was sonst) strahlendem Sonnenschein herrschen und auf dem Ding Garantie ist. Trotzdem nutzen wir die Gelegenheit, um diverse Energie-Themen abzuhandeln.

  • Zum Energieverbrauch: Wir hatten von dem Frust amerikanischer Solarenergie-Befürworter über das Desinteresse ihrer Landsleute gesprochen. Wie riesig das Potenzial wäre, zeigt der Vergleich der Karten der Sonneneinstrahlung für Nordamerika und für Europa. Europa liegt viel nördlicher (oder die USA liegen viel südlicher), als den meisten Menschen klar ist: New York ist etwa auf einer Höhe mit Madrid.
  • Zum Energiemix: Nehmen wir uns eine Solar-Karte nur der USA vor (Seite 4). Die Region im Südwesten der USA, in der Ecke zwischen Kalifornien und Mexiko, wo es Sonne satt gibt, da liegt Arizona. Und was steht dort? Das größte Kernkraftwerk der USA, Palo Verde 2.
  • Zum Energieverbrauch: Diese Karten könnte man bald als Routen-Planer einsetzen. Besitzer des Hybrid-Autos Toyota Prius, dem Lieblingsfahrzeug der amerikanischen Umweltschützer, können nun ein Solardach nachrüsten. Preis 3500 Dollar, zusätzliche Reichweite etwa 13 Kilometer. Die Firma versucht für die Umrüstung eine steuerliche Vergünstigung herauszuschlagen.
  • Zur Mehrwertsteuer: Wir hatten beschrieben, dass die Bundesstaaten ihre Gelder getrennt vom Bund einziehen und selbst ihre Steuern festlegen. New Mexico (östlich von Arizona) hat diese Hoheit genutzt, um die Mehrwertsteuer auf Solaranlagen ganz abzuschaffen (oder, realistisch gesehen, vorerst auszusetzen). Online-Läden wie Affordable Solar müssen daher je nach Bundesstaat andere Rechnungen ausstellen.
  • Zum Staatsaufbau: Zusätzlich haben die Kommunen eigene Programme aufgelegt. Da natürlich niemand mehr durchsteigt, gibt es die Online-Datenbank DSIRE. Dort kann man zum Beispiel sehen, wie die Stadt San Francisco, der Bundesstaat Kalifornien und der Bund jeweils alternative Energien fördern. Ob die Leute das auch nutzen, ist wie überall eine andere Frage.
  • Zu Über: Das britische Magazin The Economist berichtete letztens von einer überraschenden Studie, die ausgerechnet Los Angeles die beste CO2-Bilanz pro Kopf auf dem US-Festland bescheinigt. Die Reihenfolge wird so angegeben (Hervorhebung hinzugefügt):

    Top of their green list is Honolulu, in Hawaii, whose residents accounted for 1.36 tons of carbon each in 2005. Los Angeles, at 1.41 tons per person, narrowly beats Portland, Oregon, which is widely proclaimed as an über-green city.

    An vierter Stelle steht demnach New York.

  • Zu New York: Wir hatten scherzhaft gesagt, dass Upper Sandusky, Ohio auf LED-Lampen umstellt. Tatsächlich stellt New York um. Die neuen Lampen sollen zwei Mal so lange halten und 30 Prozent weniger Energie verbrauchen. Dieser Autor weigert sich zu erklären, warum die Stadt in dem Wired-Artikel „Gotham“ genannt wird – das fällt unter Allgemeinbildung.
  • Zu Umzügen: Amerikaner ziehen einer neuen Studie zufolge immer weniger um:

    The monthly Current Population Survey found that fewer than 12 percent of Americans moved since 2007, a decline of nearly a full percentage point compared with the year before. In the 1950s and ’60s, the number of movers hovered near 20 percent.

    Unter anderem soll das daran liegen, dass die Bevölkerung im Durchschnitt älter geworden ist und öfter beide Partner einen Job haben. Warum ist das wichtig? Wenn die Leute länger an einem Ort wohnen bleiben, können sich Dinge wie PV-Solaranlagen eher amortisieren. Selbst in Arizona würde das im Moment noch 22,9 Jahre dauern [Spreadsheet].

  • Zu Codes im Zweiten Weltkrieg, um wenigstens ein anderes Thema zu berühren: Google hat das Foto-Archive von Life ins Internet gestellt, und neugierige Blogger haben Bilder von Codebrechern bei der Arbeit gefunden. Einige sind allerdings offenbar gestellt. Das Archiv enthält auch Bilder der Zerstörung aus dem Bürgerkrieg oder aus Deutschland.
  • Zum Zweiten Weltkrieg, mehr Bilder: Das US-Nationalarchiv hat einen ganzen Schwung von Dokumenten online gestellt.
  • Zu American Football, um zum Ende wieder zu Arizona und dem Wetter zurückzukommen: Bekanntlich gibt es beim Football keine „Winterpause“, weil echte Männer ihre Sieges-Schnee-Engel [Video] auch in kurzen Ärmeln machen (der interessierte Leser HM schickte übrigens einen Rugby-Spot ein, der die Fußball-Mentalität verdeutlichen soll [YouTube]). Dumm nur, wenn die echten Männer aus Arizona kommen und es irgendwie geschafft haben, seit 25 Jahren nicht mehr auf Schnee zu spielen und (unter anderem) deswegen von den Neuengländern 47-7 brutal abgezogen werden. Die sollen mal im Sommer vorbeikommen …

Sheeple, das Volk der Schafe

Dezember 18, 2008

In den USA kommt endlich Joss Whedons Dr. Horrible’s Sing-Along Blog auf DVD heraus. Wir erinnern uns: Das ist das hochgelobte Internet-Musical, das der Buffy-Schöpfer während des Autoren-Streiks aus der eigenen Tasche produzierte. Lange Zeit gab es unter Fans einen Streit um eine Textzeile:

Look at these people — amazing how sheep’ll
Show up for the slaughter

Statt sheep’ll – von sheep will – hatten vor der Veröffentlichung der offiziellen Liedertexte viele Leute sheeple gehört.

Das ist eine Kombination aus sheep und people und bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die wie Schafe kritiklos und ohne nachzudenken der Obrigkeit folgen. Eine Singular-Form gibt es nicht. Der Begriff soll zuerst in den 50er Jahren benutzt worden sein. Wir finden ihn aktueller in Artikeln wie A Nation of Sheeple, wo darüber gesprochen wird, wie kritiklos Fluggäste die Sicherheitsprüfungen am Flughafen über sich ergehen lassen:

Americans sheepishly accepted all sorts of Transportation Security Administration nonsense. In the name of security, we’ve allowed fingernail clippers, eyeglass screwdrivers and toy soldiers to be taken from us prior to boarding a plane.

Auch Barack Obamas Sieg führten einige Leute schon während der Präsidentschaftswahl auf eine Herdenmentalität der Masse zurück:

People tend to support a winner, go with the flow, become „sheeple.“ The polls are roughly 3-5 points in favor of Barack. That’s due to our inflation of the polls and pulling in the sheeple.

Harte Worte. Da aber jetzt Dr. Horrible und die Evil League of Evil die Macht übernommen haben, ist das alles irrelevant – Bwahahahaha!

Amerikaner und (fehlende) Notfallausrüstungen

Dezember 15, 2008

Neuengland ist nach einem Sturm unter Eis begraben und mindestens 800.000 Amerikaner sind ohne Strom. Die Behörden warnen, dass es zwei Tage dauern könnte, bis alle Straßen für die Reparaturmannschaften freigeräumt sind. Bis dahin sind die Leute, besonders in den etwas abgelegenen Gebieten, ziemlich auf sich selbst gestellt.

Wir hatten in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass schon das normale Klima in den USA aus mitteleuropäischer Sicht extrem sein kann. Darüber hinaus gibt es als Sonderbonus gerne mal Tornados, Erdbeben, flächendeckende Waldbrände oder tagelange Blizzards. Andere Liebesbekundungen von Mutter Natur wie Bisse von Giftschlangen (fast 8.000 Fälle pro Jahr) und Angriffe von Bären oder Berglöwen ignorieren wir erstmal. Was immer auch passiert, im drittgrößten Land der Erde ist man danach oft weiter weg von den Helfern als im dicht besiedelten Europa.

Entsprechend rufen die amerikanische Behörden unerlässlich alle Bürger dazu auf, sich eine Notfallausrüstung zuzulegen.

Das geht durch alle Ebenen. Get a kit (wahlweise Prepara un equipo) drängt das Heimatschutzministerium als Teil seines Programms Ready America. In Bundesstaaten wie Arizona heißt das Gegenstück Just in Case und auch hier soll man sich ein Päckchen schnüren. Auf der Landkreis-Ebene mahnt der Katastrophenschutz von Maricopa County:

Keep enough supplies in your home to survive on your own for up to 10 days and check your kit every three months.

Zehn Tage alleine durchzukommen, das bedeutet erstmal Wasser. Bei einer Gallone pro Tag und Person – die allgemein empfohlene Menge – müsste die vierköpfige Familie Stevenson dazu etwa 150 Liter Trinkwasser auf Lager haben. Die amerikanischen Seuchenzentren des CDC (bekannt aus Pandemie-Filmen) schlagen dagegen einen Wasservorrat für fünf Tage vor. Die Colorado State University spricht von drei Tagen, erklärt aber dafür ausführlich, wie man aus anderen Quellen im Notfall Trinkbares gewinnt. Es regnet halt mehr in Colorado als in Arizona.

Dass mehr dahinter steckt als Regierungsgehampel nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sieht man am Roten Kreuz. Auf der Website der American Red Cross wird eine Fülle von Notfallausrüstungen angeboten. Neben einem Rucksack für drei Tage gibt es auch Safety Tubes für die Handtasche. Am besten findet dieser Autor den Water Bob, der die Badewanne in einen Notfall-Tank mit einem Fassungsvermögen von bis zu 380 Litern verwandelt.

Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass wir nur von der Aufforderung geschrieben haben, sich eine Ausrüstung zuzulegen, und nicht, dass die Amerikaner es tatsächlich tun. Studien zufolge haben nur vier Prozent der US-Bürger alle Empfehlungen umgesetzt, 23 Prozent dagegen gar keine. Der landesweite „Readiness Quotient“ (RQ), den jeder für sich selbst online ausrechnen kann, lag 2007 bei 4,1 Punkten. Wünschenswert wären 10.

Ein Problem ist das Image. Sich zu viele Gedanken über den persönlichen Katastrophenschutz zu machen, rückt einen schnell in eine Ecke mit den Leuten, die Atombunker im Garten bauen, wegen des Y2K-Bugs Hamsterkäufe unternahmen oder angesichts von Peak Oil das Ende unserer Zivilisation erwarten. Muss man sich wirklich einen Vorrat an Lebensmitteln zulegen, die 25 Jahre halten?

Das Desinteresse kennen wir auch aus Deutschland, wo ein Gutachten des Bundestages erhebliche Lücken bei der Vorsorge fand. Und das, obwohl der tagelange Stromausfall im Münsterland vor drei Jahren so dramatische Folgen hatte.

Das Massaker von Bombay und US-Waffengesetze

Dezember 13, 2008

Among the many misdeeds of the British rule in India, history will look upon the act of depriving a whole nation of arms as the blackest.

Mahatma Gandhi

Wer nach den Anschlägen in Bombay amerikanische Blogs verfolgt hat, wird wiederholt auf eine Diskussion gestoßen sein: Hätten die Islamisten genauso ein Massaker anrichten können, wenn wenigstens einige Inder bewaffnet gewesen wären? Der Juraprofessor Glenn Reynolds sammelt Links dazu und spekuliert, dass es zumindest schwieriger gewesen wäre:

Would they take hostages? It would probably be a lot harder. Would that prevent raids like this? Maybe not, but if you’re just out to kill people and not take hostages, why not just use a car-bomb? Plus, when your „victims“ are shooting back at you and killing you, they’re not really victims any more, are they? Kinda undercuts the whole terrorism game.

Andere Leute sind direkter [YouTube] und erklären, Indiens strenge Gesetze hätten das Massaker in dieser Form überhaupt erst möglich gemacht.

Das Argument der „wehrhaften Zivilbevölkerung“ gehört zu den Wichtigsten der Befürworter von liberalen Waffengesetzen in den USA. Wenn der normale, gute, anständige Bürger bewaffnet ist, so die Logik, kann er Terroristen sofort Widerstand leisten, Verbrechen schnell unterbinden und böse Leute abschrecken.

(Wir sind kurz auf die Waffengesetze in den USA eingegangen, aber weil es noch keinen zentralen Eintrag dazu gibt, hier das Wichtigste: Wie so vieles andere auch entscheiden die Bundesstaaten und Kommunen, wer eine Schusswaffe tragen darf. Der Eintrag dazu in der Wikipedia ist entsprechend ein großer Spaß. Die Argumente gegen den Privatbesitz von Waffen sind in Deutschland gut bekannt und im Recht verankert. Wir setzten sie daher aus Platzgründen als bekannt voraus, auch unter der Gefahr, dass dieser Eintrag einseitig wirkt.)

Reynolds fasste das Argument im Bezug auf Amokläufe 2007 mit dem Spruch zusammen People don’t stop killers, people with guns do:

Police can’t be everywhere, and […] by the time they show up at a mass shooting, it’s usually too late. On the other hand, one group of people is, by definition, always on the scene: the victims. Only if they’re armed, they may wind up not being victims at all.

Da es nun in den USA zumindest im Vergleich mit Indien jede Menge Bürger mit Waffen gibt, stellt sich sofort die Frage, ob es wirklich solche Fälle gibt.

Kurz gesagt, ja. Die Presse liebt inbesondere wehrhafte alte Damen. Da wäre vor einigen Wochen die 85-jährige Leda Smith, die am Sonntag – natürlich – von der Kirche nach Hause kam und einen Einbrecher überraschte, den sie mit ihrem Revolver in Schach hielt, bis die Polizei kam. Im vergangenen Jahr wurde die damals 82-jährige Venus Ramey, Miss America 1944, zu einer Art Medienstar, als sie trotz ihrer Gehbehinderung einem Eindringling auf ihrer Farm die Reifen zerschoss:

She had to balance on her walker as she pulled out a snub-nosed .38-caliber handgun.

Hier gilt offensichtlich eine Variante von Terry Pratchetts Rule One.

Die Befürworter von liberaleren Gesetzen sammeln solche Beispiele. Sie argumentieren, dass die Bevölkerung und erst recht die Politiker die Häufigkeit dieser Fälle von Selbstverteidigung systematisch unterschätzen. Während „erfolgreiche“ Massaker in die weltweiten Medien gelangten, würden „gestoppte“ bestenfalls in der Lokalpresse aufgenommen und dann auch nur verfälscht – außer natürlich, es war eine Oma beteiligt.

Als Paradebeispiel gilt aus ihrer Sicht die Berichterstattung über das Massaker an der Virginia Tech 2007, das sie mit der Schießerei an der nahe gelegenen Appalachian School of Law fünf Jahre zuvor vergleichen. Im ersten Fall habe niemand den Amokläufer aufhalten können, weil die Universität eine gun-free zone gewesen sei. Im zweiten Fall hätten dagegen zwei Studenten ihre Waffen aus ihren Autos geholt und Schlimmeres verhindert. Genau das hätten jedoch die Medien vertuscht. Sie hätten nur geschrieben, der Schütze sei „überwältigt“ worden, ohne die Mittel zu nennen.

(Es dürfte nicht überraschen, dass die Befürworter von liberaleren Gesetzen die „waffenfreien Zonen“ für eine Einladung an Massenmörder halten, nach Belieben wehrlose Bürger niederzumetzeln. Wie der Musiker Ted Nugent es zusammenfasst:

Gun-free zones, huh? Try this on for size: Columbine gun-free zone, New York City pizza shop gun-free zone, Luby’s Cafeteria gun-free zone, Amish school in Pennsylvania gun-free zone and now Virginia Tech gun-free zone.

Entsprechend entstanden im ganzen Land nach dem Virginia-Tech-Massaker Studentengruppen, die an ihren Unis das Recht zum tragen einer Waffe einfordern.)

Die Befürworter von strengeren Gesetzen bestreiten nicht, dass es Fälle gibt, wo bewaffnete Bürger Einbrecher stoppen oder Massaker verhindern. Für sie ist der Preis dafür zu hoch, zum Beispiel die Zahl der Unfälle mit Schusswaffen:

Of 626 shootings in or around a residence in three U.S. cities revealed that, for every time a gun in the home was used in a self-defense or legally justifiable shooting, there were four unintentional shootings

(Beide Seiten werfen sich verschiedene Studien an den Kopf – einschließlich einer berühmten, die besagt, dass viele der Erhebungen überhaupt keine Aussagekraft in die eine oder andere Richtung haben. Die beiden Lager können sich höchstens auf sehr allgemeine Aussagen einigen, wie die dass die Mordrate in den USA stetig zurückgeht. Natürlich wird auch beißender Spott eingesetzt.)

Wir können die Diskussion an dieser Stelle verlassen, denn ein Konsens ist nicht in Sicht. Stattdessen schauen wir uns ein ähnliches Argument an, wenn wir schon mal beim Thema sind: Die Schusswaffe als Selbstschutz für die körperlich Schwachen.

Gehen wir zurück zu unseren rüstigen 80-jährigen Damen. Die Befürworter von liberalen Gesetzen argumentieren, dass die grannies with guns ohne ihre Waffen ihren Angreifern hilflos ausgeliefert gewesen wären. Gleichzeitig geht die Zahl der von Rentnerinnen dieses Alters verübten Massaker und Morde ziemlich gegen Null. Warum sollten sie ihre Pistolen abgeben?

Was bei Omas noch irgendwie lustig klingen mag, wird zum Politikum, wenn man es auf alle Frauen ausdehnt. Waffenrechte sind in den USA im Gegensatz zu Deutschland für Feministinnen ein Thema:

[G]uns are the only weapon that equalizes strength between attacker and attacked. It’s the only time when men’s greater speed, strength, and longer reach make no difference; if you pull the trigger first, you win. This is an enormous social advance.

Die Waffenlobby NRA hat eigene Programme für Frauen und Organisationen wie die Second Amendment Sisters werben mit Sprüchen wie [JPG]:

Give up my rifle? Never! I am blonde, not stupid.

Tatsächlich nimmt die Zahl der Frauen mit Schusswaffen in den USA immer mehr zu und dürfte inzwischen die 17 Millionen erreicht haben. Das wären grob zehn Prozent der Amerikanerinnen. Politisch ist es schwieriger zu verlangen, dass diese Frauen ihre Waffen abgeben sollen, denn schwere Gewaltverbrechen werden überwiegend von Männern verübt. Die Gegenseite argumentiert, dass es auch Pfefferspray oder ein Elektroschocker tun würde.

Ob jetzt in Indien eine neue Diskussion über Waffengesetze aufgekommen ist, vermag dieser Autor nicht einzuschätzen. Es gab vor dem Massaker zumindest einzelne Forderungen nach einer Lockerung. Parallelen zu der Situation in den USA sind trotz der gemeinsamen britischen Wurzeln ohnehin schwierig, denn die strengen indischen Gesetze stammen aus der Kolonialzeit. Daher auch das Gandhi-Zitat am Anfang des Textes. Nicht jeder interessierte Leser dürfte es kennen, aber unter amerikanischen Waffenbesitzern hat es einige Verbreitung gefunden.

Die Struktur der Ligen und der Saisonverlauf beim American Football

Dezember 9, 2008

Wir weichen von unserem angekündigten Programm ab, um ein wahrhaft historisches Ereignis zu vermelden: Die Arizona Cardinals haben zum ersten Mal seit 33 Jahren die Divisionsmeisterschaft gewonnen. Als Sieger in der NFC West werden sie nach 1947 auch endlich wieder Gastgeber eines playoff-Spiels sein. Dieser Autor vertraut darauf, dass die interessierten Leser bis heute durchgefeiert haben.

Das ist eine gute Gelegenheit, die Struktur der Ligen beim American Football zu erklären. Der Aufbau beim Fußball in Deutschland ist bekanntlich primitiv unkompliziert und daher kann es schwierig sein zu verstehen, wie der Weg zum Superbowl (übrigens am 1. Februar 2009) aussieht.

Am einfachsten ist das System zu verstehen, wenn man sich zwei Dinge klar macht: Erstens, die USA sind schweinegroß, weswegen man die Wege in der regulären Saison begrenzen will. Zweitens, früher gab es zwei konkurrierende Ligen, die in ruinöser Konkurrenz um die besten College-Spieler standen. Die heutige National Football League (NFL) entstand 1970 aus ihrer Fusion.

Deswegen ist die NFL immer noch in zwei conferences aufgeteilt, die National Football Conference (NFC) und die American Football Conference (AFC). Beide decken das ganze Land [Karte] ab. Die Cardinals, um bei dem einzigen relevanten Beispiel zu bleiben, gehören zur NFC.

In der nächsten Stufe werden diese beiden Unterligen in je vier geographische divisions aufgeteilt, die nach den Himmelsrichtungen benannt sind. Besonders im Westen des Landes werden dabei große Gebiete abgedeckt: In der Heimat-Division der Cardinals, der NFC West, sind neben Arizona die San Francisco 49ers, die St. Louis Rams und die Seattle Seahawks zusammengefasst. Von Seattle nach St. Louis sind es 2775 Kilometer, mehr als von Paris nach Moskau.

(Football nimmt unter den nordamerikanischen Sportarten eine Sonderstellung ein, denn im Gegensatz zu Baseball, Basketball, Eishockey und Fußball spielen keine kanadischen Teams mit. Das liegt daran, dass die Regeln des Canadian Football etwas anders sind.)

An dem Beispiel sehen wir, dass in jeder Division vier Mannschaften spielen. Damit kommt man insgesamt auf 32 Teams. Nicht nur die Zahl ist festgelegt, sondern auch die Zugehörigkeit zur NFL: Aufstieg und Abstieg gibt es nicht. Durch Verfahren, die wir erstmal überspringen, wird versucht, die Mannschaften immer etwa gleich stark zu halten. So etwas wie den Dauer-Sieger Bayern München soll es nicht geben, denn das wäre langweilig.

Das ist der Aufbau der Liga. Jetzt kommt der Ablauf der Saison.

Die regular season fängt am Wochenende nach Labor Day an, dem ersten Montag im September. Jede Mannschaft absolviert 16 Spiele:

  1. Sechs Spiele: Zwei Mal gegen jede andere der drei Mannschaften in der eigenen Division, einmal zu Hause und einmal auswärts.
  2. Vier Spiele: Gegen jede Mannschaft aus einer anderen Division aus der eigenen Konferenz, zwei davon auswärts und zwei zu Hause. Jedes Jahr wird gegen die Mannschaften einer anderen Division gespielt, was einen Drei-Jahres-Zyklus ergibt.
  3. Vier Spiele: Gegen jede Mannschaft aus einer anderen Division aus der anderen Konferenz, zwei davon auswärts und zwei zu Hause. Jedes Jahr wird gegen die Mannschaften aus einer anderen Division gespielt, was einen Vier-Jahres-Zyklus ergibt.
  4. Zwei Spiele: Gegen die Mannschaften in der eigenen Konferenz, die in anderen Divisionen auf dem gleichen Tabellenplatz abgeschlossen haben. Ausgenommen ist die Division aus Punkt 2, gegen die man ohnehin schon gespielt hat. Ein Spiel findet auswärts, eins zu Hause statt.

Klarer wird das Ganze durch einen Blick auf eine Tabelle [PNG], die unverständlicherweise die Cleveland Browns aus der AFC North als Beispiel benutzt. Das Verfahren stellt sicher, dass jede Mannschaft mindestens alle vier Jahre gegen jede andere in den USA spielt. Gleichzeitig wird dafür gesorgt, dass geographisch näher gelegene Mannschaften häufiger gegeneinander spielen. Örtliche Rivalitäten müssen gepflegt werden, wie jeder in auf Schalke und in Dortmund wissen wird.

Gegenwärtig wird diskutiert, nach 2009 die Zahl der Spiele jeder Mannschaft auf 18 zu erhöhen. Zudem wird überlegt, aus missionarischen Gründen mehr Spiele im Ausland auszutragen. Damit hat die NFL Erfolg: Im Oktober 2008 kamen 82.000 Fans zu einem Spiel der New Orleans Saints gegen die San Diego Chargers im Wembley Stadium in London, ein Ort, den auch Deutsche kennen.

(Der britische Rasen genügte allerdings nicht den Standards der NLF, wie der Trainer von New Orleans, Sean Payton, erklärte:

The footing was bad, the field was slick and choppy […]. After our run-through on Saturday we knew it would be a sloppy field regardless of whether it rained.

Dazu sollte man vielleicht wissen, dass New Orleans das Spiel gewann.)

Am Ende der regulären Saison stehen die playoffs. Jede Konferenz veranstaltet dabei ein eigenes Mini-Ausscheidungsturnier [PNG] mit ihren vier Divisions-Siegern und zwei wild card-Mannschaften. Das sind die beiden Teams, die nach dem Abzug der vier Sieger in der Konferenz das beste Ergebnis hatten.

Äh, wird der interessierte Leser jetzt sagen. Ein Ausscheidungs-Tournier mit sechs Mannschaften? Wie geht das denn?

Die nach Punkten besten zwei Mannschaften unter den vier Siegern machen zuerst Pause, während die Nummern Drei und Vier gegen die zwei Wild-Card-Mannschaften spielen. Nach dieser Wild Card Round folgt die Divisional Round mit den dann vier Mannschaften. Aus ihnen gehen die Finalisten für die Meisterschaften der Konferenzen hervor.

Die Sieger der AFC und NFC treten schließlich zu dem letzten und größten Duell gegeneinander an – dem berühmten Superbowl.

Für die Cardinals ist der Weg also noch weit. Dass sie als älteste Profi-Mannschaft der Liga noch nie im Superbowl gestanden haben, kann dabei den wahren Fan nicht schocken. Schließlich wurde das Team 1899 gegründet, im selben Jahr wie eine gewisse Mannschaft aus Hoffenheim.

[Korrigiert 1. Feb 2009: New Orleans gewann das Spiel, statt es zu verlieren. Zuerst gesehen von AD, vielen Dank]

META: Blogpause bis zum 9. Dez 2008

Dezember 2, 2008

Da es in den vergangenen Tagen etwas aufregend zu Hause war und die echte Welt Anforderungen stellt, legen wir eine einwöchige Blogpause bis


Dienstag, dem 9. Dezember 2008

ein (das ist leicht zu merken, denn am nächsten Tag kommt Buffy-Heft #20 heraus). Der Eintrag wird der sein, der ursprünglich für heute geplant war, über die Anschläge von Bombay und dem US-Waffenrecht.

META: USAE für den Goldenen Prometheus nominiert

Dezember 1, 2008

Kaum ist Advent, kommt schon eine frohe Kunde: Ich bin für den Goldenen Prometheus nominiert worden, in der Kategorie „Onlinejournalist“. Vielen Dank!