Schlaflose Kinder und eingedeutschte Rentiere: Weihnachten in den USA

Dezember 24, 2006

‚Twas the night before Christmas
When all through the house
Not a creature was stirring
Not even a mouse

„A Visit from Saint Nicholas“, Clement Clark Moore zugeschrieben

Kind Nummer Eins genießt heute seinen bikulturellen Vorteil in vollen Zügen: Geschenke vom Christkind am Abend des 24. und stockings von Santa Claus am Morgen des 25. Dezember. Bislang gab es nur ein Problem, als es einige Tage vor Weihnachten irgendwo aufschnappte, dass man eine Wunschliste ausstellen müsse: Aber, aber, aber – Ich kann doch noch gar nicht schreiben! Und dann noch zwei Listen! Es folgte das volle Programm einer Kleinkind-Panikattacke, einschließlich der kleinen Kullertränen in den Augen und der bebenden Unterlippe. Es sind halt die großen Dinge im Leben, die wichtig sind.

In diesem Sinne gehen wir heute auf die Unterschiede zwischen Weihnachten bei den Amerikanern – Christmas, zum Ärger einiger Christen oft auch einfach X-mas – und in Deutschland ein. Noch mehr als sonst gilt allerdings die Einschränkung, dass man es nicht überall so macht wie hier beschrieben. In beiden Staaten gibt es von Familie zu Familie große Unterschiede.

Zuerst ein wichtiger Hinweis für alle deutschen Kinder, die in die USA ziehen: Es gibt dort keinen Nikolaus. Die Sitte, die Stiefel am 6. Dezember vor die Tür zu stellen, kennt man nicht. Entsprechend sind amerikanische Kinder in Deutschland verwirrt, wer denn dieser Typ sein soll, der so aussieht wie Santa, aber nicht Santa ist, keine Rentiere, dafür aber einen Schuhfetisch hat. Eine Stiefelfüllung? Das war’s schon? Betrug!

Deutsche Kinder sollten in den USA trotzdem ihre Stiefel vor die Tür stellen, denn Nikolaus vergisst sie nicht. Umgekehrt kommt Santa schließlich auch nach Deutschland. Es gibt Abkommen und Verträge und Sondergenehmigungen des Heimatschutzministeriums und so etwas.

Nachdem wir das aus dem Weg geräumt hätten:

Der wichtigste Unterschied ist, dass die Geschenke am Morgen des 25. Dezember aufgemacht werden. Das gibt dem Fest einen ganz anderen Charakter. So ist der 24. Dezember der einzige Tag im Jahr, an dem die Kinder so früh wie möglich ins Bett gehen wollen, am besten direkt nach dem Mittagessen, damit es schneller Morgen wird.

Santa kommt nämlich in der Nacht, denn man braucht etwas Zeit, um den halben Planeten zu beliefern, selbst wenn man alle diese Helfer hat und neun superschnelle Rentiere. Er ist dann auch hungrig und durstig. Deswegen stellt man ihm einen Teller mit Keksen und ein Glas Milch hin. Für die Rentiere gibt es eine Möhre (Rentiere sind genügsam). Und am nächsten Morgen sind tatsächlich nur noch einige Krümel und ein Karottenstummel übrig. Die Briten stellen Santa angeblich Sherry hin, was Amerikaner für verantwortungslos halten – der Mann muss doch fahren!

Das Ziel jedes angelsächsischen Kindes ist es dann, möglichst früh aufzustehen. Christmas Day selbst beginnt mit dem patter of little feet und dem Schrei Santa was here! Dem folgt eine Ermahnung – unterbrochen von frustriertem Getrampel und Rufen von Pleeeeease! – dass man frühestens ins Wohnzimmer gehen darf, wenn der kleine Zeiger ganz nach unten und nicht zur Seite zeigt.

(Es gibt natürlich auch Kinder, die durchschlafen und an Morgen geweckt werden müssen. Das ist ihnen peinlich und die Eltern fragen sich besorgt, was sie den falsch gemacht haben könnten.)

Christmas ist eine Pyjama Party: Die Kinder öffnen die Geschenke im Schlafanzug, während die Eltern im Bademantel mit einem Kaffee in der Hand versuchen, irgendwie wach zu werden. Die Vorstellung, dass man einen Anzug anzieht und sich rasiert und die Kinder ihre besten Kleider verpasst bekommen – so die Sitte in der Familie der Schönsten Germanin – macht die ganze Sache für Angelsachsen unangenehm formell.

Der nächste Unterschied sind die Stockings, die überdimensionierten Strümpfe, die an den Kamin gehängt werden (sonst kann man sie auch auf den Tisch legen). Hier wird Nikolaus nachgeholt: Santa tut Süßigkeiten und kleinere Geschenke dort hinein. Stockings werden zuerst ausgeleert, damit man etwas essen kann und keine Zeit mit einem Frühstück vertrödeln muss. Oder so sehen es zumindest die Kinder. Die Eltern verbringen einen großen Teil des Morgens mit dem Versuch, sie wenigstens der Form halber in irgendwas ohne Zucker beißen zu lassen.

Stockings sind mehr als nur ein Vorspiel. Sie halten den Glauben an den Weihnachtsmann wach, lange nachdem die Kinder vermuten, dass die großen Geschenke von den Erwachsenen kommen.

Wir hatten in anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Angelsachsen ausflippen, wenn sie sich anständig bedanken. Das gilt natürlich auch an Weihnachten, zumindest wenn man schon etwas älter ist. Ein Geschenk wird vom Haufen genommen, ausgepackt, der Inhalt bestaunt, bewundert, ausprobiert, vorgeführt, geliebkost, gelobt, gepreist, gedrückt, während anwesende Deutsche glasige Augen bekommen, denn diese Phase kann sich hinziehen.

Ist dann alles endlich ausgepackt, zieht man sich irgendwann doch an. Es folgt das übliche Programm mit dem Besuch bei Verwandten und Essen. Selbstverständlich wird auch an Christmas Day American Football gespielt. Nach einem langen Tag mit so vielen Keksen und Milch (und dem gelegentlichen Schuss Sherry) will Santa ja auch nur noch die Füße hochlegen und sich unterhalten lassen, während die Elfen erschöpft an ihren Werkbänken zusammensacken und Mrs. Claus die Rentiere abreibt.

Die Rentiere: Schaut man sich das Gedicht von 1823 an, das wir am Anfang zitiert haben und das von zentraler Bedeutung für die moderne Santa-Claus-Forschung ist, finden wir in der ganz ursprünglichen Version acht Namen:

Now, Dasher! now, Dancer! now, Prancer and Vixen!
On, Comet! on, Cupid! on, Dunder and Blixem!
To the top of the porch! to the top of the wall!
Now dash away! dash away! dash away all!

Dunder and Blixem sind am interessantesten, denn inzwischen sind sie zu Donner and Blitzen mutiert. Die ursprünglichen Namen kommen aus dem Niederländischen: Es handelt sich um donder und bliksem in einer englischen Schreibweise. „Santa Claus“ selbst kommt auch von sinterklaas. Hier sehen wir den Einfluss der früheren niederländischen Kolonie New Amsterdam, die 1674 von den Engländern übernommen wurde und heute besser als New York bekannt ist.

Aus Blixem wurde sehr schnell Blixen, damit es sich mit Vixen reimt. Wann und warum die deutschen Namen die niederländischen verdrängten, ist allerdings nicht bekannt. Klar ist nur: Die Deutschen haben den Holländern still und heimlich zwei Rentiere abgejagt. Und die regen sich über irgendwelche Fußballspiele auf!

Aber wo ist Rudolph, das einzige Rentier, das auch Deutsche kennen? Der Rotnäser kam erst 1939 als Werbeidee von der Kette Montgomery Ward hinzu, die ein Gedicht mit ihm an Kinder verschenkte. Im Jahr 1948 wurde ein Film veröffentlicht und Gene Autrys Version des Liedes (mit „Donner“ und „Blitzen“) wurde im Jahr darauf ein Hit. Puristen schüttelten sich, aber Santa war glücklich, denn er hatte ein neuntes Rentier.

Das ist auch gut so, denn die leuchtende, heiße Nase von Rudolph macht es erst möglich, Santas Weg vom Nordpol aus zu verfolgen. Diese wichtige Aufgabe übernimmt seit mehr als 50 Jahre die nordamerikanische Luftverteidigung (NORAD; Satzeichen umformatiert):

Rudolphs Nase sendet ein ihn kennzeichnendes infrarotes Signal aus, gleich dem eines Raketenabschusses. Die Satelliten können Rudolphs leuchtend rote Nase praktisch ohne Probleme entdecken. Dank langjähriger Erfahrung ist NORAD mittlerweile sehr erfolgreich darin, ein Flugzeug zu verfolgen, das in den nordamerikanischen Luftraum eindringt, den Abschuss von Raketen in der ganzen Welt zu entdecken und den Ablauf von Santas Reise zu verfolgen – dank Rudolph.

Früher musste man bei NORAD anrufen, um Santas Position zu erfahren, heute kann man seine Reise live im Internet in sechs Sprachen verfolgen.

Der sehr ernste Hintergrund dieser Einrichtung wird den Kindern verschwiegen. Der versehentliche Abschuss von Santa durch die kanadische oder amerikanische Luftwaffe wäre natürlich eine Katastrophe. Die Kampfflugzeuge, die ihn begleiten, haben seit dem 11. September 2001 die Aufgabe, den Schlitten vor Anschlägen zu schützen. Es wird – wieder wegen der Kinder – nicht viel darüber geredet, aber es ist bekannt, dass die Al-Kaida Santa Claus auf eine ihrer eigenen Listen führt.

Von diesen bösen Dingen weiß Kind Nummer Eins noch nichts. Verwöhnt von einem Leben mit iChat ist es für sie selbstverständlich, dass man im Internet sehen kann, wo sich Santa gerade aufhält. Dass niemand weiß, wo das Christkind gerade ist, ist dank der Erklärung mit Rudolphs Nase auch einigermaßen verständlich. Wie es aber ohne Schlitten, Rentiere und Elfen die Geschenke transportiert – nun, das soll mal schön die Schönste Germanin erklären.

(Danke an NM für niederländisches Fachwissen)

[Ergänzt 31. Jan 2010: Neuer Link für Santa-Tracking, Danke an BF]

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