Heute haben die USA Geburtstag, denn vor 230 Jahren erklärten die 13 Kolonien ihre Unabhängigkeit. Oder zumindest glauben das viele Leute, einschließlich einiger Amerikaner. Leider zu unrecht, denn das war schon zwei Tage vorher geschehen, als der Continental Congress die Unabhängigkeits-Resolution von Richard Henry Lee aus Virginia annahm. Am 4. Juli 1776 wurde nur der dazugehörige Text von Thomas Jefferson formell ratifiziert. Streng genommen sind die USA also heute 230 Jahre und zwei Tage alt.
Verdammt, schon wieder einen Geburtstag verpasst.
Echte Patrioten lösen das Problem dadurch, dass sie einfach vom 2. bis zum 4. Juli durchfeiern. Insbesondere Studenten entwickeln Anfang Juli eine ungeahnte Liebe zum Mutterland, die alle zeitlichen Grenzen hinwegfegt. Der Fehler ist also trivial und soll uns nicht weiter beschäftigen. Wir befassen uns heute stattdessen mit einem anderen Irrglauben im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung: Es geht um ein „Recht auf Glückseligkeit“, das angeblich in der amerikanischen Verfassung verankert sein soll.
An dieser Stelle bedauert dieser Autor, sich Regel 2 auferlegt zu haben, nämlich in diesem Blog keine Beispiele für Fehler aufzuführen. Denn seit Februar 2004 behauptet eine angesehene deutsche Computerzeitschrift auf ihrer Website in einem wöchentlichen Blog, dass Jefferson die pursuit of happiness in die Verfassung festgeschrieben habe. Abgesehen davon, dass Jefferson US-Botschafter in Paris war, als 1787 die Verfassung geschrieben wurde, zeigt peinlicherweise der beigefügte Link des Textes eindeutig, dass die folgenden Worte in der Unabhängigkeitserklärung stehen:
We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.
Als hilfsbereiter Mensch hat dieser Autor dem ungenannten Verfasser damals eine höfliche E-Mail geschrieben und auf den Fehler aufmerksam gemacht. Da es keine Antwort gab, schicke er im nächsten Jahr eine weitere Mail und in diesem Jahr gab es dann noch eine. Die hier nicht zu nennende Zeitschrift hat den Fehler jedoch bislang weder eingestanden noch korrigiert. Im Februar 2007 ist daher die nächste Mail fällig. Man braucht Ziele im Leben.
Diese Journalisten sind allerdings nicht die einzigen Leute, die glauben, Amerikaner hätten ein verfassungsmäßiges Anrecht darauf, glücklich zu sein. Schön wär’s. Aber selbst in der Unabhängigkeitserklärung wird nur von dem Recht gesprochen, nach der Glückseligkeit zu streben – pursuit of happiness, steht da, nicht einfach happiness. So toll wäre das also ohnehin nicht.
(Es gibt wirklich eine Verfassung, in der ein Recht auf das Streben nach Glückseligkeit verankert ist, nämlich die japanische. In Kapitel III, Artikel 13 steht nach offizieller Übersetzung:
All of the people shall be respected as individuals. Their right to life, liberty, and the pursuit of happiness shall, to the extent that it does not interfere with the public welfare, be the supreme consideration in legislation and in other governmental affairs.
Aber das nur am Rande.)
Nun muss man aber noch wissen, dass life, liberty and pursuit of happiness für Jefferson und seine Zeitgenossen einen ganz bestimmten Unterklang hatte. Denn die Formulierung ist vom britischen Philosophen John Locke geklaut, der von life, liberty and estate oder auch property sprach, also das Recht auf Besitz, genauer, Privatbesitz und Wohlstand. Hier ist nicht der Ort für einen philosophischen Exkurs zu Locke, für den dieser Autor ohnehin nicht qualifiziert wäre. Es reicht darauf hinzuweisen, dass Jeffersons Zeitgenossen sehr wohl wussten, wie das Originalzitat lautete und es entsprechen verstanden haben. So sprach kein geringerer als George Washington bei der Verfassungsgebenden Versammlung von dem Ziel einer [1]
government of respectability, under which life, liberty, and property will be secured to us
In der Verfassung wird im Fünften Zusatz festgehalten, dass man einem Bürger nur nach einem ordentlichen Verfahren life, liberty or property entziehen (das Verb lautet im Original deprive) kann. Von Glückseligkeit ist auch da nicht die Rede.
Aber warum hat Jefferson nicht „Besitz“ geschrieben? Auch hier brauchen wir nicht tief in die Philosophie oder in Jeffersons persönliche Sicht der Welt einzutauchen. Während die Verfassung ein furztrockenes Dokument ist, das sich (für damalige Verhältnisse) ohne Pathos mit dem Aufbau des Staates beschäftigt, ist die Unabhängigkeitserklärung ein hochemotionaler Text mit dem Anspruch, Grundsätzliches über den Menschen, seinen vom Schöpfer gegebenen Rechten und der Beziehung zu seiner Regierung festzuhalten. Etwas so krass materialistisches wie die Eigentumsfrage passt schon von der Stilebene da nicht hin. Die Verfassung ist bodenständig und pragmatisch, die Unabhängigkeitserklärung greift nach den Sternen und ist idealistisch.
Am Ende ist es deswegen auch völlig richtig, am 4. Juli zu feiern, denn das ist der Tag, an dem sich die Amerikaner formell zu diesen Idealen bekannt haben. Der Unabhängigkeitstag dient aus dieser Sicht dazu, sich einmal im Jahr kollektiv vor Augen zu halten, was die höheren Ziele der Amerikanischen Revolution waren, sich also an das grundsätzliche warum der USA zu erinnern. Die formelle Resolution zur Loslösung vom britischen Mutterland und selbst die Verfassung sind so gesehen nur die Folgen dieses Bekenntnisses, der Versuch, die Ideal der Unabhängigkeitserklärung in die Praxis umzusetzen.
Dass die Verfassung am 4. März 1789 in Kraft trat und in vielen Teilen der USA im März noch das Bier in der Flasche gefriert, spielt selbstverständlich nur am Rande eine Rolle. Zumindest die besagten patriotischen Studeten meinen aber, dass es reicht, wenn man sich auf den Partys zu Halloween, Weihnachten und Silvester den Arsch abfriert. Die Freiheit macht halt noch mehr Spaß, wenn man sie im Bikini feiern kann.
Noch ein Fehler zum Schluss: Bitte nicht Engländern zum Unabhängigkeitstag gratulieren. Briten und Amerikaner haben zwar viele gemeinsame Feiertage, aber gerade der vierte Juli gehört nicht dazu, und Engländer sind eher unglücklich, an eine ihrer größten Niederlagen erinnert zu werden. Im Moment haben die ja schon genug an der Fußball-WM zu knabbern.
([1] Brogan, Hugh The Penguin History of the USA, 2nd Ed 1999, Seite 196.)
(Korrigiert 8. Feb 2007: Vorname von Locke. Zuerst gesehen von EB, vielen Dank)