Der Krieg gegen Japan, Teil 2: Ketsu-Go: Japans letzter Plan

August 2, 2008

We can no longer direct the war with any hope of success. The only course left is for Japan’s one hundred million people to sacrifice their lives by charging the enemy to make him lose the will to fight.

– Lagebericht im Kaiserlichen Hauptquartier, Juli 1944 [1]

Wieso standen die Amerikaner im Sommer 1945 überhaupt vor der Frage, ob sie die Atombombe einsetzen, eine Invasion starten oder eine Blockade errichten sollten? Warum kämpfte Japan noch?

Militärisch war die Lage jenseits von hoffnungslos. Bei der Schlacht von Midway Juni 1942 hatte die US-Flotte die Wende eingeleitet. Guadalcanal war verloren. Nach einem Durchbruch bei der Bombertaktik äscherten hunderte B-29 im März 1945 Tokio ein und töteten bis zu 120.000 Menschen [2]. Weitere Städte folgten. Im April 1945 eroberten die USA Okinawa, zwar keine Hauptinsel, aber schon Teil des japanischen Kerngebietes.

Auch wirtschaftlich war das Reich am Ende. Den amerikanischen U-Booten und Minenlegern war gelungen, was den deutschen „Wolfsrudeln“ versagt geblieben war: Den Feind von seinen Rohstoffen abzuschneiden. Ab Januar 1945 kam kein Gummi mehr in Japan an, die Öl-Importe versiegten im März. Die Rüstungsindustrie hatte im Oktober 1944 ihren Höhepunkt erreicht und baute mit dem Beginn der schweren Bombardierungen deutlich ab: Allein von März bis April 1945 sank die Produktion um elf Prozent. Wurden im Juni 1944 noch 5090 Flugzeugmotoren gebaut, lag die Zahl im Juli 1945 bei 1257.

Auch Nahrung war entweder kaum vorhanden oder konnte nicht transportiert werden. Im Durchschnitt hatte jeder Japaner 1945 etwa 1.680 Kalorien pro Tag zur Verfügung. Bis zu einem Viertel der Stadtbevölkerung litt an Mangelernährung. Selbst die lebensnotwendige Mindestmenge an Salz konnte kaum noch bereitgestellt werden. Neben Hungersnöten drohten im ganzen Land Aufstände. Die Regierung hatte panisch Angst vor einer kommunistischen Revolution und sah zeitweilig darin die eigentliche Gefahr für ihre Existenz [1][2].

Nun war die Situation des Dritten Reichs vor Kriegsende nicht grundsätzlich besser. Es gab aber einen wichtigen Unterschied: Japan wurde nicht von Wahnsinnigen geleitet. Niemand schob in einem Führerbunker Phantomarmeen hin und her (oder ließ 90 Prozent seiner Generäle hinrichten). Das japanische Militär, die japanische Regierung und auch Kaiser Hirohito wussten – wie das Zitat am Anfang zeigt – schon mindestens ein Jahr früher, wie es um sie stand.

Allerdings war Japan seit 2.000 Jahren nicht erobert worden und hatte nicht vor, sich jetzt erobern zu lassen und schon gar nicht von den Amerikanern. Es musste einen anderen Weg als die Kapitulation geben.

Das japanische Militär ging bei seinen Überlegungen von zwei Annahmen aus:

„Amerikaner haben keine Geduld.“ Die Alliierten würden die schnelle Entscheidung in einer Invasion suchen, statt eine Blockade zu errichten. Der Glaube an das fehlende Durchhaltevermögen der Amerikaner prägte schon die Einstellung des japanischen Militärs vor Pearl Harbor, wie der Historiker Edward Drea bemerkt:

Americans [were] products of liberalism and individualism and incapable of fighting a protracted war.

Dazu passte die zweite Vorstellung:

„Amerikaner haben Angst vor Verlusten.“ Als faktische Militärdiktatur mit einer Jahrhunderte alten Kriegertradition könne Japan deutlich höhere Totenzahlen verkraften als die demokratische USA. Die Schlacht von Okinawa schien das zu bestätigen: Nach dem Tod von 12.500 US-Soldaten bei der Invasion – drei Mal so viele wie in fünf Jahren Irak-Krieg – wurden die Amerikaner merklich unruhig. Die 92.000 gefallenen japanischen Soldaten waren dagegen für Tokio bei allem Bedauern kein Problem; während des ganzen Kriegs lag das Verlust-Verhältnis etwa bei 10:1. Die schätzungsweise 100.000 toten Zivilisten waren für die Regierung schlicht irrelevant [2].

Dazu kam noch ein dritter Punkt. Eine Invasion von Japan ist wegen der gebirgigen Landschaft nur an zwei Stellen vom Pazifik aus sinnvoll: In der Ebene von Kanto [PNG] bei Tokio und an der Südküste von Kyushu [JPG], der südlichsten Hauptinsel. Das wussten die Amerikaner, das wussten die Japaner, und beiden Seiten war klar, dass für den ersten Schritt eigentlich nur eine Invasion von Kyushu infrage kam.

Aus diesen drei Komponenten formte Japans Führung Ende 1944 eine Strategie, die Generalleutnant Seizo Arisue nach dem Krieg so zusammenfasste:

If we could defeat the enemy on Kyushu or inflict tremendous losses, forcing him to realize the strong fighting spirit of the Japanese Army and people, it would be possible, we hoped, to bring about the termination of hostilities on comparatively favorable terms.

In einer letzten, großen Schlacht auf heimischem Boden sollten den Alliierten massivste Verluste zugefügt werden. Erst danach – und keinen Tag früher – sollten Gespräche begonnen werden. Die ausgebluteten und traumatisierten Amerikaner würden dann, so die Überlegung, deutlich bessere Bedingungen anbieten.

Am 20. Januar 1945 wurde mit dem Segen des Kaisers die entsprechende strategische Direktive erlassen.

(Erst spät wurde bekannt, dass Hirohito mehr tat als nur formell die Entscheidung abzunicken. In seinen Memoiren, die bis zu seinem Tod 1989 zurückgehalten wurden, bestätigte er, noch bis Juni mit ganzem Herzen diese Strategie unterstützt zu haben. Das ist einer der Gründe für die bis heute auf verschiedene Arten vorgetragene Forderung, Hirohito als Kriegsverbrecher einzustufen.)

Der konkrete Plan wurde im April 1945 fertiggestellt und trug den Namen Ketsu-Go – der „entscheidende“ Einsatz. Japan setzte alles auf eine Karte. Etwa 900.000 Soldaten gruben sich in Kyushu ein, mehr als die heutigen Streitkräfte von Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen.

Dabei wurde eine umfassende Anwendung von tokko-Taktiken – Selbstmordangriffe – befohlen. Etwa 5.500 kamikaze-Flugzeuge standen bereit, sich in stündlichen Wellen von 300 bis 400 Maschinen auf die Invasionsflotte zu stürzen. Dazu kamen etwa 1.300 Boote und U-Boote für Selbstmordangriffe. Die Planer gingen davon aus, die Hälfte der Flotte noch auf See zerstören zu können.

Am 23. März verfügte das Kabinett zudem die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung, das japanische Gegenstück zum „Volkssturm“. Alle Männer im Alter von 15 bis 60 Jahren und alle Frauen von 17 bis 40 Jahren waren betroffen. Allein für Kyushu betrug die Zahl dieser Kämpfer mehr als eine Million.

Da es weder ausreichend Waffen noch Uniformen gab, wurden primitive Stoßwaffen wie Holz- und Bambusstangen verteilt. Dem Schulmädchen Yukiko Kasai wurde eine Ahle ausgehändigt mit den Worten [1]:

Even killing just one American soldier will do. […] You must aim at the enemy’s abdomen.

Es kam nicht dazu.

Mit dem Wissen über Ketsu-Go wird klarer, warum Japan nach den Atombomben kapitulierte. Kantaro Suzuki, Ministerpräsident von April bis August 1945, erklärte nach dem Krieg die Sichtweise des Militärs zu den Folgen von Hiroshima und Nagasaki auf die Strategie so:

They proceded with that plan until the atomic bomb was dropped, after which they believed that the United States would no longer attempt to land when it had such a superior weapon […] so at that point they decided that it would be best to sue for peace.

Wenn die Amerikaner in der Lage waren, Japan einfach Stück für Stück zu vernichten, würde es keine Invasion geben. Ohne Invasion war Ketsu-Go sinnlos. Eine Kapitulation war der am wenigsten schlechte Schritt. Nicht alle japanischen Militärs folgten dieser Logik – viele wollten bis zum „ehrenvollen“ Untergang weiterkämpfen. Aber genug, um den Krieg zu beenden. Auch beim Kaiser hatte ein Umdenken stattgefunden.

Damit kommen wir wieder zu dem Punkt, wo sich die Geister scheiden.

Die einen weisen auf Ketsu-Go und sehen die Einsatz der Atombomben gerechtfertigt, weil nur sie ein Umdenken einer kritischen Zahl von Militärs bewirken konnten. Eine Invasion hätte, so das Argument, wegen Ketsu-Go dramatisch höhere Totenzahlen mit sich gebracht. Die anderen sehen diesen Mechanismus zwar auch, fragen sich aber, ob man die Bomben wirklich über Städte einsetzen musste. Wäre nicht der gleiche Aha-Effekt aufgetreten, wenn man sie auf dünn besiedeltem Gebiet vorgeführt hätte?

Darüber werden wir hier nicht diskutieren. Auch dass Ketsu-Go darauf hinauslief, einfach so viele Amerikaner wie möglich zu töten, ihnen „ein letztes Blutbad“ [3] aufzuzwingen, soll hier kein Thema sein. Es war Krieg.

Stattdessen sollte man sich klar machen, was der Plan für die japanische Bevölkerung bedeutet hätte: Mehr als eine Million Tote für eine Sache, von der die japanische Führung genau wusste, dass sie verloren war. Das japanische Volk sollte zu Hunderttausenden für eine schwache Hoffnung auf eine bessere Verhandlungsposition geopfert werden, ohne dass man sich die Mühe gemacht hatte, den bestehenden Spielraum auszuloten. Dass Japan am Ende – nach den Atombomben – deutlich mildere Auflagen bekam als Deutschland und sogar Kaiser Hirohito behielt, zeigt, wie groß dieser Raum vielleicht hätte sein können.

Ketsu-Go gehört damit zu den großen Was-Wäre-Wenn-Momenten des Kriegs. Was wäre passiert, wenn Japan nicht Anfang 1945 alle Gespräche kategorisch ausgeschlossen hätte? Hätten die Alliierten wirklich Verhandlungen ablehnen können, wenn aus Tokio noch vor der Kapitulation Deutschlands und lange vor der Potsdamer Erklärung ein öffentliches, offizielles Gesprächsangebot gekommen wäre, egal wie unverbindlich?

Wir werden das alliierte Gegenstück zu Ketsu-Go, Operation Downfall, in einem späteren Eintrag besprechen.

(Nächster Eintrag der Serie: „Die Totenzahlen der Atombomben“)

([1] Richard B. Frank Downfall. The End of the Imperial Japanese Empire. Penguin Books 1999 [2] Marius B. Jansen The Making of Modern Japan Harvard University Press 2000 [3] Hugh Borgan The Penguin History of the United States 2nd edition 1999)