Die Grobstruktur der USA (oder wo man vor Bush am sichersten ist)

Juni 25, 2006

Seit Jahren muss sich dieser Autor Erklärungen von diversen Mitmenschen anhören, dass man ja nicht in die USA reisen oder ziehen könne, weil dort George W. Bush an der Macht ist. Der Hinweis, dass genau das Gegenteil der Fall ist, dass man nirgendwo auf der Welt so sicher vor einem amerikanischen Präsidenten ist wie in den USA selbst, führt erfahrungsgemäß zu fotoreifen Gesichtsausdrücken. Die wenigsten Bush-Kritiker wissen offenbar, wie wenig Einfluss der Präsident und überhaupt die ganze Bundesebene auf die amerikanische Innenpolitik hat.

Um diese Wissenslücke zu schließen, wollen wir heute den grundsätzlichen Aufbau, sozusagen die Grobstruktur, der USA besprechen. Zumindest die amerikanische Tourismus-Industrie sollte das freuen.

Bei den „Vereinigten Staaten von Amerika“ ist der Name Programm: Es handelt sich um einzelne, souveräne Staaten, die einige wenige Aufgaben an einen Überbau abgegeben haben. Sehr wenige Aufgaben, so wenige, dass die USA noch nicht einmal einen Innenminister haben (es gibt zwar einen Secretary of the Interior, aber er ist hauptsächlich für die Nationalparks und die Beziehungen zu den Indianern zuständig). Die Faustregel lautet, dass der Bund sich um die Außenpolitik und einige länderübergreifende Dinge kümmert und der Rest bei den einzelnen Staaten bleibt, insbesondere der Teil, der mit dem Alltag der Bürger zu tun hat.

Das ist vereinfacht dargestellt, denn die Grenzen sind in den vergangenen 220 Jahren an einigen Stellen verwischt worden. Besonders seit dem Bürgerkrieg hat der Bund seinen Einfluss immer weiter vergrößert – aber das behandeln wir später, wie auch die Änderungen im Rahmen des New Deal. Als Faustregel reicht es erstmal.

Jeder der 50 Staaten hat eine „residuale Souveränität“. Sie haben eigene Heere und Luftwaffen (die Nationalgarden), komplett eigene Rechtssysteme, erheben getrennt vom Bund ihre Steuern, entscheiden eigenständig darüber, wer Alkohol trinken und wer heiraten darf. Sie sind für die Bildung wie auch für die Gesundheit zuständig – so hat Massachusetts gerade eine Pflichtversicherung eingeführt. Auch bei der bundesweiten Krankenversicherung für Bedürftige, Medicaid, legen die Bundesstaaten fest, wer genau Anspruch auf Leistungen hat. Die Altersvorsorge Social Security ist dagegen ein Bundesprogramm.

Auch über Dinge wie die Sommerzeit entscheiden die Bundesstaaten. Arizona zum Beispiel stellt die Uhren nicht um mit der Begründung, dass man schon mehr als genug Sonne habe. Interessanterweise haben die Navajo, deren Nation zum großen Teil in Arizona liegt, nicht mitgezogen, weswegen eine Ecke von Arizona doch die Sommerzeit hat. Aber nicht die ganze Ecke: Innerhalb des Navajo-Gebietes liegt die Hopi-Nation, und da gibt es wieder keine Sommerzeit. Allein daraus kann man schließen, dass die beiden Stämme sich nicht wirklich mögen, aber das ist ein Thema für einen anderen Eintrag.

Wir können die Frage der Souveränität auch von der anderen Seite aufziehen. Es gibt kein Einwohnermeldeamt in den USA, keine bundesweiten Personalausweise, keinen landesweiten Führerschein und kein Bundesgesetzbuch in der Art, wie man es in Deutschland kennt. Das Justizsystem des Bundes ist von dem der Bundesstaaten getrennt. Die Steuern auf Benzin, Zigaretten und Bier sind von Bundesstaat zu Bundesstaat und oft von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Der Bund kann nicht die Mehrwertsteuer erhöhen, weil die sales tax sich wie viele andere Steuern aus einem Anteil des Bundesstaates und der Kommune zusammensetzt.

Die USA sind also ein janusköpfiges Gebilde: Der Bund ist nach außen gewandt, die einzelnen Staaten nach innen. Beide kontrollieren sich gegenseitig: Der Bund sorgt dafür, dass kein Staat seine Nachbarn anfällt oder plötzlich eine Diktatur ausruft. Die Staaten sorgen gemeinsam dafür, dass der Bund nicht ausrastet. In den Federalist Papers werden die USA daher auch als eine compound republic bezeichnet.

Damit ist Landes- und Kommunalrecht in den USA ungleich wichtiger als in Deutschland, wo die meisten zentralen Fragen auf Bundesebene entschieden werden. Für Europäer ist es vielleicht am einfachsten, sich die USA nicht wie Deutschland vorzustellen, sondern wie die Europäische Union, nur dass Brüssel sich inzwischen wesentlich mehr in das tägliche Leben des Bürgers einmischt als Washington. Diese Sichtweise trifft auch die Einstellung der Amerikaner zu ihrer Bundesregierung: Geldverschwender, Schmarotzer, eine Quelle von ausufernder Bürokratie, deren Mitglieder sich nur in die eigene Tasche wirtschaften. Brüssel halt.

Hat man erstmal begriffen, wie wenig die US-Regierung im eigenen Land zu sagen hat, werden viele andere Dinge verständlich:

Wenn Bush davon redet, die Steuern zu senken, betrifft das nur die Bundessteuern, nicht die Gesamtsteuern. Das ist etwa so, als würde die EU erklären, dass sie das viele Geld nicht braucht und gerne einige Milliarden an die einzelnen Mitgliedsstaaten zurückgeben würde. Land und Kreis erheben trotzdem weiter die Steuern, von denen sie glauben, dass sie sie brauchen. Wer sich wundert, warum viele US-Bürger einer landesweiten allgemeinen Krankenversicherung skeptisch gegenüberstehen, soll sich überlegen, wie es wäre, wenn die EU alle nationalen Versicherungen durch eine zentrale, von Brüssel gelenkte würde ersetzen wollen.

Die Aufgabenteilung zwischen Bund und Bundesstaaten ist auch einer der größten Streitpunkte zwischen Demokraten und Republikanern. Die Demokraten wollen viele Aufgaben – insbesondere soziale – dem Bund übertragen, während die Republikaner sie bei den einzelnen Staaten belassen wollen. Um bei dem Modell der EU zu bleiben: Die Demokraten wollen, dass die Entscheidungen in Brüssel und nicht in Berlin getroffen werden, während die Republikaner auf die nationale Autonomie pochen. Was einer der Gründe ist, warum so viele Amerikaner die Republikaner wählen: Sie sind sozusagen die Euro-Skeptiker Amerikas.

Da große Teile der deutschen Presse die Aufgabenteilung von Bund und Bundesstaaten nicht verstehen, werden die Republikaner fälschlicherweise als grausame Ultra-Kapitalisten dargestellt, die alle sozialen Errungenschaften abschaffen wollen. Meistens geht es aber nur um die Frage, ob diese Aufgaben beim Bund oder den Bundesstaaten besser aufgehoben sind. Der Streit tobt in verschiedenen Formen schon seit vor der Gründung der USA, wie die Federalist Papers zeigen. Es ist ein Problem in allen föderalen Staaten: Ähnliche Fragen klärt Deutschland im Moment mit der Föderalismusreform.

So weit so gut. Aber leider ist die Situation in den USA noch komplizierter.

Die Kommunen haben in vielen Bundesstaaten einen Grad an Autonomie, den Europa seit den griechischen Stadt-Staaten der Antike nicht mehr gesehen hat. Auch sie ziehen selbst Steuern ein, können die Verkehrsordnung ändern, selbst Gesetze zu Verschlüsselungen beim WiFi erlassen. Was Pornografie ist, entscheidet nach dem „Miller Test“ die Gemeinde. Eine landesweite Zensurbehörde – Entschuldigung, Indizierungsbehörde – wie die Bundesprüfstelle in Deutschland gibt es nicht. Der Sheriff eines Landkreises wird direkt von den Bürgern gewählt. Jede Stadt stellt ihre eigene Polizei, deren Befugnisse an der Stadtgrenze enden und die nur der Regierung der Stadt gehorcht. In Amerika gibt es tausende Waffengesetze, da der Bund nach dem Second Amendment nicht in diesem Bereich tätig werden darf.

Die USA als einen einzelnen Staat zu sehen, ist also eigentlich schon falsch. Aber das Land besteht auch nicht wirklich aus 50 Bundesstaaten, sondern vielmehr aus 3.600 Kommunen. Dazu kommen mehr als 560 autonome Indianer-Nationen als sovereign domestic nations. Wenn man es ganz genau nimmt, müsste man auch die ganzen anderen Sonderverwaltungszonen wie school zones und Universitäten dazu nehmen, die alle eine gewisse Autonomie haben. Man kommt dann auf etwa 85.000 Verwaltungseinheiten – alles mehr oder weniger unabhängige, nach außen abgeschlossene Module. Der gemeine Amerikaner würde insbesondere auf eine Eigenschaft dieser Module hinweisen wollen: Alle wollen sein Geld. Meist werden deren Steuern nämlich direkt und zweckgebunden erhoben.

Noch eine Besonderheit gibt es: Die USA sind nur auf oberster Ebene eine repräsentative Demokratie.

Je weiter man in der Hierarchie hinabsteigt, desto mehr Elemente einer direkten Demokratie kommen hinzu – Volksentscheide zum Beispiel, wie in der Schweiz. Dabei werden auch Fragen wie die Abschaffung der Einkommensteuer eines Bundesstaates oder den Ausbau des Nahverkehrssystems gerne mal vom Volk entschieden. Da Ämter und Posten in den USA so gut wie immer über Direktwahl bestimmt werden – die große Ausnahme ist der Präsident – hat der einzelne Bürger damit einen sehr großen Einfluss auf die Dinge, die unmittelbar sein Leben bestimmen.

Jetzt können wir auch eine Frage beantworten, die Europäer alle vier Jahre wieder zur Verzweiflung treibt: Warum es viele US-Bürger scheinbar nicht interessiert, wer ihr Präsident wird. Die Wahlbeteiligung auf Bundesebene ist tatsächlich vergleichsweise niedrig. Der Grund liegt aber nicht in einem allgemeinen politischen Desinteresse der Amerikaner, sondern einfach daran, dass der Bund für das Leben des Durchschnittsbürgers kaum eine Rolle spielt. Wesentlich wichtiger für ihn ist die Politik auf Landes- und Kommunalebene, wo er zudem einen großen und direkten Einfluss hat. Amerikaner sind ihrerseits völlig entsetzt, wie wenig sich Deutsche für Lokalpolitik interessieren. Oft wissen diese ja nicht einmal, wie der Polizeipräsident ihrer Stadt heißt.

Die jeweilige Haltung ist damit für das jeweilige politische System richtig – die Deutschen mit ihrer Betonung der Bundesebene und die Amerikaner mit ihrer Konzentration auf die Kommunalebene. Der Bürger ist halt nicht doof, zum Glück für beide Staaten und für die Demokratie an sich.

Und damit sind wir wieder bei den Bush-Gegnern. Die Idee, nicht in die USA zu reisen, weil Bush an der Macht ist, ist etwa so sinnvoll wie die Stornierung einer Deutschland-Reise, weil Jose Manuel Barroso Präsident der EU-Kommission wurde. Die amerikanischen Bush-Kritiker wissen das und verlassen trotz ihrer demonstrativen Agonie ja auch nicht das Land. Unter Bush gibt es keine Auswanderungswelle. Auch Michael Moore wohnt weiter in New York.

Also: Wer Nachts nicht schlafen kann, weil er sein Leib und Leben durch George W. Bush bedroht sieht, für den gibt es eigentlich nur eins: Ab in die USA! Dieser Autor kann Arizona empfehlen, schon wegen der endlosen Sonne. Nur bitte auf die richtige Urzeit achten, wenn man die Indianer besucht.

[Überarbeitet 10. April 2007. Ergänzt 8. Mai 2007: Link zum 14. Verfassungszusatz. Ergänzt 22. Jan 2011: Link zum Eintrag über den New Deal]

%d Bloggern gefällt das: