Wahlen, Teil 1: Warum es in den USA Vorwahlen gibt

Dezember 31, 2007

Weihnachten ist vorbei und dieser Autor hat endlich wieder einen Laptop: Einen MacBook. Es ist die weiße Ausführung, denn die elegantere, schwarze hat bereits die Schönste Germanin, und eine Verwechslung wäre fatal für beide Blogs. Außerdem stehen ihr elegante Dinge einfach besser.

Die neue Hardware kommt keinen Augenblick zu früh, denn wir haben viel zu tun. Morgen beginnt 2008, das ist ein grades Jahr, und damit ein Wahljahr in den USA, wo die Termine wie ein Uhrwerk eingehalten werden. Einige Themen wie die Vor- und Nachteile der Mehrheitswahl haben wir schon 2006 abgehandelt. Aber diesmal wird nicht nur das ganze Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats gewählt, sondern auch der Präsident. Das heißt, es gibt Dinge wie Vorwahlen (primaries). Dabei bestimmen die Parteien, wer ihr Kandidat im November sein soll.

Vorwahlen sind laut, teuer, nervig und sorgen dieses Mal dafür, dass der Wahlkampf fast ein Jahr dauert. Warum tun sich die Amerikaner so etwas an?

Zuerst: Die Verfassung kann nichts dafür. Schauen wir nach, was dort über die Wahl des Präsidenten steht, finden wir in Artikel 2 lediglich:

Each State shall appoint, in such Manner as the Legislature thereof may direct, a Number of Electors, equal to the whole Number of Senators and Representatives to which the State may be entitled in the Congress […].

Und etwas weiter unten:

The Congress may determine the Time of chusing the Electors, and the Day on which they shall give their Votes; which Day shall be the same throughout the United States.

(Das chusing ist eine alternative Schreibweise von choosing, die damals gängig war, die man seinem Englischlehrer aber heute nicht mehr anbieten sollte. Die erste Version der Verfassung wurde in großer Eile per Hand geschrieben und enthält tatsächlich einige Fehler.)

Nix mit Vorwahlen. Das muss irgendein neumodischer Schnickschnack sein.

Wir können aus Artikel 2 einen Punkt mitnehmen, der immer wieder zu Verwirrung führt und so zentral für das Verständnis des Systems ist, dass wir heute einmal zum visuellen Hammer greifen:

In den USA wird der Präsident nicht durch eine Wahl auf Bundesebene bestimmt, sondert durch getrennte Wahlen in den einzelnen Bundesstaaten, deren Ergebnisse kombiniert werden.

Daher organisiert nicht der Bund die Wahl (oder die Vorwahlen), sondern die einzelnen Bundesstaaten; daher gibt der Bundesstaat New York sein Endergebnis schon bekannt, während in Kalifornien noch gewählt wird; daher ist der genaue Ablauf der Wahl in jedem Bundesstaat anders, wie wir 2000 gesehen haben. Die Einzelheiten folgen in einem späteren Eintrag.

Zurück zu den Vorwahlen –

(Zwanghafte Browser-Suchfunktion-Benutzer werden bemerkt haben: Das Wort primary kommt doch in der Verfassung vor, im 24. Verfassungszusatz. Dort steht, dass man für die Teilnahme an einer Wahl keine poll tax verlangen darf. Als Teil der Jim Crow laws führten einige Südstaaten nach dem Bürgerkrieg Wahlgebühren ein. Erlassen wurden sie nur dem, der zeigen konnte, dass ein Vorfahre vor dem Bürgerkrieg wählen durfte. Durch diesen Trick wurde die Masse der Schwarzen trotz des 15. Amendement von der Wahl ausgeschlossen.)

– ihre Funktion wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass es sich um parteiinterne Wettbewerbe handelt. Deswegen stehen sie auch nicht in der Verfassung, denn Parteien sind im amerikanischen System nicht vorgesehen. Die Gründungsväter hielten sie für eine Form von politischem Krebs. Allerdings bieten Parteien, selbst die der schwächlichen amerikanischen Variante, jede Menge Vorteile. Nur George Washington als erster Präsident war parteilos. Inzwischen gelten Parteien als unvermeidbares Übel.

Dumm für eine amerikanische Partei ist aber, dass in den USA Menschen gewählt werden. Damit könnten gleich mehrere ihrer Mitglieder im Kampf um die Präsidentschaft antreten. Man stelle sich vor, im November würden nicht entweder Hillary Clinton oder Barack Obama für die Demokraten kandidieren, sondern beide. Das würde die Wählerschaft der Partei spalten und der lachende Dritte wäre der Kandidat der Republikaner.

Die Parteien brauchen also einen Mechanismus, um sich auf einen einzigen, gemeinsamen Kandidaten zu einigen.

Früher, viel früher, geschah das in den Hinterzimmern des Kapitols. Von etwa 1796 bis 1824 kamen die Abgeordneten der beiden großen Parteien – damals die Federalists und die Democratic-Republicans – in ihren congressional caucus zusammen und handelten jeweils ihren Kandidaten aus. Die Treffen waren zunächst geheim. Als undemokratisch verschrien („King Caucus“), zerfiel das System 1824 im Streit.

Stattdessen wurden die landesweiten Parteitage (national conventions) eingeführt, die es – wenn auch in stark abgewandelter Form – bis heute gibt. Die Demokraten fingen 1832 damit an, die 1854 gegründeten Republikaner zogen nach. Die Parteien in jedem Bundesstaat bestimmten die Delegierten.

(Wie wenig die amerikanischen Parteien mit ihren deutschen Namensvettern zu tun haben, sieht man daran, dass die Demokraten erst nach dem Parteitag 1848 überhaupt eine landesweite Struktur bekamen. Das Democratic National Committee (DNC) bezeichnet sich selbst als die älteste noch bestehende politische Organisation der Welt.)

Damals waren die Parteitage noch wichtig, denn dort fiel die Entscheidung. Getroffen wurde sie allerdings von den Parteibonzen. Es gab hitzige Intrigen in verrauchter Luft, endlose Verhandlungen und dutzende Abstimmungen. Am Ende gewannen schon mal die dark horse candidates wie James K. Polk, der erst auf dem Parteitag ins Spiel gebracht wurde. Das Verfahren hielt sich etwa 140 Jahre lang, war aber weder transparent noch demokratisch.

Einige Bundesstaaten fingen daher im 19. Jahrhundert an, richtige Wahlen abzuhalten, die ersten primaries. Dort entschied die Basis, welche Delegierte zu dem Parteitag geschickt wurden und wie sie dort abzustimmen hatten. Allerdings blieb der Einfluss dieser „echten“ Vorwahlen auf das Gesamtverfahren zunächst begrenzt.

Wie begrenzt? Auf dem Parteitag der Demokraten 1968 in Chicago wurde Hubert Humphrey Kandidat, ohne eine einzige Vorwahl gewonnen zu haben (er wurde später von Richard Nixon [PNG] geschlagen). Das machte eine Menge Leute wütend. In der aufgeladenen Atmosphäre vor dem Hintergrund des Vietnam-Kriegs kam es in Chicago zu Krawallen [JPEG]. Auf den Schock hin wurden flächendeckend Vor- und Urwahlen eingeführt, deren Ablauf von den Bundesstaaten gesetzlich geregelt wird.

Heute findet dort die Entscheidung statt: Wer die meisten Stimmen bekommt, schickt Delegierte zu den Parteitagen, die für ihn stimmen. Meist steht der Kandidat aber schon lange vorher fest.

Die Parteitage sind dadurch zu einer reinen Krönungszeremonie degeneriert, eine Riesenshow mit lebensgefährlichen Konfetti-Blizzards und manisch lächelnden Menschen, die man sonst nur in Raccoon City trifft. Da die inhaltliche Bedeutung der Veranstaltung gegen Null tendiert, berichten die US-Sender auch nicht mehr großartig über sie. Das wiederum treibt die deutschen Medien zur Verzweiflung, die den Umbau des Vorwahl-Systems in den 70er Jahren verpasst haben und den Amerikanern prompt wieder politisches Desinteresse unterstellen.

Kurz gesagt lautet die Antwort also: Durch das System der Vorwahlen entscheidet die Basis, wer der Kandidat der Partei wird.

Eine Parallele zu Deutschland ist schwierig, denn hier gibt es weder eine eigenständige Exekutive noch hat der Titel „Kanzlerkandidat“ eine juristische Bedeutung. Der interessierte Leser mag sich jedoch angesichts der „Amerikanisierung“ (gemeint ist die Personalisierung) des deutschen Wahlkampfs vorstellen, dass die Mitglieder der SPD darüber abstimmen könnten – verbindlich – wer ihr Kandidat wird. Tatsächlich gibt es immer mal wieder die Forderung nach Vorwahlen in Deutschland, ausdrücklich nach dem US-Vorbild. Ob das wirklich sinnvoll wäre, ist nicht Thema dieses Blogs.

Das heutige System in den USA hat noch einen weiteren nützlichen Effekt. Ein Kandidat der Parteiführung aus dem Hinterzimmer mag beim Wähler nicht ankommen. Im Extremfall weiß keiner, wer das überhaupt ist – Who is James K. Polk? spotteten die Whigs nach dem Parteitag der Demokraten 1844 (dass Polk trotzdem gewann, sollte Kurt Beck ein Trost sein). Aber wenn die Leute, die die Partei wählen werden, auch gleich selbst den Kandidaten bestimmen können, erhöht das die Siegeschancen ungemein. Auch deswegen gibt es die Vorwahlen.

Der logische nächste Schritt dieser Entwicklung sind die open primaries wie sie in einigen Bundesstaaten praktiziert werden. Dort kann sich jeder aussuchen, an welcher Vorwahl er teilnimmt. Auch ein Parteimitglied der Demokraten kann also bei den Vorwahlen der Republikaner seine Stimme abgeben und damit den schwächsten (!) Kandidaten fördern. Dieser Vorgang wird als raiding bezeichnet, funktioniert aber nicht wirklich. Häufiger sind ohnehin closed primaries, also parteiinterne Vorwahlen.

Wir werden uns die verschiedenen Formen von Vorwahlen, insbesondere den Unterschied zwischen primary und caucus, in einer der nächsten Folgen anschauen. Der Eintrag wird deutlich kürzer, denn am Ende läuft es auf Tabellen [PDF] hinaus.

Guten Rutsch!

[Geändert 3. Januar 2008: Genauer Betrachtung der Vorwahl nicht zwangsweise in der kommenden Folge]