Der Krieg gegen Japan, Teil 8: Die ursprünglichen alliierten Pläne

Juni 1, 2010

Als vorletzten Teil dieser Serie schauen wir uns die ursprünglichen Pläne der Alliierte im Krieg gegen Japan an. Heute werden sie oft als „Alternativen zur Atombombe“ bezeichnet, was nicht ganz richtig ist: Diese Szenarien waren die eigentlichen Pläne, um das Kaiserreich zu bezwingen, die Atombombe war die Alternative. Mehr noch, sie war so etwas wie die Alternative zur Alternative, sozusagen Plan C.

Wir schauen uns die Strategien in der Reihenfolge an, wie sie entwickelt wurden.

Plan A, Version 1: Blockade (War Plan Orange)

Vor dem Zweiten Weltkrieg erstellte das US-Militär eine Reihe von farbkodierten Planspielen. War Plan Black befasste sich mit Deutschland, War Plan Red mit dem ewigen Erzfeind, dem britischen Empire (die Abschnitte für Kanada wurden letztens wieder diskutiert) und War Plan Orange mit Japan. Orange sah vereinfacht gesagt eine Blockade der Hauptinseln bis zur Kapitulation des ausgehungerten Feindes vor.

Warum keine Invasion? Weil Japan als uneinnehmbar galt. Der Historiker Edward S. Miller beschreibt die Überlegungen so:

The Army War College reported Japan to be „almost invulnerable.“ The ferocity of the Imperial Army was legendary. The countryside was mountainous, the valleys filled with rice paddies. […] Invasion, the staff of the AWPD declared, „we honestly believe is a physical impossibility.“

Auch nur ansatzweise denkbar sei eine Invasion der südlichen Insel Kyushu und der Kanto-Ebene bei Tokio – genau die Stellen, die später für Operation Downfall ausgesucht wurden. Wie wir bei der Besprechung des japanischen Kriegsplans Ketsu-Go gesehen haben, war man sich dessen allerdings auch in Tokio bewusst.

Das war also der Plan, den die Amerikaner nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor aus der Schublade holten.

Plan B: Invasion (Operation Downfall)

Und trotzdem entschlossen sich die Alliierten dann zu einer zweiteiligen Invasion: Von Kyushu (Operation Olympic) [JPG] am X-Day 1. November 1945; gefolgt von Honshu südlich von Tokio am Y-Day 1. März 1946 (Operation Coronet) [JPG]. Die Invasionsflotte sollte aus 42 Flugzeugträgern, 24 Schlachtschiffen und mehr als 400 Zerstörern bestehen. Für die Olympic waren 14 Divisionen (mit je um die 15.000 Soldaten) vorgesehen, für Coronet 25 Divisionen. Das wäre die größte Invasionsstreitmacht der Geschichte gewesen.

Der wichtigste Grund für die Änderung war der Faktor Zeit. Nicht nur die Japaner, auch die Alliierten hatten von Anfang an Zweifel an der Fähigkeit von Demokratien, langwierige, verlustreiche Kriege zu führen. Bei einer Blockade mussten aber mehrere Jahre eingeplant werden. Tatsächlich wurde nach VE-Day [Fotos], dem Sieg in Europa am 8. Mai, der Druck in den USA immer größer, den Krieg im Pazifik schnell zu beenden. Die öffentliche Meinung war dabei etwas schizophren:

On the one hand, it gave every indication that it insisted on fighting until it had „completely beaten [the enemy] on the Japanese homeland“ (84 percent approval noted in a poll). On the other hand, it demanded release from economic rationing, as well as at least partial demobilization, beginning virtually the day Germany surrendered (72 percent approval)

Noch während der Krieg im Pazifik tobte, begann in den USA die Demobilisierung: Das Kriegsministerium (der Name damals) wurde zum Entsetzen des amerikanischen Militärs gezwungen, 450.000 Soldaten des Heeres nach Hause zu lassen. Der Kongress forderte sogar den Abzug einer weiteren Million. Die Marine und die Marineinfanterie drückten sich erfolgreich, aber bei einer Invasion würden dem Heer ausgerechnet die kampferfahrensten Truppen fehlen. Der General (und spätere Präsident) Dwight D. Eisenhower schätzte, dass mindestens sechs Monate benötigt würden, um die Einheiten aus Europa wieder kampfbereit zu machen [1].

Entsprechend einigten sich die Alliierten (damals noch ohne die Sowjetunion) auf der Ersten Konferenz von Quebec 1943, Japan solle ein Jahr nach der Kapitulation Deutschlands besiegt sein. Das wäre im Mai 1946 gewesen. Ohnehin war Präsident Franklin D. Roosevelt nicht ein Mann, der das Wort „unmöglich“ ernst nahm [2].

Die Entscheidung für eine Invasion war eine politische, keine militärische. Das ist für die weitere Geschichte wichtig, denn insbesondere die Marine freundete sich nie wirklich mit der neuen Strategie an.

Die Einzelheiten von Operation Downfall können wir auslassen, denn im wesentlichen lagen die Japaner bei ihren Annahmen für Ketsu-Go richtig. Zwei Punkte sollten wir gesondert aufführen:

  1. Der taktische Einsatz von Atomwaffen. Als die japanische Regierung auch nach der Zerstörung von Nagasaki zunächst keine Gesprächsbereitschaft zeigte, wurde über den Einsatz der weiteren Kernwaffen als Teil der Invasion diskutiert. L.E. Seeman vom Manhattan Project erklärte auf Anfrage, bis Olympic dürften sieben weitere Atombomben einsatzbereit sein. Bei einer Analyse der Gefahren für die vorrückenden alliierten Soldaten erwähnte er mit keinem Wort die Strahlung, ein Zeichen dafür, wie wenig selbst die Projektmitarbeiter von den Folgen verstanden [1].
  2. Der Einsatz von Giftgas. Nach den hohen Verlusten bei der Invasion von Okinawa – während der Einnahme der Insel fielen 12.500 US-Soldaten – wurde über den Einsatz von Chemiewaffen gegen die verschanzten japanischen Truppen auf Kyushu diskutiert.

    [T]actical strike aircraft would drop nearly 9,000 tons of chemical weapons on the defending troops in the first fifteen days, with further attacks planned at the rate of just under 5,000 tons every thirty days from then on. As US troops came ashore, they would bring in howitzers and mortars that could deliver an additional forty-five tons a day of poisonous gas on Japanese positions.

    Besprochen wurden auch Chemie-Angriffe auf Städte, was allerdings nach dem Ende der strategischen Bombardierung hinfällig wurde. Japan war Giftgas schutzlos ausgeliefert. Aus Angst vor einer groß angelegten chemischen Bombardierungen der Heimatinseln war die Regierung in Tokio offenbar bereit, einen begrenzten Einsatz ohne Aufschrei hinzunehmen.

Bis zur japanischen Kapitulation am 15. August gab es noch keinen Konsens zu diesen Punkten.

Im Zusammenhang mit Operation Downfall wird viel über die erwarteten Opferzahlen diskutiert. Greifen wir eine zeitgenössische Studie heraus:

A study done for Secretary of War Henry Stimson’s staff by William Shockley estimated that conquering Japan would cost 1.7 to 4 million American casualties, including 400,000 to 800,000 fatalities, and five to ten million Japanese fatalities.

Soweit dieser Autor feststellen kann, sind dabei weder die Toten durch einen taktischen Einsatz von Atombomben noch durch chemische Waffen eingerechnet. Einige dieser Studien waren vertraulich. In der US-Presse wurde über eine Million gefallene amerikanische Soldaten bis Kriegsende spekuliert. Im Vergleich zur tatsächlichen Zahl wäre dies eine Vervierfachung gewesen.

In den meisten dieser Studien – und in vielen Diskussionen heute – fehlt eine dritte Gruppe: Die Zivilisten in den von Japan besetzten Teilen Asiens und Ozeaniens. Allein China verlor bis zum Kriegsende je nach Quelle bis zu 20 Millionen Menschen. Für das letzte Kriegsjahr galt [1]:

[T]he minimum plausible range for deaths of Asian noncombatants each month in 1945 was over 100,000 and more probably reached or even exceeded 250,000.

Geht man von einer Fortsetzung des Krieges um drei Monate bis zur Invasion von Kyushu im November 1945 aus, wären dies zwischen 300.000 und 750.000 weitere tote Zivilisten unter den Verbündeten der Alliierten. Bei einer Fortsetzung der Kämpfe bis zur zweiten Landung im März 1946 wären es um eine Million gewesen.

Am Ende weiß niemand, wie viele Menschen bei einer Umsetzung von Operation Downfall ums Leben gekommen wären. Eine vollständige Analyse sprengt diesen Rahmen – unter anderem lassen wir hier komplett die sowjetischen Pläne für eine Invasion von Hokkaido aus. Allgemein kann man sagen: Hunderttausende auf Seiten der Alliierten, Hunderttausende unter den Zivilisten im besetzten Asien und Millionen in Japan.

Allerdings ist das nicht nur wegen der Atombomben eine Gespenster-Diskussion. Es gibt guten Grund anzunehmen, dass die Invasion abgesagt, mindestens aber verschoben worden wäre.

Plan A, Version 2: Blockade

Bei Olympic gingen die Alliierten von 350.000 japanischen Soldaten auf Kyushu aus. Im Laufe des Jahres setzte der amerikanische Geheimdienst allerdings aus abgefangenen Funksprüchen ein düsteres Bild zusammen: Anfang August warnte er, die Stärke werde Ende Oktober wohl eher bei 600.000 liegen. Damit hätten Angreifer und Verteidiger etwa die gleiche Truppenzahl, verheerend für die Invasoren. Heute wissen wir, dass die Schätzungen deutlich danebenlagen, denn insgesamt waren 900.000 japanische Soldaten für Ketsu-Go in Stellung gegangen.

Die neuen Erkenntnisse rissen die Diskussion über eine Blockade wieder auf. Admiral Chester Nimitz hatte seinen Vorgesetzten Ernest King Ende Mai unter vier Augen wissen lassen, dass er gegen die Invasion war. King selbst hielt den Plan schon immer für eine blöde Idee und wies Nimitz am 9. August – dem Tag des Bombenabwurfs auf Nagasaki – an, auch offen und formell zu Olympic Stellung zu beziehen.

Das hätte zu einem offenen Bruch im amerikanischen Militär geführt, denn General Douglas MacArthur hielt die Geheimdienstangaben für Unfug und wollte unbedingt an Downfall festhalten. Nimitz lies sich Zeit und sechs Tage später hatte sich die Sache durch die Kapitulation Japans erledigt.

Was wäre anderenfalls passiert? Präsident Harry S. Truman hatte die Einsatz der Atombomben unter anderem mit den Verlusten auf Okinawa begründet – I do not want another Okinawa from one end of Japan to the other, erklärte er – und wäre bei einer Ablehnung der Marine zumindest ins Grübeln gekommen. Vielleicht hätte sich die alte Schule durchgesetzt, und eine Variante von War Plan Orange wäre doch wieder verfolgt worden. Oder die Invasion wäre verschoben worden, was die Briten ohnehin immer gefordert hatten.

Beide Varianten wären auf das gleiche hinausgelaufen:

Each involved putting the invasion on hold and engaging in an intensified air and sea attack; if that did not produce a surrender within the next six months, the invasion issue might or might not be back on the planning board.

Eine sechsmonatige Bombardierung bedeutete in diesem Zusammenhang nicht die Einäscherung von Städten, wie es bei Tokio praktiziert worden war – in Japan stand (außer in Kyoto) ohnehin nichts mehr, das die Bomben wert gewesen wäre. Am 11. August, zwei Tage nach Nagasaki, stellte die amerikanische Luftwaffe auf Grund der Erkenntnisse aus Europa ihre Strategie um. Jetzt sollten die Verkehrswege zum Ziel der Bomber werden.

Faktisch war damit die Zerstörung des Schienennetzes gemeint: Die die US-Marine und die Minen von Operation Starvation [PDF] hatten die Seewege zwischen den Inseln schon geschlossen. Ein Ausweichen auf die Straße wäre für die Japaner nicht möglich gewesen, denn es gab kaum Lastwagen und 97 Prozent der Straßen waren ungeteert.

Was eine Blockade oder auch nur eine Verschiebung der Invasion für die Zivilbevölkerung bedeutet hätte, kann man abschätzen, wenn man sich klar macht, dass Japan selbst nach der Kapitulation Mitte August nur knapp einer Hungerkatastrophe entging [3]. Der japanische Historiker Daikichi Irokawa schreibt [1]:

Immediately after the defeat, some estimated that 10 million people were likely to starve to death.

Im November 1945 verfügte Japan nur noch über einen Reisvorrat für vier Tage. Die erste Aufgabe von MacArthur als Oberkommandeur des besetzten Japans war es, die bereits bestehenden Schäden am Transportnetz zu reparieren – alle Hafenstädte waren zu mindestens 70 Prozent zerstört – und irgendwie Nahrung unter das Volk zu bringen. In Washington sah man das erstmal nicht so richtig ein und schickte den Ex-Präsidenten Herbert Hoover, um sich ein Bild der Lage zu machen. Dieser fand deutliche Worte:

Japan must have some food imports. Without them, all Japan will be on a ration little better than that which the Germans gave to Buchenwald and Belsen concentration camps.

Nachdem das ganze Ausmaß der japanischen Gräueltaten (insbesondere die an alliierten Kriegsgefangenen) bekannt wurde, hatten die Amerikaner nicht wirklich Lust, gerade diesen Gegner auch noch durchzufüttern. MacArthur platzte der Kragen: Wenn die Alliierten die japanische Militärs wegen Kriegsverbrechen wie das Verhungernlassen vor Gericht stellen und hinrichteten, dürften sie sich nicht so verhalten wie sie. Am Ende schickten die USA allein 1946 etwa 800.000 Tonnen Lebensmittel nach Japan. Die Versorgungslage blieb trotzdem noch mehrere Jahre angespannt [Video].

Das war die Situation nach dem Ende der Seeblockade, ohne weitere Bombardierungen, mit einem vergleichsweise intakten Schienennetz und mit Lebensmittellieferungen der Alliierten. Wie viele Tote es sonst gegeben hätte, bleibt ebenfalls Spekulation.

In dem nächsten Eintrag der Serie behandeln wir in Stichworten einige Punkte, die immer wieder bei Diskussionen über den Krieg gegen Japan aufkommen.

([1] Richard B. Frank Downfall. The End of the Imperial Japanese Empire. Penguin Books 1999; [2] Hugh Borgan The Penguin History of the United States 2nd edition 1999; [3] Marius B. Jansen The Making of Modern Japan Harvard University Press 2000 )