Die, äh, Lüge vom tiefgläubigen Amerikaner

Januar 8, 2011

Less than 20 percent of Protestants attend church during an average week in Ashtabula County — not 36 percent, as claimed by people who responded to our poll of county residents. And not 45 percent, as found by the American Institute of Public Opinion in the Gallup Poll.

— C. Kirk Hadaway, Empty pews belie Gallup’s good news, 1994

Fragt man Amerikaner, ob sie regelmäßig in die Kirche (die Synagoge, die Moschee) gehen, bekommt man eine Antwort häufiger als in Europa: Ja, na klar, sicher, was sonst. Zwei von fünf US-Bürger geben in Umfragen an, regelmäßig am Gottesdienst teilzunehmen, und mehr als 90 Prozent sagen, dass sie an Gott glauben. Das ist deutlich mehr als in anderen entwickelten Ländern. Den USA wird deswegen nachgesagt, einzigartig unter den Industriestaaten zu sein: Hier sei Religion noch wichtig.

Aber wo sind denn dann die ganzen Leute, fragen sich die amerikanischen Geistlichen, denn die Gotteshäuser sind leer (insbesondere die Männer sind AWOL). Die Umfragen decken sich ganz und gar nicht mit der Wirklichkeit der empty pews. Forscher finden das auch seltsam und haben hingeschaut, statt die Leute nur zu befragen.

Das Ergebnis: Nix ist mit größerer Religiosität in den USA als in anderen Industriestaaten. Wenn es um Religion geht, lügen die Amerikaner schlicht wie, nun, der Teufel.

Americans are hardly more religious than people living in other industrialized countries. Yet they consistently — and more or less uniquely — want others to believe they are more religious than they really are.

Das gilt übrigens auch für Kanadier. In der Praxis ist die Zahl der Kirchenbesucher in den USA halb so groß wie behauptet:

Instead of 40 percent of Protestants attending church, we found 20 percent. Instead of 50 percent of Catholics attending church, we found 28 percent.

Der Unterschied wird bereits deutlich, wenn man nicht fragt „Gehen Sie am Sonntag zur Kirche?“, sondern zum Beispiel die Leute bittet, genau Tagebuch über ihre Aktivitäten am Wochenende zu führen. Plötzlich geht es am Sonntagmorgen gar nicht mehr so fromm zu. Oder anders formuliert: Amerikaner lügen nicht nur über ihre Kirchenbesuche, sie sind auch noch miese Lügner.

In Wirklichkeit gehen sie nicht wesentlich häufiger in die Kirche als Europäer:

Americans attended services about as often as Italians and Slovenians and slightly more than Brits and Germans.

Europäer schwindeln nach diesen Studien zwar auch, aber „selbst in Irland“ betrage die Kluft zwischen Sagen und Tun höchstens acht Prozentpunkte, sagen die Forscher.

Ja, aber warum lügen die Amerikaner (und Kanadier) über ihre Kirchenbesuche und die Europäer nicht, oder auf jeden Fall nicht so dreist? Spekuliert wird, dass es mit dem Selbstbild zu tun hat:

Religion in America seems tied up with questions of identity in ways that are not the case in other industrialized countries. When you ask Americans about their religious beliefs, it’s like asking them whether they are good people, or asking whether they are patriots.

Formell wird das bei Umfragen als der social desirability effect bezeichnet: Die Antwort folgt den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen, nicht der Wirklichkeit. Für die große Masse der Nordamerikaner ist ein guter Mensch immer noch ein gottesfürchtiger Bürger, der artig am Sonntag in die Kirche (am Samstag in die Synagoge, am Freitag in die Moschee) geht. Wir kennen das aus Buffy: Ein Teil der Charakterisierung des corn-fed Iowa boy Riley Finn als sittlichen reinen Vorzeigebürger ist die Szene in „Who Are You“, wo er an einem Sonntagmorgen im Anzug zur Kirche geht.

(Die Kirche ist dummerweise von Vampiren überlaufen, was aber in den USA eher selten passiert und daher im Rahmen dieser Diskussion als abschreckenden Faktor für den Besuch des Gottesdienstes ignoriert wird.)

Weiter sollen Amerikaner keine Lust auf Belehrungen zu Themen wie Homosexualität oder Abtreibung haben. Früher habe es in den Gemeinden eine größere Meinungsvielfalt bei kontroversen Themen gegeben, sagt die Religionsforscherin Jane Donovan. Der heutige Zank schrecke die Leute ab:

You find people leaving churches — or not drawn to them — because they don’t want to be part of something where this is always being raised.

Was heißt das alles für die anderen Umfrage-Ergebnisse? Es gibt in den USA deutlich weniger Kirchengruppen als geschätzt, so viel ist inzwischen auch klar. Aber glauben wirklich mehr als 90 Prozent der Amerikaner an Gott, oder sagen sie das nur am Telefon, weil Atheisten in den USA einen furchtbaren Ruf haben? Das ist schwieriger herauszufinden, denn man kann den Leuten nicht in den Kopf gucken. Bekannt ist, dass die Zahl der Konfessionslosen kontinuierlich ansteigt.

Wir sollten zum Schluss betonen, dass wir hier die große Masse der Amerikaner betrachten. Dass es in den USA kleine, aber sehr laute Gruppen von tiefgläubigen Menschen und religiösen Fanatikern gibt, bezweifelt niemand. Wie wir schon besprochen haben, erklärt sich das zwanglos aus der religiösen Verfolgung in Europa und dem Schutz der Glaubensfreiheit in den USA.

Dumm nur: Berichte über Menschen, die einen Tod durch Brustkrebs bejubeln, verkaufen sich besser als solche über Leute, die sich am Sonntagmorgen noch einmal im Bett umdrehen. Daher wird das Vorurteil von dem religionsbessenen Amerikaner wohl unausrottbar sein.

Aber wenigstens der interessierte Leser weiß jetzt, das man auch einen Amerikaner am Sonntagmorgen zu Hause anrufen kann — wenn es nicht zu früh ist, versteht sich.