Archive for Mai, 2009

Tortillas und Analsex: Eine kulturbezogene Einführung in Pflanzenfett

Mai 29, 2009

Der interessierte Leser wird inzwischen mitbekommen haben, dass die Familie Stevenson eine eigene Nahrungskette hat: Die Schönste Germanin, eine begnadete Köchin, produziert erlesene Speisen, die dieser Autor, ein fleißiger Esser, dann konsumiert. Das ganze System ist wunderbar stabil.

Allerdings kommt es gelegentlich zu Ausreißern im Sinne von „wie, du wolltest selbst noch ein Stück Kuchen“, oder aber wenn es dieser Autor sich eines Abends in den Kopf setzt, dass man doch selbst Tortillas machen können müsste. Wie schwer kann das sein? Schließlich gibt es das Internet [YouTube, Rezept]!

Dazu muss man zunächst zwischen flour tortillas und corn tortillas unterscheiden. Wir erinnern uns, dass corn in den USA „Mais“ heißt. Mais-Tortillas, so der erste Gedanke, sind viel authentischer, und Mais-Mehl gibt es auch in Deutschland, wenn auch zu horrenden Preisen.

Allerdings stellt sich schnell heraus, dass man Mais-Mehl der nixtamalization unterziehen muss, weil sonst die Nährstoffe nur teilweise zugänglich sind. Der Vorgang wurde von den Azteken entdeckt, benötigt aber trotzdem überraschenderweise nicht literweise Menschenblut, sondern die Lauge Kalziumhydroxid. Als Mais nach Europa und Afrika gebracht wurde, wurde das Verfahren nicht mitgeliefert – was wissen schon die blöden Wilden? – und so kam es zu Mangelernährung.

Gut, Mais-Tortillas sind vielleicht nicht ganz so trivial. Man kann in Nordamerika bereits behandeltes Maismehl kaufen, die masa harina. Aber das ist in Deutschland vermutlich völlig unbezahlbar und auch irgendwie geschummelt.

Beim Weizenmehl sieht es besser aus:

3 cups unbleached flour
2 tsp. baking powder
1 tsp. salt
4-6 Tbsp. vegetable shortening or lard
about 1 1/4 cups warm water

(Es gibt auch kleinere Portionen mit einem etwas anderem Rezept; insbesondere wird weniger baking powder benutzt.)

Das Problem mit den Maßeinheiten und dem baking powder haben wir in unserem Eintrag über Chocolate Chip Cookies behandelt. Aber was ist denn vegetable shortening?

Ah, erklärt die Schönste Germanin, das ist ein pflanzliches Fett aus Ölen der Sojabohne und der Baumwoll-Samen, das es so in deutschen Haushalten nicht gibt. Die Ehrenwerte Mutter – also, die Ehrenwerte Schwiegermutter – habe als Ersatz Palmin empfohlen, was Kokosfett ist. Laut Wikipedia ist shortening „ungehärtetes Pflanzenfett“ und in Österreich als FriVissa im Handel. Der bekannteste Markenname in den USA ist Crisco, das es seit 1911 gibt.

Wenn sich jetzt der interessierte Leser, insbesondere der heterosexuelle Leser, fragt, woher plötzlich das alberne Gekichere kommt: Crisco hat in den USA einen Ruf als Gleitmittel. Nein, wir reden nicht von Rodelbahnen. In den 70er Jahren verdrängte es Vaseline in der homosexuellen Subkultur:

In fact, Crisco was so synonomus with gay sex that discos and bars around the world took on the name, such as Crisco Disco in New York City, which was one of the premiere clubs during the 1970s and early 1980s. Other clubs or bathhouses, such as Club Z in Seattle, even featured murals with Crisco. Thus, Crisco was conversely also one of many things that led to the formation of gay identities during the 20th century.

In diesem Zusammenhang wird gerne auf einen Werbespruch von Procter & Gamble hingewiesen: It’s digestible.

Seit dem Ausbruch von Aids wird allerdings vor der Verwendung von Crisco gewarnt, denn die Öle greifen Latex-Kondome an und machen es damit unsicher. Trotzdem, der Ruf ist etabliert, und so sollte man in den USA vorsichtig sein, wenn der Name auftaucht: Meist ist ein Witz nicht weit.

Schön und gut, aber was ist jetzt mit den Tortillas? Mit Kokosfett klappt es wunderbar, wenn man genug davon verwendet, die Pfanne richtig heiß ist und man die Dinger dünn genug macht. Es ist nicht schwer, aber schon eine Menge Arbeit, besonders wenn man nicht über Spezialgeräte wie eine tortilladora oder einen comal verfügt. Kein Wunder, dass die normale Hausfrau sich die Dinger im Supermarkt holt.

Was die Schönste Germanin natürlich von Anfang an vorgeschlagen hatte …

Eierköpfe und Raketenwissenschaftler

Mai 26, 2009

Am Sonntag sind dieser Autor und die Schönste Germanin ausnahmsweise vor dem Fernseher versackt und haben Navy CIS geguckt. Kaum eine Serie verdeutlicht mehr, dass Übersetzen die Hölle ist, schon allein weil die Synchronisatoren ständig mit den Wortspielen um die israelische Austausch-Agentin Ziva David zu kämpfen haben, die ihrerseits mit den amerikanischen Sprachbildern ringt:

David: Ducky, drip it!
„Ducky“ Mallard: Do you mean „drop it“ or „zip it“?
David: Argh, American idioms drive me up the hall!
„Ducky“ Mallard: Well actually it’s … never mind.

Ducky ist ein Brite, was die Sache natürlich noch witziger macht.

Dieses Mal war es ein Dialog zwischen dem Technik-Wunderkind Timothy McGee und dem draufgängerischen Frauenheld Anthony DiNozzo, der in der deutschen Version nicht funktionierte. Nachdem McGee wieder etwas kluges gesagt hat, guckt sich DiNozzo seinen Kopf mit übertriebener Genauigkeit an und sagt dann etwas wie:

Dein Kopf hat tatsächlich Ei-Form.

Der Witz an dieser Stelle basierte darauf, dass intelligente Leute in den USA eggheads genannt werden, oft abwertend. Das kennen die meisten Deutschen nicht. Einige schon – wobei dieser Autor den Verdacht nicht los wird, dass es eingeschleppt wurde.

Der interessierte Leser denkt jetzt natürlich sofort an Folge elf der vierten Staffel von Buffy, „Doomed“, wo die böse Sportskanone Percy über unsere liebste Hexe Willow sagt:

She’s just some egghead who tutored me a little in high school. I mean, she’s nice, but come on, captain of the nerd squad.

Offenbar meinte er es mit dem Apfel doch nicht so ernst. Das wirklich Wundersame an dieser Szene ist allerdings, dass die deutsche Text- und Ton-Synchronisation auf der DVD ausnahmsweise so gut wie gleich sind. Ton:

Die kleine Streberin hat mir in der High School ein bisschen geholfen.

Text:

Das ist eine Streberin. Hat mir mal auf der High School geholfen.

Uns hilft das für Navy CIS dagegen gar nicht, denn „Streber“ passt nicht: Ein Streber muss nicht intelligent sein und ein kluger Kopf nicht strebsam. Hier ist etwas mehr Kreativität gefragt – „Dir kommt die Intelligenz ja aus den Ohren“ vielleicht.

Während wird dabei sind: Sprichwörtlich kluge Leute sind rocket scientists. Nehmen wird als Beispiel für die Country-Freunde unter den interessierten Lesern Shania Twains Lied „That Don’t Impress Me Much“:

Okay, so you’re a rocket scientist
That don’t impress me much
So you got the brain
But have you got the touch

(In dem Lied erfahren wir auch, was David statt hall hätte sagen sollen) Meist wird das Bild allerdings im negativen Sinn verwendet, also it isn’t rocket science, sprich, stell‘ dich nicht so an.

Damit leiten wir zu gleich zwei Einträgen über, einmal zu nose art, bei dem der echte Raketenwissenschaftler Wernher von Braun eine Rolle spielen wird, und einmal zu einem Haufen Nasa-Sprüche, die dieser Autor auf der Platte wiedergefunden hat. Wenn er sich bis dahin von der Couch aufraffen kann.

[Ergänzt 27. Mai 2009: Teilweise in Deutschland bekannt, zuerst Hinweis von GR, vielen Dank. Hinweis aus „Streber“ als falsche Übersetzung ungeschrieben]

ZEUGS: Nicht-schwule Nasenkunst, Satanismus bei Google und Waffen-Blogger

Mai 22, 2009

Laut den Statistiken von WordPress sind die interessierten Leser von nose art fasziniert, sprich, von halbnackten Frauen auf Kampfflugzeugen. Es ist doch immer wieder schön, wenn sich Leute für Geschichte begeistern. Hier liegen noch einige Links zu dem Thema herum, die wir in den kommenden Tagen zu einem kurzen Eintrag mit etwas mehr Hintergrund zusammenbauen können.

  • Zu Nose Art: Zum Beispiel können wir an den Pin-Ups sehen, wie sich die Sprache verändert hat, denn bei „Gay Caballeros“ hat gay sehr offensichtlich nicht die Bedeutung „schwul“, sondern „fröhlich“. Der Name stammt von dem Disney-Zeichentrickfilm Saludos Amigos, die Zeichnung eher nicht. Die Maschine selbst ist ein B-17 Bomber und wurde ab 1943 über Deutschland eingesetzt.
  • Zu Rosie the Riveter: Es wurden etwa 12.700 B-17 gebaut. Entsprechend sieht man in den Berichten über die amerikanische Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg oft Fotos von Frauen, die den Rumpf oder die Glasnase des Bombers zusammensetzen. Die inzwischen in Deutschland wohl bekannteste „Rosie“, Madelyn Dunham, gehörte nicht dazu: Die Großmutter von Barack Obama montierte B-29 für den Krieg gegen Japan. Der aufmerksame interessierte Leser wird bemerkt haben, dass Obama trotzdem bei seiner Rede in Berlin im Juli 2008 seinen sonst üblichen Hinweis auf ihren Militärdienst taktvoll ausließ.
  • Zu geographischen Begriffen: Der Twitter-Account von Amber Benson – Autorin und Buffy-Fans als Tara bekannt – lieferte jüngst einen lustigen Einblick in die regional unterschiedlichen Vorstellungen von „Westen“ und „Osten“. Der erste Tweet lautete:

    3 East Coast „Death’s Daughter“ Book Signings in late June! Boston, Chicago and New York City! More info to come :)

    Woauf es offenbar empörte Proteste ihrer Verfolger aus Chicago gab, denn eine Stunde später kam die Entschuldigung:

    Sorry, guys. I’m from LA. Anything past Nevada is East to me. I stand corrected.

    Das I stand corrected ist eine festgelegte Wendung.

  • Zu Netfahcstob ehcsinatas: Dinge in rückwärts abgespielten Liedern zu hören, das ist so out. Im 21. Jahrhundert entdeckt man die Anspielungen in Googles Logos. Es sind auch nicht mehr nur radikale Christen, sondern auch beleidigte Muslime, die wissen wollen, warum da mit den Schneemännern Jesus gelobt wird. Oder so.
  • Zu Mais und Transition Towns: Was wird in den USA am häufigsten angebaut? Rasen, sagt eine Nasa-Mitarbeiterin:

    „I estimate there are three times more acres of lawns in the U.S. than irrigated corn.“ This means lawns—including residential and commercial lawns, golf courses, etc—could be considered the single largest irrigated crop in America in terms of surface area, covering about 128,000 square kilometers in all.

    Das entspricht grob der Größe Griechenlands. Die Peak-Oil-Leute wollen errechnet haben, dass man mit zwei Dritteln der Fläche die ganze USA ernähren könnte. Aber Hände weg von den Football-Stadien!

  • Zum Waffenrecht: Die Zeitung „Christian Science Monitor“ hat einen Bericht über den zunehmenden Einfluss von gun bloggers, der mehrere interessante Punkte enthält. Da wäre das Eingeständnis der Waffengegner, dass die Befürworter einer liberalen Rechtslage in der Diskussion die Oberhand gewinnen. Kein Wunder bei diesen Zahlen:

    Gun control groups have roughly 150,000 members in the US while gun rights advocates number closer to 12 million, with perhaps as many as 80 million Americans owning some 200 million firearms.

    Interessant ist aber auch, dass der Aufstieg der Blogs bedeutet, dass die Waffenlobby NRA etwas die Kontrolle verloren haben soll.

  • Zum Christian Science Monitor: Da der Name schon mal in Deutschland den falschen Eindruck erweckt: Beim CSM handelt es sich nicht um ein Hetzblatt fanatischer Evolutionsgegner, auch wenn sie von einer christlichen Gruppe mitfinanziert wird, sondern um eine angesehene Zeitung. In den etwa 100 Jahren ihres Bestehens hat sie sieben Pulitzer-Preise erhalten. Der CSM ist für einen sehr offenen Umgang mit dem Internet bekannt und wechselte im April 2009 als erstes US-Blatt auf ein Webformat als Hauptform. Das alles hindert die Redakteure nicht daran, auch unverschämten Unfug zu drucken.
  • Zu Umgangsformen und den kleinen weißen Lügen: Unter sieben Empfehlungen für Smalltalk schreibt Gretchen Rubin:

    React to what a person says in the spirit in which that that comment was offered. If he makes a joke, even if it’s not very funny, try to laugh. If she offers some surprising information („Did you know that one out of every seven books sold last year was written by Stephanie Meyer?“), react with surprise.

    Genau dieses Beispiel dürfte die Schönste Germanin vor große Schwierigkeiten stellen … nur eins von sieben? Nie!

Wie das Internet das Vorurteil vom prüden Amerikaner tötete

Mai 19, 2009

Heute wollen wir einem sterbenden Vorurteil den Gnadenstoß geben: Die Vorstellung, dass der Amerikaner an sich prüde ist. Eigentlich hatte dieser Autor vor, die Idee einfach verrecken zu lassen, denn er wird kaum noch darauf angesprochen. Aber ein kultureller Unterschied muss erklärt werden, denn er ist es wohl, der als Prüderie fehlgedeutet wird und den Irrlauben wie einen verwundeten Zombie durch Deutschland taumeln lässt. Nehmen wir dieses Zitat einer amerikanische Austausch-Studentin, unkommentiert (und damit Regel-2-konform) veröffentlicht auf Spiegel Online:

Einer meiner ersten Eindrücke von Deutschland war shocking, aber doch irgendwie repräsentativ. Als ich in der ersten Nacht hier den Fernseher anmachte, flimmerten halbnackte Frauen über den Bildschirm. Daneben war eine Telefonnummer eingeblendet, damit Männer diese Mädchen anrufen. […] Wo bitte war ich hier gelandet?

Wenn wir erklärt haben, warum die sonst offenbar lebenslustige junge Dame (die germanische Jugendliche beim Thema Beziehungen „unlocker“ findet) in dieser Situation geschockt ist, hört hoffentlich auch das letzte Kratzen am Sargdeckel auf. Der erfahrene Leser ahnt, dass hier wieder eine unserer groben Faustregeln droht.

[Wir sollten betonen, dass dieser Autor für den Inhalt gelinkter Websites keine Haftung übernimmt. Auch wenn er sich um zahme Links bemüht und auf einen besondern ganz verzichtet hat, will man einige Seiten vielleicht nicht auf der Arbeit aufrufen. Kinder sollten heute wo ganz anders hingehen.]

Die Vorstellung vom prüden Ami war natürlich schon immer albern, wie man sich nach unserer Besprechung des First Amendment denken kann. Es ist nicht nur wegen der erotischen Literatur. Statistiken über die Größe der Porno- und Erotikindustrie kommen oft aus nicht objektiven Quellen und leiden unter schlampiger Recherche, denn es

is an industry where they exaggerate the size of everything

Aber soweit das jemand überhaupt sagen kann, sind die USA der größte Video-Produzent der Welt und beim Umsatz immerhin auf Platz vier (hinter China, Südkorea und Japan). Die bekanntesten Erotik-Marken wie Playboy stammen aus den USA. Ein stetiger Strom amerikanischer sex bombs beglückt seit Jahrzehnten die Welt, darunter Bettie Page [nervige Musik], Marilyn Monroe oder heutzutage Dita von Teese, die jüngst zur Förderung des germanischen Liedgutes nach Europa eingeflogen wurde (erfolglos).

Amerikaner machten nebenbei aus dem pin-up so etwas wie eine Kunstform. Das wurde in Deutschland zuerst nicht gewürdigt – Betty Grable ist hierzulande trotz How to Marry a Millionaire wenig bekannt – vermutlich weil man damit beschäftigt war, auf die entsprechend verzierten Flugzeuge zu schießen. Die US-Luftwaffe ist in diesem Punkt zurückhaltender geworden und lässt jetzt nicht mehr zu, dass die Besatzungen „Annie Freeze“ [JPG] (oder gar „Ass Bandits“ [JPG]) auf ihre Flugzeuge malen. Bei einem Stückpreis von knapp einer Milliarde Dollar pro B-2-Bomber ist das vielleicht auch besser so.

Unglücklich waren während des Kriegs aber auch die Briten, oder genauer, die britischen Männer. Sie klagten, die auf der Insel stationierten US-Soldaten seien

oversexed, overpaid and over here

Die Antwort der Amerikaner lautete, dass die Briten undersexed, underpaid and under Eisenhower seien. Ist da etwas dran? Keine Ahnung. Aber wir können festhalten, dass der Vibrator in Großbritannien erfunden wurde.

(Amerikaner finden es übrigens bezeichnend, dass der Push-Up-BH aus Kanada kommt, während die Kanadier gerne im Gegenzug betonen, wie gut er sich in den USA verkauft. Das nur am Rande.)

Nun muss man mit dem ganzen Zeugs ja auch etwas anfangen. Als der deutsche Frauenarzt Ernst Gräfenberg vor den Nazis fliehen musste, nahmen die USA ihn auf und machten aus seinem „Gräfenberg-Ring“ die heutige T-förmige Spirale. Das Verfahren war aber irgendwie noch nicht ideal, und so machten sich die Amerikaner ab Anfang der 50er daran, die Anti-Baby-Pille zu erfinden. Die Einführung 1960 hatte die bekannten gesellschaftlichen Folgen. Dazu gehören im weitesten Sinne auch unprüde Dinge wie der Summer of Love 1967.

Bis dahin hatte der amerikanische Insektenforscher Alfred Kinsey bei der ersten großangelegte wissenschaftlichen Untersuchung des Sexualverhaltens nachgeschaut, was Menschen wirklich im Bett treiben. Der britische Auswanderer Alex Comfort schrieb mit dem Bestseller Joy of Sex 1972 das bekannteste nicht-klinische Sex-Handbuch seit dem Kama Sutra, damit jeder wusste, was sie noch einüben mussten. Kurz vorher hatte ein Kollektiv von Feministinnen den einflussreichen Leitfaden Our Bodies, Ourselves herausgebracht, der sich (unter anderem) mit Sex aus weiblicher Sicht beschäftigte.

Playboy, riesige Sex-Studien, die Pille – das klingt alles nicht nach prüde. Vielleicht passt das Wort besser auf ein Land, in dem Gerichte gegen Peepshows vorgehen, bei Sportlern die Rückennummer 69 verpönt ist und noch vor kurzer Zeit mehrere Bundesminister ein Verbot sämtlicher Pornografie anstrebten. Überhaupt: Wer pon farr zum „Weltraumfieber“ umdichtet, sollte mit dem Vorwurf der Prüderie sehr, sehr zurückhaltend sein.

Und trotzdem.

Wenn ein deutscher Tourist in den USA durch die Stadt schlendert, eine Zeitung aufschlägt, Werbung im Fernsehen guckt oder sich die nun wirklich reichlich vorhandenen Werbeplakate anschaut, am Strand entlanggeht oder im Freibad sitzt, fällt ihm früher oder später ein Unterschied auf: In den USA sieht man in public – im „öffentlichen Raum“ – keine Nackten. Wer das „Ruf! Mich! An!“ aus dem deutschen Fernsehen, die Aussicht an französischen Stränden oder die Seite drei britischer Zeitungen gewohnt ist, wird stutzen. Wo ist das ganze nackte Fleisch?

Versteckt. Denn es gibt einen kulturellen Unterschied zwischen den USA und Westeuropa, den wir uns etwa so merken können:


Öffentliche Nacktheit ist in Amerika dort verpönt, wo Kinder sie sehen könnten.

Das ist mal wieder eine unserer groben Regeln mit vielen Ausnahmen. Zum Beispiel: Auch in den USA gibt es eine FKK-Bewegung, die stolz ihre Wurzeln bis zu Benjamin Franklin zurückverfolgt, der jeden Morgen ein „Luftbad“ nahm.

Aber als Faustregel erklärt sie, warum Amerikaner ohne einen eigenen Garten trotz endloser Strände und viel Sonne Bikini-Streifen haben, wieso in einem Land, in dem es faktisch keine Zensur von Pornografie gibt, die Mädchen von Bild undenkbar wären oder warum einer aufgeschlossenen Austausch-Studentin unwohl dabei ist, wenn im unverschlüsselten Fernsehen für Sex-Hotlines geworben wird. Damit wird klar, warum der Amerikaner beim Umziehen im Freibad unglaublich umständlich mit seinen Handtüchern herumfummelt, während der Germane sich bestenfalls von der Masse wegdreht, bevor er seine Badehose fallenlässt. Man versteht besser, warum aus Kinder- und Jugendfilmen jeder überflüssige Hautfetzen gnadenlos ausgemerzt wird.

Wichtig ist das „könnten“ – Amerikaner verhalten sich auch gerne so, wenn kein Kind in unmittelbarer Nähe ist. Wie gesagt, es ist eine grobe Regel für einen komplizierten Sachverhalt, aber eine nützliche.

Ist sie denn logisch? Nö. Deutsche können diese kulturelle Eigenheit mit einer gewissen Berechtigung als einen leicht hysterischen Zug sehen, so lange sie das Phänomen nicht mit Prüderie verwechseln. Es ist halt das Gegenstück zu der deutschen Haltung zu Gewaltdarstellungen, die bekanntlich nicht einmal die Österreicher nachvollziehen können. Es besteht jeweils ein tief verwurzelter gesellschaftlicher Konsens, der wenig mit Politik oder Religion zu tun hat und vielen überhaupt nicht bewusst ist, bis sie mit den Regeln einer fremden Kultur konfrontiert werden. Die Experten in den USA wie in Deutschland halten die jeweilige Einstellung ohnehin für Blödsinn.

Kennt man die Regeln und hat man wie dieser Autor einen gewissen Hang zum interkulturellen Sadismus, kann man viel Spaß haben. US-Bekannte, die sich allzu demonstrativ weltoffen und liberal geben, führt er gerne an deutschen Zeitschriftenläden vorbei, was ihnen plötzlich sehr, sehr unangenehm wird. Deutsche reagieren dafür gar nicht gut auf Diskussionen über Kindergeburtstage auf dem Paintball-Platz, obwohl das zum Beispiel für Briten, Franzosen, Niederländer und Schweizer kein Problem ist. Komisch.

Das Vorurteil vom prüden Ami hatte in Deutschland noch andere Ursachen. Da wäre die selektive Darstellung der amerikanischen Geschichte in der Schule mit einer Betonung der Puritans in Massachusetts. Natürlich sind die Leute schon wegen Thanksgiving wichtig. Aber von ihnen auf die Geisteshaltung aller Kolonialisten oder gar der ganz späteren USA zu schließen, ist albern. Bei den Cavaliers in Virginia ging es ganz anders zu:

The Virginia Cavaliers did not see gambling as just a game of dice, but as a way of seeing clues into their futures; much like the way a soothsayer might use his bones. Fortune ruled the lives of Virginian men — they kept records and books for good luck in marriage, sex, love, health, and travel.

Würfelspiele als frühkoloniales Sex-Horoskop stehen erfahrungsgemäß selten in deutschen Lehrplänen. Zudem wird die eigentliche Moral aus der Geschichte der Mayflower-Bande in der Schule oft übersehen: Ihr Projekt einer frommen city upon a hill scheiterte.

Einen gehörigen Teil der Schuld tragen auch die deutschen Medien mit ihrer Begeisterung für religiöse Fanatiker in den USA. Die sind im Sinne einer freak and monster show halt interessanter als, sagen wir mal, die amerikanischen Atheisten. Das ist normales Medienverhalten, wie umgekehrt die Amerikaner vorwiegend von Deutschen hören, die ihre Kochkünste am Penis einer Internet-Bekanntschaft ausprobieren.

Dass es in den USA sonderbare Glaubensgemeinschaften gibt, ist unbestritten – eine andere Folge konnte die jahrhundertelange religiöse Verfolgung auf der einen Seite des Atlantiks und der radikale Schutz der Glaubensfreiheit auf der anderen kaum haben. Wir können diese Leute auch getrost prüde nennen, schon allein weil sie es selbst tun. Aber sie sind nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung.

Oder anders: Sie sind genauso repräsentativ wie die Teilnehmer am Folsom Street Fair, ein jährliches Straßenfest in San Francisco. Der interessierte Leser – der erwachsene interessierte Leser, der diesen Eintrag nicht auf der Arbeit liest, wohlgemerkt – mag sich die Fotostrecke von Zombietime dazu ergooglen. Ja, die Leute machen das auf offener Straße. Seit 25 Jahren.

(Moment, was ist mit den Kindern? Eltern werden am Eingang des Festes ausdrücklich vorgewarnt. Formell findet es also an einem Ort statt, wo die Blagen nicht einfach hereinlaufen können. Einige Teilnehmer nehmen ihre Kinder trotzdem mit, denn vom Gesetz her ist es die Entscheidung des Erziehungsberechtigten und nicht des Staates. In diesem – bewusst extremen Beispiel – beißt sich die juristische Lage mit den kulturellen Vorgaben, weswegen es darüber lautstarken Streit gibt.)

Und am Ende dieses Eintrags haben wir Link für Link für Link demonstriert, warum das Vorurteil über den prüden Amerikaner stirbt: Das Internet. Selbst wer sich nicht der, äh, Eigenrecherche widmet, kann es beim surfen kaum vermeiden, eine Seite der USA zu sehen, die damit nicht vereinbar ist. Serien wie Sex and the City haben ebenfalls dazu beigetragen. In diesem Blog darf natürlich nicht der Hinweis auf Buffy fehlen, wo die Hauptdarstellerin der (angeblichen) Teenie-Serie ständig mit Untoten ins Bett steigt, wenn sie nicht gerade rassenübergreifenden Lesben-Sex hat. Allerdings bleibt bei der Vampirjagd der Ausschnitt zu, versteht sich.

Wir können das Thema hiermit hoffentlich endgültig zu Grabe tragen – und mit Bedauern feststellen, dass die Bikini-Streifen beim US-Besuch kaum zu vermeiden sind.

[Danke an DKS für den Hinweis auf die Cavaliers]

META: Einige Bemerkungen zu meinem Twitter-Account

Mai 14, 2009

Einige interessierte Leser werden bemerkt haben, dass die Schönste Germanin jetzt einen Twitter-Account hat. Ganz findige Leser werden auf der Liste ihrer followers (dt. „Verfolger“?) einen gewissen „scotstevenson“ entdeckt haben. Ja, ich bin jetzt auch bei Twitter. Und so sehr es mich ehrt, dass sich sofort einige Leute als meine Verfolger eingetragen haben, möchte ich niemanden enttäuschen: Der Account ist eigentlich zum lesen und nicht zum schreiben.

Denn nach einigen Tagen Erfahrung mit dem Dienst muss ich feststellen, dass mein Leben leider nicht aufregend genug ist für Twitter. Als Aufenthaltsort müsste dort ständig in front of a computer und als Tätigkeit writing stuff stehen. Die lustigen Familien- und Dorfgeschichten übernimmt die Schönste Germanin, die so was ohnehin besser kann. Zu USA Erklärt wird da erstmal nichts stehen: Im Moment kämpfe ich ja noch mit der „alten“ Technologie E-Mail.

Das soll nicht heißen, dass Twitter nicht eine wundbare Sache ist. Als space geek verfolge ich mit großem Gewinn die Tweets der Nasa und wusste daher genau, wann ich für den Start der „Atlantis“ auf den Nasa-Stream wechseln musste. Das Geschimpfe von Trent Reznor über missglückte Konzerte und nervige Fans ist unterhaltsam. Was man mit dem Dienst wirklich machen kann, zeigt Eliza DushkuBuffy-Fans als Faith bekannt – bei einer Charity-Reise durch Uganda, die sie (oder ihr Twitterer) in kleinen Texthäppchen und vielen Bildern dokumentiert. Und schließlich ist Twitter wunderbar, um seinen Server zu überwachen.

Sollte ich irgendwann auch Raumschiffe ins All schicken, berühmter Rock-Musiker werden oder mich um Kindersoldaten kümmern, werde ich ernsthaft twittern. Sollte mir einfallen, wie ich mit 140 Zeichen sinnvoll einen Aspekt der USA erklären kann, werde ich das hier bekanntgeben. Bis dahin verweise ich auf interessantere Leute als Twitter-Targets.

META Blogpause bis zum 19. Mai 2009

Mai 5, 2009

Pünktlich zum neuen Star Trek-Film hat dieser Autor beim herumräumen im Keller ein Poster aus seiner Jugend, nein, Kindheit wiedergefunden: Die USS Enterprise NCC-1701 aus dem ersten Film von 1979. Die ist bekanntlich fast baugleich mit der NCC-1701-A aus dem vierten Film von 1986, von dem man die spätere Version des Posters [JPG] von David Kimble im Internet findet. Die Ehrenwerte Mutter erinnert sich auch daran, wie sie einen gewissen elfjährigen Jungen unter Missachtung der Altersfreigabe zum ersten Film ins Kino schmuggelte – die besten Eltern der Welt halt. Dieser Autor erinnert sich, die Nacht vorher vor Aufregung keine Minute geschlafen zu haben.

So schlimm ist es diesmal nicht. Trotzdem werden wir den Anlass nutzen, um eine zweiwöchige Blogpause bis

Dienstag, dem 19. Mai 2009

einzulegen, weil mal wieder alle möglichen Dinge geregelt werden müssen, von E-Mail über Baumaßnahmen im Wohnzimmer zu der Diskussion mit der Schönsten Germanin, an welche Wand ein 30 Jahre altes Poster hinkommt und wie teuer der Rahmen sein darf.

Der nächste Eintrag wird sich mit dem Vorurteil beschäftigen, dass Amerikaner prüde sind, welcher kulturelle Unterschied es förderte und warum das Internet es beseitigt hat.

[Korrigiert 8. Mai 2009 : Poster ist vom ersten Kinofilm, aber das gelinkte Bild ist von der NCC-1701-A aus dem vierten. Problem erkannt von AE, vielen Dank.]