Einige Bemerkungen zu den Anti- und Pro-Militär-Demonstrationen in Berkeley

Februar 18, 2008

In Berkeley in Kalifornien ist es vor einigen Tage zu zeitgleichen Demonstrationen gegen und für das Militär gekommen. Dieser Autor hatte eigentlich vor, die Sache kurz im nächsten ZEUGS-Eintrag abzuhandeln, aber Zombietime hat eine längere Bilderserie [diesen Link bitte merken] zu den Protesten ins Netz gestellt. Sie bietet Beispiele für mehrere Dinge, die wir in diesem Blog besprochen haben oder ohnehin besprechen wollten.

Der Hintergrund:

Seit September 2007 belagert die feministische Pazifisten-Gruppe Code Pink ein Rekrutierungsbüro der Marines in Berkeley. Das ist an sich nicht wirklich originell. Aber am 29. Januar beschloss der Stadtrat, die Marines aufzufordern, das Büro zu schließen. Anderenfalls sollten sie offiziell als uninvited und unwelcome intruders klassifiziert werden [PDF]:

The United States Marine Corps is being used as one of the means of perpetrating and prolonging illegal, unconstitutional and unnecessary wars of the United States.

Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Neben den üblichen Protestbriefen und YouTube-Schnitten [YouTube] der Ratssitzung wurden handfeste Konsequenzen angedroht: Mehrere Senatoren und 71 Abgeordnete des Repräsentantenhauses wollen 2,1 Millionen Dollar an Bundesmitteln für die Stadt streichen, Abgeordnete im Parlament von Kalifornien 3,3 Millionen Dollar an Landesmitteln für Verkehrsprojekte stoppen (wir erinnern uns: Der Bund hat als Druckmittel nicht die Peitsche des Gesetzes, sondern nur das Zuckerbrot des Geldes).

Bürgermeister Tom Bates – selbst ein ehemaliger Hauptmann – versuchte schnell klarzustellen, dass die Stadt nicht gegen Militärangehörige sei, sondern nur gegen den Irak-Krieg. Das besänftigte niemand. Als Folge der Proteste kam der Stadtrat am 12. Februar zusammen, um seine Erklärung zu überdenken. Gleichzeitig fanden sich Tausende Befürworter und Gegner zu Demonstrationen vor dem Rathaus ein.

Der tiefere Hintergrund:

Berkeley ist eine Universitätsstadt, die im Vietnam-Krieg ein Zentrum der Anti-Kriegs-Bewegung war. Bis heute ist sie der wohl linkeste Ort in den USA – hier klettern Aktivisten schon mal aus Protest nackt auf die Bäume. Konservative Amerikaner sehen Berkeley als einen Hort von Irren, die das Land in den Abgrund stürzen wollen. Die Bürger sehen sich selbst als progressiv und aufgeklärt.

Bei der Serie muss man weiter im Hinterkopf behalten, dass Zombietime eine konservative Website ist, was sich in der Bildauswahl und den Kommentaren niederschlägt.

Zu den Bildern selbst:

Flaggen – Wir hatten besprochen, dass auch Regierungsgegner die Stars and Stripes zu ihren Demos mitnehmen. Hier sehen wir das vergleichsweise wenig, und wenn, ist die Flagge meist verkehrt herum oder es werden mit einer Zigarette Löcher hineingebrannt.

Sprache – Wir haben dafür aber ein schönes Beispiel für „Nazi“ als generische Beleidigung in „Fuck conservative neo-Nazis“ (wohl im Gegensatz zu den liberalen Neo-Nazis). In einer Bildunterschrift wird von wingnuts and moonbats gesprochen.

To play hookey – Blaumachen von der Schule.

Städtische Polizei – Auf den Schulterabzeichen der Polizisten ist der Schriftzug Berkeley Police zu sehen: Wie besprochen gehören die Beamten zur Stadt, nicht zum Bundesstaat oder gar zum Bund.

Namensschilder – Eigentlich sollte das Folgende in einem eigenen Eintrag erklärt werden, aber wenn wir schon mal dabei sind –

Auf mehreren Bildern ist zu erkennen, dass die Polizisten Namensschilder tragen. Ein Foto [JPG] etwas unterhalb der Mitte der ersten Seite zeigt zum Beispiel einen vermummten Demonstranten, der seinen Mittelfinger in die Kamera streckt; mit dem Rücken zu ihm steht eine Beamtin mit dem name tag „Speelman 79“. Die Zahl ist die badge number, auch shield number genannt, die ebenfalls zur Identifizierung dient. In größeren Städten sind diese Nummern natürlich auch etwas größer.

Mit Hilfe von Google lernen wir: Bei unserer Beamtin handelt es sich mit großer Sicherheit um die Streifenpolizistin Samantha Speelman. Sie wurde 2006 wegen unrechtmäßiger Verhaftung angeklagt – da sie im Dienst ist, gehen wir von einem Freispruch aus. Im Jahr zuvor fing sie einen Kunstdieb. Und so weiter.

Namenschilder und Dienstnummern bei Polizisten sind in den USA (und Teilen von Kanada und Großbritannien [PDF]) normal. Einmal soll damit der Kontakt zum Bürger verbessert werden. Das ist auch der Grund, warum die Polizei von Berkeley von sich aus den Dienstplan der Streifenbezirke [PDF] mit den Namen der zugeteilten Beamten veröffentlicht. Zweitens dienen sie als Schutz gegen Übergriffe der Polizei, denn der Bürger kann damit genau sehen, mit wem er es zu tun hat.

Das Prinzip der Kontrolle durch das Volk findet in den angelsächsischen Staaten zwar seine wichtigste Umsetzung im Geschworenensystem: Bei einer Klage wegen Polizeibrutalität entscheidet nicht ein Richter – Kollege Staatsdiener – über Schuld oder Unschuld, sondern eine Jury, also die Bürger. Aber durch die Namensschilder und offen getragenen Dienstnummern geht das Prinzip noch viel weiter.

Berkeley ist ein dankenswertes Beispiel, denn hier gibt es die Organisation Cop Watch:

We have joined together to fight for our rights and the rights of our community by taking on the task of directly monitoring police conduct. That’s right. We walk the streets and watch the police.

Die Gruppe bringt ein Handbuch heraus, das Cop Watch Handbook [PDF]. Dort sind nicht nur die Rechte und Pflichten der Beamten in Berkeley aufgeführt, sondern in einem praktischen Anhang auch die Namen und Dienstnummern aller Polizisten der Stadt. Ja, das ist legal.

Mit dem Handbuch bewaffnet können wir jetzt – analog zum berühmten britischen train spotting – auf unseren Bildern etwas cop spotting betreiben. Der Teenager auf Seite 2 der Bilderserie wird von den Beamten mit den Dienstnummern 35 und 124 festgenommen. Nun, das sind die Streifenpolizisten P. Anderson und Bekel. Wir wissen das, die Eltern des Jugendlichen wissen das, sein Anwalt weiß es, die Presse weiß es und sie alle finden es völlig normal. Es dürfte niemanden überraschen, dass Amerikaner die anonyme deutsche Polizei gruselig finden.

Fotos von Polizisten – Was uns zu der Frage bringt, ob dieses Bild überhaupt legal ist. In Deutschland darf man einen Polizisten bekanntlich nicht einfach fotografieren: Das Recht auf das eigene Bild, abgeleitet vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht, ist wichtiger als das Recht des Bürgers auf Informationen, zumindest so lange der Polizist nichts Verbotenes tut.

Wie in ähnlichen Fällen ist das in Amerika genau umgekehrt, denn das First Amendment schlägt alles. In der Öffentlichkeit müssen sich insbesondere Polizisten Fotos gefallen lassen [PDF]:

On occasion, law enforcement officers may object to photography but most understand that people have the right to take photographs and do not interfere with photographers. They do have the right to keep you away from areas where you may impede their activities or endanger safety.

Allerdings beschweren sich Fotografen in beiden Staaten regelmäßig über Polizisten, die sie drangsalieren.

Zu den Plakataufschriften:

„Keep your burka, I’ll keep my clitoris“ – Gemeint ist die Praxis der Genitalverstümmelung, von der bis zu 140 Millionen Frauen insbesondere in muslimischen Staaten Nordafrikas betroffen sind. Das „USMC“ auf dem Sweatshirt steht für United States Marine Corps.

„Burka“, „burqa“ Wie es sich für einen Haufen Intellektueller gehört, gibt es Streit über die Schreibweise. Das Englische ist bei arabischen und persischen Namen sehr großzügig mit dem Q.

„Las mujeres dicen NO a la guerra“Spanisch ist in Kalifornien faktisch Zweitsprache, deswegen finden wir es auch hier.

„Berkeley Council – The Few, The Proud, The Insane“ ist eine Anspielung auf den Marine-Slogan The few, the proud, the Marines.

„American Indians support U.S. Marines“ – Für viele Deutsche überraschend ist die Zahl der Indianer in den US-Streitkräften: Der Prozentsatz ist höher als in jeder anderen ethnischen Gruppe.

Im Zweiten Weltkrieg kämpften aus einer Gesamtbevölkerung von weniger als 350.000 mehr als 44.000 Indianer. Sie erhielten drei Medals of Honor – die höchste Militärauszeichnung der USA – 51 Silver Stars, 34 Distinguished Flying Crosses, 47 Bronze Stars und 71 Air Medals. In einigen Stämmen zogen 70 Prozent der Männer in den Krieg. Wie bei den Weißen übernahmen die Frauen plötzlich Aufgaben, die bis dahin Männern vorbehalten waren.

Am Ende des 20. Jahrhunderts gab es unter den zwei Millionen Native Americans etwa 190.000 Veteranen. Die Indianer-Nationen verleihen eigene Medallien und verweisen stolz auf Kriegshelden wie Ira Hayes von den Pima (einer der Fahnen-Soldaten von Iwo Jima [GIF]) oder Heldinnen wie Lori Piestewa von den Hopi (gefallen im Irak, Vater kämpfte in Vietnam und Großvater im Zweiten Weltkrieg).

Wer mit vielen Cowboy-Filmen und wenig Kontakt zu echten Indianern aufgewachsen ist, mag das verwirrend finden, daher werden wir getrennt auf die Identitätsfrage eingehen. Auch die berühmten Code Talkers besprechen wir später.

Kriegsschauplätze – Ein Plakat auf der unteren Hälfte der zweiten Seite listet Schlachten auf, bei denen die Marines siegreich waren: Tripolis (Libyen) in der Barbary War von 1805; Belleau Wood im Ersten Weltkrieg; Iwo Jima im Zweiten Weltkrieg; Chosin Reservoir und Inchon im Korea-Krieg; Vietnam ist, äh, vielleicht bewusst nicht näher ausgeführt; Falluja (dt. Falludscha) im Irak-Krieg.

„Hillbilly Armor – Hou$e Bushelzebub“ – Was genau das heißen soll, bleibt diesem Autor auch nach dem Besuch der Website unklar. Offenbar ist der Mann ein Straßenmusiker.

„Semper Fidelis“, kurz „Semper Fi“ – Motto der Marines, „immer treu“.

Wie ging es nach den Demos weiter? Die Sitzung des Stadtrates dauerte lange, denn es meldeten sich 128 Bürger zu Wort. Am Ende stimmt der Rat mit 7-2 für eine neue Erklärung, in der er seinen „tiefen Respekt für die Männer und Frauen in unseren Streitkräften“ ausdrücken. Darin soll zwar das Recht der Marines bestätigt werden, ihr Rekrutierungsbüro zu betreiben, aber auch das Recht der Gegner, direkt davor zu protestieren.

Die materiellen Kosten der Demonstration für die Stadt werden auf 93.500 Dollar geschätzt, insbesondere wegen der Überstunden der Polizei. Die Abgeordneten in Washington und Sacramento wollen weiter die Mittel sperren.

Code Pink will die Proteste fortsetzen. Zudem hat die Gruppe angekündigt, das Ganze basisdemokratisch zu lösen: Bei der Wahl im November sollen die Bürger der Stadt per Volksentscheid bestimmen, ob Rekrutierungsbüros in Berkeley eine Sondergenehmigung brauchen.

[Änderung 13. Juli 2008: Anderer Link zum Recht auf das eigene Bild, nach einem Hinweis von PB, vielen Dank]

%d Bloggern gefällt das: