Wahlen, Teil 7: Das System der Wahlmänner

September 21, 2008

Die Parteitage sind vorbei, die Kandidaten stehen fest, und wir werden fast täglich mit Umfragen zugeschüttet, wer mit wie viel Prozentpunkten führt. Höchste Zeit zu erklären, wie der Präsident gewählt wird – einige interessierte Leser werden nämlich schon ungeduldig. Dann wird auch klar, warum die Umfragen nur ein grobes Maß sind.

Wir hatten in unserem ersten Eintrag zu den Wahlen in den USA den visuellen Hammer ausgepackt, um ein Missverständnis aus dem Weg zu räumen:

In den USA wird der Präsident nicht durch eine Wahl auf Bundesebene bestimmt, sondert durch getrennte Wahlen in den einzelnen Bundesstaaten, deren Ergebnisse kombiniert werden.

Der Mechanismus dazu ist das Wahlmänner-Kolleg (electoral college). Jeder Bundesstaat bekommt eine gewisse Anzahl von Wahlmännern –

(Bevor ein Emma-Einsatzkommando hier die Tür eintritt: Natürlich können das inzwischen auch Frauen sein. Der englische Begriff elector ist geschlechtsneutral, aber anscheinend hat man sich im Deutschen auf „Wahlmänner“ festgelegt, warum auch immer. Wer will, kann das Wort im Geiste durch etwas politisch korrektes wie „Wahlmännerinnen“ ersetzen.)

– was grob mit der Bevölkerungsgröße übereinstimmt, was man an einer Karte [GIF] von 2004 sehen kann.

Denn die Zahl der Wahlmänner entspricht der Zahl der Vertreter im Kongress. Wir erinnern uns: Jeder Bundesstaat erhält zwei Senatoren, nicht mehr und nicht weniger. Die Zahl der Abgeordneten im Repräsentantenhaus hängt dagegen von der Bevölkerungszahl ab. Es gibt aber mindestens einen. Selbst der kleinste Bundesstaat hat damit drei Wahlmänner.

Insgesamt gibt es 538 von ihnen im Kolleg – für 100 Senatoren und 435 Abgeordnete aus den Bundesstaaten und wegen einer Sonderregelung drei aus dem Regierungsbezirk District of Columbia um die Hauptstadt Washington. Für einen Sieg braucht ein Kandidat mindestens 270.

Nun reden wir von einem Land, wo sonst alles vom Vize-Unterbezirkshundefänger über Richter bis hin zu den Senatoren direkt vom Volk gewählt wird. Warum also dieses indirekte und offen gesagt umständliche System für den Präsidenten?

Die Verfassungsväter (die wirklich nur Männer waren) trauten dem Volk nicht so richtig. Eine Republik, natürlich, welcher aufgeklärte Intellektuelle des 18. Jahrhunderts wollte das nicht. Aber democracy war ein Synonym für Chaos.

Daher sollte eine Gruppe von vertrauenswürdigen und weisen Bürgern in aller Ruhe und nur ihrem Gewissen folgend die eigentliche Entscheidung treffen. Die Sitzungen dazu fanden (und finden) im jeweiligen Bundesstaat statt und nicht auf einer zentralen Versammlung, damit der ungewaschene Pöbel nicht mit Fackeln und Mistgabeln vor der Tür auftauchen und Druck ausüben konnte. Wörtlich aus den Federalist Papers:

It was equally desirable that the immediate election should be made by men most capable of analyzing the qualities adapted to the station and acting under circumstances favorable to deliberation, and to a judicious combination of all the reasons and inducements which were proper to govern their choice.

Ah, die guten alten Tage vor plain English.

Inzwischen trauen sich die Amerikaner mehr zu und die Wahlmänner sind eine Formalität. Auf einigen Wahlzetteln – zum Beispiel in North Carolina [PDF] – sind nur noch die Namen der Kandidaten aufgeführt. Auf anderen – nehmen wir Idaho [PDF] – stehen die Wahlmänner immerhin noch unter den Namen der Bewerber.

In der Praxis halten sich die Wahlmänner schon deswegen fast immer an ihren Auftrag, weil sie von den Parteien ihrer Kandidaten gestellt werden. In einigen Bundesstaaten sind sie sogar per Gesetz dazu verpflichtet, die Entscheidung zu respektieren. Aber in etwa 20 Bundesstaaten kann der Wahlmann eigentlich tun und lassen, was er will.

Das „fast“ im vorherigen Absatz kommt daher, dass tatsächlich einige Wahlmänner anders gestimmt haben, die Faithless Electors. Je nachdem, wer zählt, ab welchem Jahr man zählt, ob man auch die Vize-Wahl mitzählt, ob man die Ersatzmänner für verstorbene Wahlmänner berücksichtigt und was man als Maßstab für Untreue anlegt, gab es zwischen neun und 157 solcher Wahlmänner. Einen Einfluss auf den Ausgang hatten sie nie.

(Da hatte die Demokratin Barbara Lett-Simmons bei der Wahl 2000 George W. Bush gegen Al Gore ziemliches Glück. Sie enthielt sich, um dagegen zu protestieren, dass der District of Columbia als Nicht-Bundesstaat kein Stimmrecht im Kongress hat. Nicht auszudenken, wenn Gore deswegen gescheitert wäre.)

Nächster wichtiger Punkt: Da die Wahlen nach den Gesetzen der Bundesstaaten vorgenommen werden, entscheiden diese auch, nach welchem Verfahren die Wahlmänner verteilt werden. In der Verfassung steht in Artikel II lediglich:

Each state shall appoint, in such manner as the Legislature thereof may direct, a number of electors […]

Gut, in der Praxis ist das im Augenblick nicht wichtig, weil 48 Staaten die übliche Mehrheitswahl (winner-takes-all) haben. Wer die meisten Stimmen hat, kriegt ausnahmslos alle Wahlmänner. Wie schon besprochen sehen die Amerikaner (und Briten) eine Reihe von Vorteilen bei der Mehrheitswahl. In Maine und Nebraska werden die Wahlmänner dagegen vereinfacht gesagt nach dem Verhältnis verteilt. Wir werden am Ende des Textes zeigen, warum die Hoheit der Bundesstaaten wichtig werden könnte.

So weit zu dem Verfahren. Jetzt kommen wir zu den Besonderheiten, die sich daraus ergeben. Zuerst zwei weniger wichtige Effekte.

Erstens, die dezentrale Organisation der Wahl macht eine systematische Wahlfälschung schwieriger. Man stelle sich das Theater vor, wenn 2000 die Stimmen zentral in Washington ausgezählt worden wären und nicht in den einzelnen Bundesstaaten.

Der zweite Effekt ist eine Folge der verschiedenen Zeitzonen in einem Land, dessen heutige Größe sich die Verfassungsväter nicht hätten träumen lassen. Da jeder Bundesstaat für sich selbst wählt, gibt er auch seine Ergebnisse sofort nach dem Schluss seiner Wahllokale bekannt. Ehrlich, soll das ganze Land auf diese beach bums auf Hawaii warten? Als Nebeneffekt macht es den Wahlabend spannender, weil die Ergebnisse Stück für Stück eintrudeln. Europäer müssen da mit der Eurovision Vorlieb nehmen.

Für zwei wichtigere Effekte schauen wir uns zuerst das Verhältnis von Wahlmännern und Bevölkerung in den Bundesstaaten an. Nehmen wir Wyoming mit 515.000 Einwohnern: Er stellt zwei Senatoren und einen Abgeordneten und bekommt damit drei Wahlmänner. Das vergleichen wir jetzt mit Kalifornien mit 36,5 Millionen Menschen und 55 Wahlmännern (Zahlen gerundet):

Wyoming: 515.000 / 3 = 171.700 Bürger pro Wahlmann

Kalifornien: 36.500.000 / 55 = 663.600 Bürger pro Wahlmann

Eine Stimme in Wyoming ist also mehr wert als eine Stimme in Kalifornien. Insgesamt erhalten die Bürger in den kleinen Bundesstaaten mehr Einfluss als sie es bei einer landesweiten Wahl haben würden. Je nachdem, wen man fragt, ist das entweder eine fürchterlichere Verzerrung oder ein fantastisches Feature.

Auf jeden Fall können wir unseren Merksatz ergänzen:

In den USA wird der Präsident nicht durch eine Wahl auf Bundesebene bestimmt, sondert durch getrennte Wahlen in den einzelnen Bundesstaaten, deren Ergebnisse kombiniert werden. Dabei findet eine Gewichtung zugunsten der kleineren Bundesstaaten statt.

Der zweite Effekt ergibt sich aus der Mehrheitswahl. Nehmen wir wieder Kalifornien. Wenn ein Kandidat – in diesem Fall wohl der Demokrat Barack Obama – 18.250.001 Stimmen erreicht hat, bekommt er alle Wahlmänner. Selbst wenn er alle denkbaren 36.499.999 Stimmen bekommen würde (Gouverneur Arnold Schwarzenegger würde nie für ihn stimmen), nützt ihm das nichts. Ob 50,1 Prozent oder 99,9 Prozent der Stimmen, die Zahl der Wahlmänner ist gleich.

Wie jeder Deutsche seit 2000 weiß, können diese beiden Eigenschaften dazu führen, dass der Kandidat mit weniger Gesamtstimmen (popular vote) die Wahl gewinnt. Außer bei Bush gegen Gore war das bei der Wahl von 1876 (Rutherford Hayes vs Samuel J. Tilden) und der Wahl von 1888 (Benjamin Harrison vs Grover Cleveland) der Fall – drei Mal in 220 Jahren.

(Wenn irgendwo steht, dass es vier Mal waren: Bei der Wahl von 1824 (John Quincy Adams vs Andrew Jackson) erreichte keiner der Kandidaten die notwenige Zahl der Wahlmännerstimmen und die Entscheidung wurde entsprechend dem 12. Verfassungszusatz vom Repräsentantenhaus getroffen. Allerdings wurde die Zahl der abgegebenen Stimmen nicht erfasst.)

Der Streit um das System ist nicht neu und die Argumente dafür und dagegen sind seit Jahrzehnten bekannt. Die Reformer sind davon abgekommen, eine Verfassungsänderung zu verlangen – so groß ist der Leidensdruck nicht, als dass man am Heiligsten des Heiligen herumspielen will. Allerdings gibt es einen anderen Vorschlag.

Den Bundesstaaten steht es wie gesagt frei zu entscheiden, wie sie ihre Wahlmänner verteilen. Daher könnten sie verfügen, dass alle an den Kandidaten gehen, der im ganzen Land die meisten Stimmen erhält. Dieser National Popular Vote Compact hätte nichts mit der Verfassung zu tun. Entsprechende Gesetze wurden 2007 in 42 Bundesstaaten vorgeschlagen und sind inzwischen in vier gültig: Hawaii, Illinois, Maryland und New Jersey. Der Mechanismus greift aber erst, wenn die teilnehmenden Staaten zusammen mindestens 270 Wahlmänner stellen. Gegenwärtig sind es 50.

Nach dieser ganzen Vorrede wissen wir, warum landesweite Umfragen nur ein grobes Maß sind. Eigentlich müssten die Wahlforscher in jedem der 50 Bundesstaaten eine repräsentative Umfrage vornehmen und die Ergebnisse entsprechend dem Wahlmänner-Kolleg gewichten. Das ist ihnen aber zu viel Arbeit.

Man kann aber die Umfragen der verschiedenen Institute in den einzelnen Bundesstaaten zusammenfassen. Entsprechende Karten erstellt zum Beispiel Real Clear Politics. Demnach hat Obama 202 Wahlmänner sicher, der Republikaner John McCain 189 und für 147 ist noch keine Tendenz erkennbar. Erzwingt man dort eine Tendenz, steht es 273 Wahlmänner für Obama und 265 für McCain. Zu den toss up states ohne klare Tendenz gehören Riesen wie (natürlich) Florida (27 Wahlmänner), Pennsylvania (21), Ohio (20) und Michigan (17).

Daran sieht man besser als an allen landesweiten Umfragen: Das Rennen ist noch völlig offen.