The American Creed: Der Glaubensgrundsatz der USA

Juli 4, 2008

Greifen wir aus der Masse der Berichterstattung über das jüngste Urteil [PDF] des Obersten Gerichts zum Waffenrecht eine angenehm korrekte Formulierung heraus:

Erstmals in der Geschichte der USA hat der Oberste Gerichtshof das Recht der Bürger auf den Besitz von Waffen bestätigt.

Schauen wir uns das Verb an: Kein „eingeräumt“, kein „gewährt“. Was für eine Wohltat das Wort „bestätigt“ sein kann, nicht nur bei Schwangerschaftstests und Ankündigungen von jahrelang herbeigesehnten Computerspielen, sondern auch bei der Frage, wo die Rechte eines Menschen herkommen.

Denn in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung steht dazu bekanntlich (Hervorhebung hinzugefügt):

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

(Fußnote: Es gibt seit 232 Jahren einen Streit darüber, ob die Rechte inalienable oder unalienable sind. Thomas Jefferson hatte in seinem ursprünglichen Entwurf inherent & inalienable geschrieben, was John Adams zu unalienable kürzte. Auf dem Jefferson Memorial steht stur inalienable, die offizielle Version des Kongresses lautet dagegen unalienable. Die sinnvollste Reaktion auf den Streit lautet whatever.)

Die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“, wie sie in einem anderen Dokument genannt werden, werden nach dieser Darstellung bei der Geburt mitgeliefert (das endowed). Wie genau das geschieht, darüber schwieg sich Jefferson aus. Vielleicht werden sie zusammen mit der Seele als ein Modul installiert.

Wie auch immer: Sie sind auf keinen Fall etwas, das der Staat, die Verfassung oder gar die Regierung einem freundlicherweise „gewährt“ oder „einräumt“. Der Staat hat vielmehr die Aufgabe, diese eingebauten Rechte zu schützen, wie es im nächsten Satz heißt:

That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed

Diese beiden Passagen bilden – mit Schwerpunkt auf dem ersten Teil – den „Glaubensgrundsatz“ der Amerikaner, den berühmten American Creed. Er beschreibt, wofür die USA stehen oder zumindest nach eigener Ansicht stehen sollten: liberty, equality, and consent, wie es der Historiker Herman Belz zusammenfasst. Das Kredo ist das leuchtende Ideal, die Messlatte für alle Gesetze und die Verfassung selbst.

Entsprechend haben sich die größten Vordenker der USA immer wieder auf diese Stelle bezogen. Die bekannste Rede von Abraham Lincoln, die Gettysburg Address [JPG], fußt auf Jeffersons bekanntesten Spruch. Martin Luther King Jr. bezog sich wiederum in seiner bekanntesten Rede nicht nur auf Lincolns Zwei-Minuten-Ansprache, sondern auch direkt auf Jefferson:

I have a dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed: „We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal.“

(Da Lincoln Jefferson zitiert hat und King später Lincoln und Jefferson, können wir vorhersagen, dass der nächste große amerikanische Bürgerrechtler Lincoln und Jefferson und King bemühen wird. Der interessierte Leser möge von dem Einsenden von Textvorschlägen absehen.)

Bei King sieht man am deutlichsten, wie der American Creed als eine Art nationales Gewissen funktioniert. Mehr noch, er bildet im Idealfall einen Korrekturmechanismus. Der Ablauf sieht dann etwa so aus:

  1. In den USA sollte X gelten. Haben die Gründungsväter gesagt.
  2. Uh-oh: X gilt aber nicht. Das ist gemein und unamerikanisch.
  3. Wir machen jetzt X, notfalls mit Gewalt. Jefferson ist mit uns!

Der schwedische Nobelpreisträger Gunnar Myrdal sprach von einem ständigen Kampf der Amerikaner „um ihre Seele“. Wer will, kann die Geschichte der Bürgerrechte in den USA als Erfüllung von Jeffersons Vorgaben sehen, ob bei den Schwarzen, den Frauen oder wie viele, wenn auch sicher nicht alle Amerikaner sagen würden, den Homosexuellen.

Das Kredo ist auch eine der Grundlagen für die Idee, Amerika sei ein besonderer etwas anderer Staat. Die USA gibt es demnach nicht einfach nur, weil sich verwandte Stämme mit ähnlicher Kultur, Sprache und Religion zu immer größen Einheiten und schließlich zu einer „Nation“ zusammengeschlossen hätten. Nein, die USA seien auf einem Ideal aufgebaut worden, und dieses Ideal stehe in der Unabhängigkeitserklärung. Ausgerechnet ein Engländer, der Autor G. K. Chesterton, soll das als Erster ausformuliert haben:

America is the only nation in the world that is founded on a creed

Der tiefreligiöse Chesterton sprach dabei von der „theologischen Klarheit in der Unabhängigkeitserklärung“ und nannte Amerika „eine Nation mit der Seele einer Kirche“. Zyniker würden anmerken wollen, dass die Kolonialisten ursprünglich eher keinen Bock auf höhere Steuern hatten, aber gut. Auch Zefram Cochrane hatte zuerst wenig erbauliche Ziele.

Das ganze Gerede von Schweden und Engländern über Seelen und Kirchen bringt uns zu dem häufig unterstellten „missionarischen“ Drang der Amerikaner, sich als „Imperialisten“ anderen Staaten aufzwingen zu wollen. Auffällig ist aber dabei, dass die USA besiegten Gegnern nicht die amerikanische Verfassung verpassen, etwa in der Art wie die Briten inzwischen den halben Planeten mit ihrem Westminster-System überzogen haben.

Wenn überhaupt ist es der American Creed, diese Trias von liberty, equality, and consent, die weltweit verbreitet werden soll. Die praktische Umsetzung richtet sich dann nach den örtlichen Vorlieben. Schön, dass die Philippinen auch einen Kongress haben. Aber wenn die Deutschen ihren Kanzler, die Japaner ihr Ober- und Unterhaus und die Afghanen ihre Loja Dschirga für die bessere Lösung halten, bitte. Dann es ist wieder Zeit für das whatever.

Ob die USA wirklich noch der einzige Staat sind, der auf einem Glaubensgrundsatz gegründet wurde, ist natürlich Interpretationssache. Nehmen wir diese beiden Sätze:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Es bleibt dem interessierten Leser überlassen zu entscheiden, ob daraus auch ein gewisser missionarischer Drang entstanden ist, nur weil Deutsche bei Diskussionen über Dinge wie die Todesstrafe, den Datenschutz und die Meinungsfreiheit ständig die Menschenwürde anführen. Da heute der 4. Juli ist, muss dieser Autor jetzt dringend in die Küche, bevor die Blagen auch die letzten Chocolate Chip Cookies an sich gerissen haben.