Free Speech, Teil 3: Von dem Recht, Tom Cruise seinen Schuh vögeln zu lassen

April 21, 2007

Der prominente US-Prediger Jerry Falwell wurde offenbar nicht von seiner Mutter in einem Scheißhaus entjungfert. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der konservative Geistliche sich zuvor mit Campari betrunken hätte oder dass er sich bis heute vor jeder Predigt damit zudröhnt, weil er sonst seinen eigenen bullshit nicht ertragen könnte.

Man kann also nachvollziehen, warum Falwell unglücklich war, als 1983 in einer Ausgabe des Erotik-Magazins „Hustler“ eine ganzseitige Parodie einer Campari-Anzeige [JPG] mit seinem Foto erschien, in der er angeblich genau das zu behaupten schien. Der deutsche Leser mag sich die Reaktion von Kardinal Karl Lehmann vorstellen, wenn ihm, mit Bild, in einem Heft des deutschen „Playboy“ in einer gefakten Jägermeister-Anzeige Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter andichtet würde.

Falwell klagte auf Verleumdung (defamation) mit der Begründung, die Autoren hätten gewusst, dass das alles nicht wahr sei. Dummes Zeug, erwiderte „Hustler“-Verleger Larry Flynt. Der streitbare Vorsitzende der Moral Majority müsse sich das gefallen lassen, denn solche Satiren gehörten nach dem First Amendment zur Meinungsfreiheit dazu.

Falwells Klage war in diesem Punkt tatsächlich tapfer. Der Supreme Court hatte in New York Times vs Sullivan entschieden, dass man nur dann der Verleumdung eines Politikers schuldig gesprochen werden kann, wenn die falschen Behauptungen mit „bösartiger Absicht“ gemacht wurden:

The constitutional guarantees require, we think, a federal rule that prohibits a public official from recovering damages for a defamatory falsehood relating to his official conduct unless he proves that the statement was made with „actual malice“ — that is, with knowledge that it was false or with reckless disregard of whether it was false or not.

Der Beweis muss dabei mit „convincing clarity“ geführt werden. In der Praxis ist actual malice daher kaum zu beweisen, denn dazu müsste man den Angeklagten in den Kopf schauen können. Das Gericht stellte später in Curtis Publishing vs Butts fest, dass diese Regelung nicht nur für public officials wie Politiker gilt, sondern auch für public figures, zu denen Falwell unzweifelhaft gehört.

Was bedeutet das? Nehmen wir als völlig fiktives, aus der Luft gegriffenes Beispiel an, eine amerikanische Zeitung würde berichten, dass sich Präsident George W. Bush die Haare färbt (eine Frisur ist ja ganz schnell ein Politikum). Nehmen wir weiter an, dass dem nicht so ist. Bush hätte trotzdem vor Gericht nur dann eine Chance, wenn er belegen könnte, dass die Redaktion das wusste – nicht „sich hätte denken können“ oder „hätte annehmen sollen“, sondern nachweislich wusste, dass er sich nicht die Haare färbt, oder dass ihr die Wahrheit komplett und völlig egal war. Die Beweislast liegt bei ihm.

Das klingt im ersten Augenblick etwas hart – der arme Schröder Bush, so tief getroffen in seinem männlichen Stolz! Aber New York Times vs Sullivan basiert auf leidvollen Erfahrungen. In den 60er Jahren versuchten Rassisten, die Bürgerrechtsbewegung mit Verleumdungsklagen mundtot zu machen. Das 1964 gefällte Urteil stoppte diesen Missbrauch und gab ein wichtiges Prinzip vor:

[W]e consider this case against the background of a profound national commitment to the principle that debate on public issues should be uninhibited, robust, and wide-open, and that it may well include vehement, caustic, and sometimes unpleasantly sharp attacks on government and public officials.

Anders formuliert: Die amerikanische Politik ist kein Ort für Weicheier und Warmduscher. Wer ein zartes Gemüt hat, sollte sich eine andere Arbeit suchen, eine, wo die Leute höflicher und zuvorkommender miteinander umgehen, vielleicht als Eishockey-Spieler in der NHL. Wer in die amerikanische Politik geht – und dazu wird ja keiner gezwungen – muss sich darauf gefasst machen, dass jede Menge unfreundliche Dinge über ihn gesagt und geschrieben werden, die sehr ins Persönliche gehen.

Zurück zu Falwell. Der zeigte sich von der juristischen Situation unbeirrt und ließ es darauf ankommen. Und unterlag auch prompt. Denn für das Gericht war es unmissverständlich eine Parodie – für Doofe stand ja es sogar unten auf der Seite und im Inhaltsverzeichnis noch dazu. Kein normaler Mensch würde glauben, so das Gericht, dass es sich um eine Tatsachenbehauptung handelte. Und ohne Tatsachenbehauptung keine Verleumdung.

Aber Falwell hatte auch wegen des Seelenpeins geklagt, den die Redaktion ihm absichtlich zugefügt habe (intentional infliction of emotional distress). Hier bekam er zunächst Recht: Die Anzeige sei wirklich abscheulich (outrageous), befand dann auch ein Berufungsgericht. Flynt gab sich nicht geschlagen und rief das Oberste Gericht an. Der wiederum gab „Hustler“ Recht.

In ihrer einstimmigen Begründung zu Hustler vs Falwell hielten die Richter fest, dass die Campari-Satire den gleichen Schutz genieße wie die klassische politische Karikatur, die in den USA schon immer derbe gewesen sei. Selbst George Washington habe sich als Esel darstellen lassen müssen. Washington! Als Esel!

Die „Hustler“-Parodie sei natürlich geschmacklos und ein „armseliger Verwandter“ dieser Karikaturen, hieß es weiter. Aber ihre Abscheulichkeit ändere nichts an dem Grundprinzip, dass diese Art von Aussage geschützt sei. Im Gegenteil, hieß es unter Berufung auf ein früheres Urteil:

[T]he fact that society may find speech offensive is not a sufficient reason for suppressing it. Indeed, if it is the speaker’s opinion that gives offense, that consequence is a reason for according it constitutional protection.

Deutsche kennen den Fall aus dem Film „The People vs Larry Flynt“, sind sich aber meist der Bedeutung dieser ganzen Urteile nicht bewusst: In den USA darf man über Prominente faktisch alles sagen, schreiben oder zeichnen, so lange man es irgendwie als politische Rede oder Witz verpackt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist wichtiger als deren Ehre, Gefühle oder Würde.

Historisch galt das für Politiker eigentlich schon immer, insbesondere für Präsidenten. Der Esel namens Washington war auch nur der Anfang:

Accused of changing the rationale for „his“ war, and hounded for mismanaging it. Derided as an uninspiring public speaker. Belittled as an idiot. Blamed for dividing the nation. Charged with incompetence in his administration. Accused of trampling on the Constitution. Engaged in censorship and manipulation of the press. Mockingly compared with lower primates. Pressured for a key Cabinet Advisor’s resignation. Of course, we’re referring to [Abraham] Lincoln.

Die Forderung nach dem Tod des Präsidenten ist in den USA dabei inzwischen fast schon Routine. Die konservative Kommentatorin und Bloggerin Michelle Malkin nennt das „Assassination Chic“ (Flynt, wenn wir schon mal dabei sind, nennt Malkin eine „superior asshole“, eine „talentless media freak“, eine „hard-right bitch“ und eine „neofascist whose IQ test would probably have to be calculated in negative integers“, alles natürlich öffentlich und straffrei). Wir hatten schon über das Verbot von konkreten Planungen gesprochen.

Aber es sind eben nicht nur Politiker, sondern alle Personen des öffentlichen Lebens, die man in den USA so auf die Schippe nehmen kann, wenn das noch der richtige Ausdruck ist. Tom Cruise masturbiert da bei Oprah in „Scary Movie 4“ mit seinem Schuh, während anderswo Hillary Clinton und Bush [JPG] als Hitler auflaufen. Ob das alles tatsächlich witzig oder für die politische Debatte wichtig ist, ist kein Kriterium. Das muss nur die erklärte Intention sein. Der amerikanische Staat ist insbesondere nicht für Kulturkritik zuständig.

In Deutschland gilt dagegen, dass der Schutz der Würde des Menschen nach Artikel 1 des Grundgesetzes auch für Politiker und Prominente gilt. Grundsätzlich haben selbst absolute Personen der Zeitgeschichte ein Recht auf den Schutz der Intimsphäre, etwas, wovon Bill Clinton nur träumen konnte. Wir sind wieder bei dem Unterschied zwischen den Verfassungen, die jeweils ein anderes höchstes Gut haben.

Zu besonders lustigen Effekten führt dabei § 103 StGB, der es Deutschen verbietet, ausländische Staatsoberhäupter zu beleidigen. Bei antiamerikanischen Demonstration werden dann Strafanzeigen zu Plakaten gestellt, die in den USA als harmlos gelten würden. So wurde Bush bei seinem Besuch in Mainz 2005 doch glatt ein „Terrorist“ genannt. Gemessen an dem, was ihnen zu Hause entgegenschlägt, sind Demonstrationen in Deutschland für amerikanische Politiker hauptsächlich eins: Erholsam.

Bevor nun der interessierte Leser aber bei seinem nächsten USA-Besuch anfängt, wahllos Amerikaner zu beleidigen, eine dringende Warnung. Diese ganze Rechtslage gilt nicht für „normale“ Menschen (private figures), die vor Beleidigung und Verleumdung durchaus geschützt sind. Die EFF hat die Unterschiede für Blogger zusammengefasst, wobei – natürlich – die Einschränkung gilt: Im Detail hängt es von den Gesetzen der einzelnen Bundesstaaten ab.

Im nächsten Eintrag beschäftigen wir uns mit Obszönitäten und Pornografie. Viel schlimmer kann es ja jetzt nicht mehr kommen.

(Danke an DKS für den Link zum Lincoln-Quote)