Barack Obama und die Brücke von Selma

Juni 4, 2008

Barack Obama hat gestern genug Delegierte zusammengetragen, um nach menschlichem Ermessen Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden. In seiner Siegesrede machte er eine Reihe von Anspielungen auf die amerikanische Geschichte, von denen die meisten bekannt oder wie die Greatest Generation aus dem Zusammenhang klar sein dürften. Eine Stelle sollten wir aber erklären (Hervorhebung hinzugefügt):

So it was for the workers who stood out on the picket lines; the women who shattered glass ceilings; the children who braved a Selma bridge for freedom’s cause.

Selma ist eine Stadt in Alabama, die während der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre eine zentrale Rolle [Fotos] spielte. Landes- und Kommunalgesetze schafften dort eine strenge Rassentrennung, die brutal durchgesetzt wurde. Insbesondere wurde den Schwarzen die Möglichkeit zur Wahl genommen. Für die civil rights movement war Selma ein Paradeexemplar für den Rassismus der Südstaaten.

Am Sonntag, den 7. März 1965, brachen etwa 600 Menschen unter der Führung des Bürgerrechtlers John Lewis (heute Abgeordneter im Repräsentantenhaus) von Selma in die Landeshauptstadt Montgomery auf, eine Strecke von etwa 87 Kilometern. Auslöser war der Tod eines Schwarzen, den ein state trooper bei einer Demonstration erschossen hatte. Gouverneur George Wallace erklärte den Marsch zu einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Die Landespolizei und die Beamten des Sheriffs von Dallas County fingen die Demonstranten bei der Edmund-Pettus-Brücke ab.

Dieser erste Marsch wurde niedergeknüppelt [YouTube]. Die Polizei setzte Schlagstöcke, Pferde, Tränengas und Peitschen ein. Die Bürgerrechtlerin Amelia Boynton Robinson starb fast; Lewis trägt bis heute die Narben seiner Kopfverletzungen. Allerdings: Die Gewalt fand vor laufenden Fernsehkameras statt. Die entsetzte Öffentlichkeit gab dem Tag den Namen Bloody Sunday (weswegen Amerikaner mit dem Ausdruck etwas anderes verbinden als die Iren).

Sofort danach organisierte der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. einen zweiten Marsch. Die Demonstranten versuchten diesmal, per Gericht die Polizei am Eingreifen zu hindern. Der Bundesbezirksrichter Frank M. Johnson – der mit Wallace studiert hatte – erließ stattdessen eine einstweilige Verfügung, bis er sich ein Bild von der Lage machen konnte. King führte am 9. März trotzdem 2.500 Menschen von Selma zur Brücke, hielt dort eine kurze Predigt und kehrte um. Das Verbot galt schließlich nur für einen Marsch nach Montgomery.

Die Gewalt löst auch in Washington Empörung aus. Das geht den Bund nichts an, sagte Alabama trotzig. Präsident Lyndon B. Johnson erwiderte vor den Kongress:

There is no issue of States rights or national rights. There is only the struggle for human rights. We have already waited a hundred years and more, and the time for waiting is gone.

Der dritte Marsch fand am Ende des Monats statt. Richter Johnson hatte inzwischen den Antrag der Demonstranten stattgegeben. Er berief sich dabei auf den First Amendment, der das Recht des Bürgers festschreibt, seine Beschwerden der Regierung vorzutragen.

Es regnete in Strömen. Die am Ende 25.000 Demonstranten wurden diesmal von der Nationalgarde von Alabama geschützt, über die der Präsident das Kommando übernommen hatte. Auch Kinder [Fotos] waren dabei, auf die Obama anspielt (man beachte, wie bereits besprochen, die vielen US-Fahnen).

Moment, wird der aufmerksame interessierte Leser jetzt sagen. Die Nationalgarde? Die darf im Inland doch überhaupt nicht Polizeiaufgaben unter dem Befehl des Präsidenten annehmen! Nein, darf sie auch nicht. Hat sie trotzdem gemacht. Über diesen Teil der Geschichte kann man sehr lange nachdenken.

(Und bevor dieser Autor wieder E-Mails bekommt: Ja, der Kongress erließ 2006 ein Gesetz, das den Einsatz der Nationalgarde im Inland gegen den Willen der Gouverneure erlaubte. Das führte zu der Verschwörungstheorie eines bevorstehenden Militärputsches von George W. Bush mit dem Ziel, den Faschismus einzuführen (oder so). Der Kongress hat inzwischen alles wieder rückgängig gemacht (einfacher zu lesen bei der Wikipedia oder als Nachricht). Bush selbst stellte mit seiner Unterschrift die Rechtslage von 1807 wieder her.)

Nach fünf Tagen, am 25. März 1965, kam der Zug der Demonstranten in Montgomery an. King hielt seine Rede „Our God is Marching On“:

[W]e are on the move and no wave of racism can stop us. […] Like an idea whose time has come, not even the marching of mighty armies can halt us. We are moving to the land of freedom. Let us therefore continue our triumphant march to the realization of the American Dream.

Einige Monate später änderte der Bund das Wahlrecht, was wegen des 14. Verfassungszusatzes auch für Alabama bindend war.

Die Märsche waren nicht nur an sich ein zentraler Sieg für die Bürgerrechtsbewegung, sondern zeichnen symbolisch, wenn man so will, ihren ganzen Ablauf nach: Von einer kleinen Gruppe von Tapferen hin zu einer Massenbewegung.

Es überrascht daher nicht, dass Obama als erster schwarzer Präsidentschaftskandidat darauf anspielt. Mehr noch, er hielt selbst 2007 in Selma eine Rede vor einigen der Veteranen des Marsches und erklärte:

I’m here because somebody marched. I’m here because you all sacrificed for me. I stand on the shoulders of giants.

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