Plain English für komplizierte Deutsche

Oktober 8, 2006

Der „Spiegel“ hat kürzlich (Heft Nr. 40) in einer Titelgeschichte einen Verfall der deutschen Sprache beklagt, an dem – natürlich – irgendwie Englisch mit schuld sein soll. Wir wollen wie immer nicht direkt darauf eingehen, sondern uns mit einer Stelle in dem Artikel von Mathias Schreiber beschäftigen, die dieser Autor faszinierend fand:

Lange, architektonisch raffiniert gebaute Sätze, wie sie bei Kleist, Thomas Mann, Thomas Bernhard, sogar noch bei dem jungen Daniel Kehlmann zu finden sind, sterben allmählich aus. […] In den Sätzen von Goethe und Heine lag die durchschnittliche Zahl der Wörter noch bei 30 bis 36; Thomas Mann brilliert in dem Romanzyklus „Joseph und seine Brüder“ mit einem Rekordsatz, der 374 Wörter umfasst. Heutige Zeitungstexte begnügen sich mit 5 bis 13 pro Satz.

Faszinierend ist diese Passage deswegen, weil die Einstellung dahinter – lange Sätze sind gut und ein Zeichen für Anspruch – so völlig gegensätzlich zur Haltung der Angelsachsen ist.

Denn in den USA und Großbritannien gilt das Ideal einer möglichst klaren, eleganten Sprache, mit prägnanten, straffen Sätzen: Plain English nennt man das. Ein moderner englischer Text soll so geschliffen sein, dass man mit ihm Glas schneiden könnte. Sätze, bei denen man einen Architekten bemühen muss, gelten nicht als „brillant“, sondern bestenfalls als antiquiert. So schrieb man im 19. Jahrhundert.

Auch dieser kulturelle Unterschied wird nicht in der Schule gelehrt, mit vorhersehbaren Folgen: Deutsche schreiben auf Englisch den Stil weiter, der ihnen als „gut“ beigebracht wurde, der aber auf Angelsachsen unnötig kompliziert, umständlich oder sogar selbstverliebt wirkt. Amerikaner und Briten wollen ihrerseits auch auf Deutsch knackig und straff schreiben, was aber bei Deutschen als anspruchslos ankommt. Eine gewisse Grundkomplexität ist für Deutsche ein Zeichen der Bildung, wie der „Spiegel“ betont. Für Angelsachsen nicht. Dort gelten andere Kriterien.

Deswegen wollen wir uns heute mit Plain Englisch befassen.

Zuerst: Keiner der beiden Stil-Arten ist „besser“. Es gibt einfach unterschiedliche Vorstellungen darüber, was ein „guter“ Stil ist, genau so, wie es unterschiedliche Tischmanieren gibt. Wer in beiden Kulturen unterwegs ist, muss halt beide Arten kennen und möglichst auch anwenden können. Es sind ohnehin, wenn man so will, Mode-Erscheinungen: In 200 Jahren kann sich alles ins Gegenteil verkehrt haben.

Gehen wir aber erstmal zwei Jahrhunderte zurück und schauen uns Beispiele für die Entwicklung des Englischen an. Die Abschiedsrede von George Washington von 1796 müsste Herrn Schreiber das Herz jubeln lassen, denn schon der erste Satz hat etwa 100 Wörter:

The period for a new election of a citizen to administer the executive government of the United States being not far distant, and the time actually arrived when your thoughts must be employed in designating the person who is to be clothed with that important trust, it appears to me proper, especially as it may conduce to a more distinct expression of the public voice, that I should now apprise you of the resolution I have formed, to decline being considered among the number of those out of whom a choice is to be made.

Im Jahr 1863 haben wir dann den Gettysburg Address von Abraham Lincoln, das als eine der besten Reden in der Geschichte der USA gilt (wohl auch, weil sie nur drei Minuten dauerte). Dort ist schon alles kompakter:

Now we are engaged in a great civil war, testing whether that nation, or any nation so conceived and so dedicated, can long endure. We are met on a great battle-field of that war. We have come to dedicate a portion of that field, as a final resting place for those who here gave their lives that that nation might live.

Richtig lang ist nur der letzte Satz der Rede – hier nicht aufgeführt – aber das ist ein rhetorisches Mittel, ein Crescendo. Wir kommen 100 Jahre später zu Martin Luther Kings I Have a Dream:

But one hundred years later, the Negro still is not free. One hundred years later, the life of the Negro is still sadly crippled by the manacles of segregation and the chains of discrimination. One hundred years later, the Negro lives on a lonely island of poverty in the midst of a vast ocean of material prosperity.

Inzwischen reden die Politiker in den USA wie auch in Deutschland für das Fernsehen, in soundbites. Daher verzichten wir auf moderne Beispiele. Halten wir fest, dass Plain English seit 1998 für den Bund dank Bill Clinton vorgeschrieben ist und dass die US-Regierung dazu eine eigene Website betreibt.

Bevor wir von großen Politikern zu normalen Menschen kommen, kurz noch ein Ausflug zu den Göttern. Der stilistische Gegenpol zu Thomas Mann (Nobelpreis für Literatur 1929) ist Ernest Hemingway. Dessen Schreibe – „simple, direct, unpretentious, and aesthetically elegant“ – war ein Grund für seinen Nobelpreis 1954:

For his mastery of the art of narrative, most recently demonstrated in The Old Man and the Sea, and for the influence that he has exerted on contemporary style.

Zwar gab es schon vor Hemingway viele amerikanische Autoren, die einen klaren Stil bevorzugten – die meisten Deutschen dürften zumindest Mark Twain kennen. Aber Hemingway prägte Englisch bis ins Fundament. Der Sender CNN hält fest, dass selbst Fernsehjournalisten ihm bis heute nacheifern. Hemingway ist auch deswegen wichtig, weil er zeigt, wie schwierig ein klarer Stil ist: Er hat seine Texte endlos überarbeitet und sein Spruch über den Wert des ersten Entwurfes ist legendär (und jedem Autor, egal wo, egal in welcher Sprache, ein Trost).

Allerdings gab es neben Hemingway auch William Faulkner, ebenfalls Nobelpreisträger (1949), dessen Stil schon wieder in die andere Richtung geht. Die Götter sind vielleicht Vorbilder, aber als Normen für den Alltag nur bedingt hilfreich.

Schauen wir uns also die Normalsterblichen an und was man ihnen als guten Stil beibringt, wie Essays, Aufsätze, Geschäftsbriefe und alle andere Texte laut Lehrbuch auf Englisch geschrieben werden sollen.

Ein Klassiker ist The Elements of Style von William Strunk Jr. und E. B. White. Seit dem Ersten Weltkrieg aufgelegt, in millionenfacher Auflage gedruckt, ist es wesentlich einflussreicher als vergleichbare deutsche Werke wie die „Stilfibel“ von Ludwig Reiners. Strunk und White schreiben:

Clarity, clarity, clarity. […] Usually what is wrong is that the construction has become too involved at some point; the sentence needs to be broken apart and replaced by two or more shorter sentences.

Wie einflussreich White selbst war, sieht man am Random House Guide to Good Writing von 1991, der folgende Ratschläge zum Stil gibt:

The simple expressiveness common to all stylists is found especially in the writing of E. B. White, who spent fifty-one years writing for The New Yorker […] What distinguishes a stylist like White is not only the beauty of his expression but also his economy.

Und um zu zeigen, wie grundsätzlich diese Ansicht ist, hier noch die wenig subtile Bodybuilding-Metapher aus The Complete Idiot’s Guide to Grammar and Style:

Write simply and directly. […] Hard and lean sentences, like hard and lean bodies, require far more effort than flabby ones. And they are so much nicer.

Flabby – „schwabbelig“ – ist dann auch die Art, wie lange, „anspruchsvolle“ Sätze bei Angelsachsen ankommen: Als hätte man sich nicht bemüht, das Wesentliche herauszuarbeiten, sondern seine Gedanken nur hingerotzt. Nur ein fauler Mensch würde seinen Lesern solche Sprachbrocken zumuten.

Auch die Briten bemühen sich um Plain English und haben dazu viele Ratschläge. Beim britischen Wirtschaftsmagazin The Economist finden wir neben den berühmten Stil-Ratschlägen von George Orwell ein Zitat des amerikanischen Journalisten Arthur Brisbane:

Avoid fancy writing. The most powerful words are the simplest. ‘To be or not to be, that is the question,’ ‘In the beginning was the word,’ ‘We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep,’ ‘Out, out, brief candle,’ ‘The rest is silence.’ Nothing fancy in those quotations. A natural style is the only style.

Was ist bei allen Ratschlägen gleich? Write simply, write clearly – der ideale englische Stil ist schlicht, die Sätze sind klar formuliert, so klar, dass der Stil durchsichtig wird und der Inhalt zu schweben scheint. Make it look simple ist eine andere Variante dieser Forderung. Wer das alles seltsam findet, kann es als eine dieser angelsächsischen Formen des Understatement sehen.

Und wem das alles zu abstrakt ist: Hier ein konkretes Beispiel für die unterschiedliche Wertung. Bei der Wiedergabe der direkten Rede, sei es in Zeitungen oder Romanen, finden man auf Englisch said, immer und immer wieder – hier zum Beispiel. Deutsche Autoren streuen dagegen „betonte“, „erklärte“, „teilte mit“, „meint“ und ähnliche Variationen ein. Die amerikanische Bestsellerautorin Elizabeth George schreibt dazu:

[S]aid is a little miracle word that no one should abandon. What happens when a writer uses said in a tag line is that the reader’s eye skips right over it. The brain takes the name of the speaker, while the accompanying verb — providing it’s the verb said — simply gets discarded.

Said ist für sie ein „unsichtbares“ Verb, wie vielleicht noch asked und answered. Alles andere zieht nur unnötige Aufmerksamkeit auf sich – der Stil beginnt sich dem Leser aufzudrängen, er wird künstlich, affektiert, umständlich. Ein ständiges „sagte“ geht im Deutschen dagegen nicht, denn hier ist es wichtiger, Wiederholungen zu vermeiden. Auf Englisch ist das weniger zwingend, wie man oben bei White sieht, der zwei Mal sentence in kurzer Folge verwendet. Für einen Deutschen sind zwei Mal „Satz“ in einem Satz grundsätzlich ein „Satz“ zu viel.

Was können wir aus dem Ganzen mitnehmen? Es bestätigt zunächst eine frühere Feststellung in diesem Blog: Übersetzen ist die Hölle. Man verbringt viel Zeit damit, Deutschen zu erklären, warum aus einem ihrer sorgfältig konstruierten Sätze plötzlich drei englische geworden sind, oder muss Amerikanern klar machen, dass ihre geschliffenen Sprachjuwelen eine germanische Fassung benötigen. Dieser Autor wird dabei das Gefühl nicht los, dass mehr Bildung nur uneinsichtiger macht. Im untersten Höllenkreis stapeln sich die Texte von Professoren.

Wer als Deutscher auf Englisch schreibt, muss sich an das Gefühl gewöhnen, dass ihm alles viel zu schlicht erscheint. Er sollte seine Sätze aufbrechen und die Zahl der Nebensatz-Ebenen reduzieren. Semikolons werden zu Punkten, Adverbien werden ganz gestrichen. Konstruktionen wie „architektonisch raffiniert gebaut“ will man im modernen Englischen nicht sehen.

Wer wirklich viel auf Englisch schreibt, muss sich leider früher oder später die Mühe machen, tatsächlich eines der oben genannten Stilbücher zu lesen und sich Vorbilder suchen. Dieser Autor würde zum Beispiel töten, um auf Englisch Sachtexte so schreiben zu können wie die Autoren im Smithsonian Magazine.

Und zuletzt: Keine Angst vor dem angeblichen Problem des „Bad Simple English“ (BSE), einen Begriff, den es bezeichnenderweise im Englischen selbst überhaupt nicht gibt. Dahinter steht offenbar die Befürchtung, dass man sich mit einfachem Englisch lächerlich macht, oft gepaart mit der Forderung, doch lieber ganz bei Deutsch zu bleiben. Schlechtes Englisch ist natürlich genauso unschön wie schlechtes Deutsch, aber die Furcht vor mangelnder Komplexität kennen nur die Germanen.

In diesem Jahrhundert zumindest.

(„Deutsch for sale“, Martin Schreiber, „Spiegel“ Heft 40, 2. Oktober 2006; Zitat von Elizabeth George aus „Write Away“, Hodder & Stoughton 2004; „The Random House Guide to Good Writing“ Michell Ivers, Ballantine Books 1991; „The Complete Idiot’s Guide to Grammar and Style“, Laurie E. Rozakis, Alpha Books 1997; „The Elements of Style“, William Strunk Jr and E.B. White, Third Edition, MacMillan Publishing 1979)

(Geändert 12. Oktober 2006: Link zu britischen Handbüchern zu Plain English repariert)