Wie das Internet das Vorurteil vom prüden Amerikaner tötete

Mai 19, 2009

Heute wollen wir einem sterbenden Vorurteil den Gnadenstoß geben: Die Vorstellung, dass der Amerikaner an sich prüde ist. Eigentlich hatte dieser Autor vor, die Idee einfach verrecken zu lassen, denn er wird kaum noch darauf angesprochen. Aber ein kultureller Unterschied muss erklärt werden, denn er ist es wohl, der als Prüderie fehlgedeutet wird und den Irrlauben wie einen verwundeten Zombie durch Deutschland taumeln lässt. Nehmen wir dieses Zitat einer amerikanische Austausch-Studentin, unkommentiert (und damit Regel-2-konform) veröffentlicht auf Spiegel Online:

Einer meiner ersten Eindrücke von Deutschland war shocking, aber doch irgendwie repräsentativ. Als ich in der ersten Nacht hier den Fernseher anmachte, flimmerten halbnackte Frauen über den Bildschirm. Daneben war eine Telefonnummer eingeblendet, damit Männer diese Mädchen anrufen. […] Wo bitte war ich hier gelandet?

Wenn wir erklärt haben, warum die sonst offenbar lebenslustige junge Dame (die germanische Jugendliche beim Thema Beziehungen „unlocker“ findet) in dieser Situation geschockt ist, hört hoffentlich auch das letzte Kratzen am Sargdeckel auf. Der erfahrene Leser ahnt, dass hier wieder eine unserer groben Faustregeln droht.

[Wir sollten betonen, dass dieser Autor für den Inhalt gelinkter Websites keine Haftung übernimmt. Auch wenn er sich um zahme Links bemüht und auf einen besondern ganz verzichtet hat, will man einige Seiten vielleicht nicht auf der Arbeit aufrufen. Kinder sollten heute wo ganz anders hingehen.]

Die Vorstellung vom prüden Ami war natürlich schon immer albern, wie man sich nach unserer Besprechung des First Amendment denken kann. Es ist nicht nur wegen der erotischen Literatur. Statistiken über die Größe der Porno- und Erotikindustrie kommen oft aus nicht objektiven Quellen und leiden unter schlampiger Recherche, denn es

is an industry where they exaggerate the size of everything

Aber soweit das jemand überhaupt sagen kann, sind die USA der größte Video-Produzent der Welt und beim Umsatz immerhin auf Platz vier (hinter China, Südkorea und Japan). Die bekanntesten Erotik-Marken wie Playboy stammen aus den USA. Ein stetiger Strom amerikanischer sex bombs beglückt seit Jahrzehnten die Welt, darunter Bettie Page [nervige Musik], Marilyn Monroe oder heutzutage Dita von Teese, die jüngst zur Förderung des germanischen Liedgutes nach Europa eingeflogen wurde (erfolglos).

Amerikaner machten nebenbei aus dem pin-up so etwas wie eine Kunstform. Das wurde in Deutschland zuerst nicht gewürdigt – Betty Grable ist hierzulande trotz How to Marry a Millionaire wenig bekannt – vermutlich weil man damit beschäftigt war, auf die entsprechend verzierten Flugzeuge zu schießen. Die US-Luftwaffe ist in diesem Punkt zurückhaltender geworden und lässt jetzt nicht mehr zu, dass die Besatzungen „Annie Freeze“ [JPG] (oder gar „Ass Bandits“ [JPG]) auf ihre Flugzeuge malen. Bei einem Stückpreis von knapp einer Milliarde Dollar pro B-2-Bomber ist das vielleicht auch besser so.

Unglücklich waren während des Kriegs aber auch die Briten, oder genauer, die britischen Männer. Sie klagten, die auf der Insel stationierten US-Soldaten seien

oversexed, overpaid and over here

Die Antwort der Amerikaner lautete, dass die Briten undersexed, underpaid and under Eisenhower seien. Ist da etwas dran? Keine Ahnung. Aber wir können festhalten, dass der Vibrator in Großbritannien erfunden wurde.

(Amerikaner finden es übrigens bezeichnend, dass der Push-Up-BH aus Kanada kommt, während die Kanadier gerne im Gegenzug betonen, wie gut er sich in den USA verkauft. Das nur am Rande.)

Nun muss man mit dem ganzen Zeugs ja auch etwas anfangen. Als der deutsche Frauenarzt Ernst Gräfenberg vor den Nazis fliehen musste, nahmen die USA ihn auf und machten aus seinem „Gräfenberg-Ring“ die heutige T-förmige Spirale. Das Verfahren war aber irgendwie noch nicht ideal, und so machten sich die Amerikaner ab Anfang der 50er daran, die Anti-Baby-Pille zu erfinden. Die Einführung 1960 hatte die bekannten gesellschaftlichen Folgen. Dazu gehören im weitesten Sinne auch unprüde Dinge wie der Summer of Love 1967.

Bis dahin hatte der amerikanische Insektenforscher Alfred Kinsey bei der ersten großangelegte wissenschaftlichen Untersuchung des Sexualverhaltens nachgeschaut, was Menschen wirklich im Bett treiben. Der britische Auswanderer Alex Comfort schrieb mit dem Bestseller Joy of Sex 1972 das bekannteste nicht-klinische Sex-Handbuch seit dem Kama Sutra, damit jeder wusste, was sie noch einüben mussten. Kurz vorher hatte ein Kollektiv von Feministinnen den einflussreichen Leitfaden Our Bodies, Ourselves herausgebracht, der sich (unter anderem) mit Sex aus weiblicher Sicht beschäftigte.

Playboy, riesige Sex-Studien, die Pille – das klingt alles nicht nach prüde. Vielleicht passt das Wort besser auf ein Land, in dem Gerichte gegen Peepshows vorgehen, bei Sportlern die Rückennummer 69 verpönt ist und noch vor kurzer Zeit mehrere Bundesminister ein Verbot sämtlicher Pornografie anstrebten. Überhaupt: Wer pon farr zum „Weltraumfieber“ umdichtet, sollte mit dem Vorwurf der Prüderie sehr, sehr zurückhaltend sein.

Und trotzdem.

Wenn ein deutscher Tourist in den USA durch die Stadt schlendert, eine Zeitung aufschlägt, Werbung im Fernsehen guckt oder sich die nun wirklich reichlich vorhandenen Werbeplakate anschaut, am Strand entlanggeht oder im Freibad sitzt, fällt ihm früher oder später ein Unterschied auf: In den USA sieht man in public – im „öffentlichen Raum“ – keine Nackten. Wer das „Ruf! Mich! An!“ aus dem deutschen Fernsehen, die Aussicht an französischen Stränden oder die Seite drei britischer Zeitungen gewohnt ist, wird stutzen. Wo ist das ganze nackte Fleisch?

Versteckt. Denn es gibt einen kulturellen Unterschied zwischen den USA und Westeuropa, den wir uns etwa so merken können:


Öffentliche Nacktheit ist in Amerika dort verpönt, wo Kinder sie sehen könnten.

Das ist mal wieder eine unserer groben Regeln mit vielen Ausnahmen. Zum Beispiel: Auch in den USA gibt es eine FKK-Bewegung, die stolz ihre Wurzeln bis zu Benjamin Franklin zurückverfolgt, der jeden Morgen ein „Luftbad“ nahm.

Aber als Faustregel erklärt sie, warum Amerikaner ohne einen eigenen Garten trotz endloser Strände und viel Sonne Bikini-Streifen haben, wieso in einem Land, in dem es faktisch keine Zensur von Pornografie gibt, die Mädchen von Bild undenkbar wären oder warum einer aufgeschlossenen Austausch-Studentin unwohl dabei ist, wenn im unverschlüsselten Fernsehen für Sex-Hotlines geworben wird. Damit wird klar, warum der Amerikaner beim Umziehen im Freibad unglaublich umständlich mit seinen Handtüchern herumfummelt, während der Germane sich bestenfalls von der Masse wegdreht, bevor er seine Badehose fallenlässt. Man versteht besser, warum aus Kinder- und Jugendfilmen jeder überflüssige Hautfetzen gnadenlos ausgemerzt wird.

Wichtig ist das „könnten“ – Amerikaner verhalten sich auch gerne so, wenn kein Kind in unmittelbarer Nähe ist. Wie gesagt, es ist eine grobe Regel für einen komplizierten Sachverhalt, aber eine nützliche.

Ist sie denn logisch? Nö. Deutsche können diese kulturelle Eigenheit mit einer gewissen Berechtigung als einen leicht hysterischen Zug sehen, so lange sie das Phänomen nicht mit Prüderie verwechseln. Es ist halt das Gegenstück zu der deutschen Haltung zu Gewaltdarstellungen, die bekanntlich nicht einmal die Österreicher nachvollziehen können. Es besteht jeweils ein tief verwurzelter gesellschaftlicher Konsens, der wenig mit Politik oder Religion zu tun hat und vielen überhaupt nicht bewusst ist, bis sie mit den Regeln einer fremden Kultur konfrontiert werden. Die Experten in den USA wie in Deutschland halten die jeweilige Einstellung ohnehin für Blödsinn.

Kennt man die Regeln und hat man wie dieser Autor einen gewissen Hang zum interkulturellen Sadismus, kann man viel Spaß haben. US-Bekannte, die sich allzu demonstrativ weltoffen und liberal geben, führt er gerne an deutschen Zeitschriftenläden vorbei, was ihnen plötzlich sehr, sehr unangenehm wird. Deutsche reagieren dafür gar nicht gut auf Diskussionen über Kindergeburtstage auf dem Paintball-Platz, obwohl das zum Beispiel für Briten, Franzosen, Niederländer und Schweizer kein Problem ist. Komisch.

Das Vorurteil vom prüden Ami hatte in Deutschland noch andere Ursachen. Da wäre die selektive Darstellung der amerikanischen Geschichte in der Schule mit einer Betonung der Puritans in Massachusetts. Natürlich sind die Leute schon wegen Thanksgiving wichtig. Aber von ihnen auf die Geisteshaltung aller Kolonialisten oder gar der ganz späteren USA zu schließen, ist albern. Bei den Cavaliers in Virginia ging es ganz anders zu:

The Virginia Cavaliers did not see gambling as just a game of dice, but as a way of seeing clues into their futures; much like the way a soothsayer might use his bones. Fortune ruled the lives of Virginian men — they kept records and books for good luck in marriage, sex, love, health, and travel.

Würfelspiele als frühkoloniales Sex-Horoskop stehen erfahrungsgemäß selten in deutschen Lehrplänen. Zudem wird die eigentliche Moral aus der Geschichte der Mayflower-Bande in der Schule oft übersehen: Ihr Projekt einer frommen city upon a hill scheiterte.

Einen gehörigen Teil der Schuld tragen auch die deutschen Medien mit ihrer Begeisterung für religiöse Fanatiker in den USA. Die sind im Sinne einer freak and monster show halt interessanter als, sagen wir mal, die amerikanischen Atheisten. Das ist normales Medienverhalten, wie umgekehrt die Amerikaner vorwiegend von Deutschen hören, die ihre Kochkünste am Penis einer Internet-Bekanntschaft ausprobieren.

Dass es in den USA sonderbare Glaubensgemeinschaften gibt, ist unbestritten – eine andere Folge konnte die jahrhundertelange religiöse Verfolgung auf der einen Seite des Atlantiks und der radikale Schutz der Glaubensfreiheit auf der anderen kaum haben. Wir können diese Leute auch getrost prüde nennen, schon allein weil sie es selbst tun. Aber sie sind nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung.

Oder anders: Sie sind genauso repräsentativ wie die Teilnehmer am Folsom Street Fair, ein jährliches Straßenfest in San Francisco. Der interessierte Leser – der erwachsene interessierte Leser, der diesen Eintrag nicht auf der Arbeit liest, wohlgemerkt – mag sich die Fotostrecke von Zombietime dazu ergooglen. Ja, die Leute machen das auf offener Straße. Seit 25 Jahren.

(Moment, was ist mit den Kindern? Eltern werden am Eingang des Festes ausdrücklich vorgewarnt. Formell findet es also an einem Ort statt, wo die Blagen nicht einfach hereinlaufen können. Einige Teilnehmer nehmen ihre Kinder trotzdem mit, denn vom Gesetz her ist es die Entscheidung des Erziehungsberechtigten und nicht des Staates. In diesem – bewusst extremen Beispiel – beißt sich die juristische Lage mit den kulturellen Vorgaben, weswegen es darüber lautstarken Streit gibt.)

Und am Ende dieses Eintrags haben wir Link für Link für Link demonstriert, warum das Vorurteil über den prüden Amerikaner stirbt: Das Internet. Selbst wer sich nicht der, äh, Eigenrecherche widmet, kann es beim surfen kaum vermeiden, eine Seite der USA zu sehen, die damit nicht vereinbar ist. Serien wie Sex and the City haben ebenfalls dazu beigetragen. In diesem Blog darf natürlich nicht der Hinweis auf Buffy fehlen, wo die Hauptdarstellerin der (angeblichen) Teenie-Serie ständig mit Untoten ins Bett steigt, wenn sie nicht gerade rassenübergreifenden Lesben-Sex hat. Allerdings bleibt bei der Vampirjagd der Ausschnitt zu, versteht sich.

Wir können das Thema hiermit hoffentlich endgültig zu Grabe tragen – und mit Bedauern feststellen, dass die Bikini-Streifen beim US-Besuch kaum zu vermeiden sind.

[Danke an DKS für den Hinweis auf die Cavaliers]