Warum das Urteil zu Obamacare so wichtig sein wird (und was es mit Brokkoli zu tun hat)

April 13, 2012

Journalisten und (Hust) Blogger haben die Angewohnheit, gewisse Ereignisse als unfassbar wichtig darzustellen, auch wenn sie es nicht sind, und Dinge „historisch“ zu nennen, die bestenfalls in den Fußnoten landen. Heute reden wir aber einmal von einer anstehenden Gerichtsentscheidung, die den Hype tatsächlich verdienen dürfte: Das Urteil des Supreme Court zu der Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama, dem Affordable Care Act, allgemein „Obamacare“ genannt. Hier geht es um nichts geringeres als die Frage, wie viel Macht der Kongress hat. Im schlimmsten Fall droht der absolute Horror: Dieser Autor müsste vielleicht sogar einige Texte umschreiben.

Es gibt viele Klagen gegen Obamacare. Wir schauen uns hier die zum individual mandate (formell: minimum coverage provision) an — ob der Bund das Recht hat, Leute zum Abschluss einer Versicherung zu zwingen.

(Das ist grob vereinfacht, wie immer. Wer es differenzierter haben will, wird beim SCOTUS Blog fündig, wo es ausführliche Diskussionen auf Fachebene gibt, sowie eine kurze Beschreibung, wie die Richter eigentlich bei solchen Fällen vorgehen.)

Fleißig wie wir sind haben wir den geschichtlichen Hintergrund schon abgehandelt. Vom ursprünglichen Aufbau her hat der Bund in den USA nur wenige Befugnisse, die in der Verfassung aufgelistet sind. Als Faustregel ist er für die „nach außen“ gewandten Dinge verantwortlich, während die Bundesstaaten das „innere“ Zeugs regeln. Zudem ist der Bund für die Beziehungen zwischen den Bundesstaaten verantwortlich.

Inzwischen sind die Befugnisse des Bundes allerdings massiv ausgeweitet worden, insbesondere durch zwei Schritte:

Erstens, nach dem Bürgerkrieg bei den Bürgerrechten aus der Bill of Rights, die inzwischen größtenteils auch für die Bundesstaaten bindend sind. Dazu gehört neuerdings mit diversen Einschränkungen der Zweite Verfassungszusatz, der das Recht auf den Besitz einer Waffe regelt (McDonald v. Chicago).

Zweitens, während der Weltwirtschaftskrise, als die Befugnisse des Kongresses zur Regelung des Handels zwischen den Bundesstaaten (Commerce Clause der Verfassung) deutlich ausgeweitet wurden. Wie weit genau der Bund hier gehen kann, ändert sich seitdem von Entscheidung zu Entscheidung des Obersten Gerichts.

Um genau diesen zweiten Punkt geht es wieder bei der Frage des Einzelmandats: Hat der Bund das Recht, (fast) jeden Bürger dazu zu zwingen, sich zu versichern und sonst Strafe zu zahlen? Wenn ja, kommt das einer weiteren massiven Ausweitung der Macht des Bundes — genauer, des Kongresses — gleich. Wenn nein, wird der Bund in seine Schranken verwiesen und die Bundesstaaten erhalten einen Teil ihrer Macht zurück. Oder wie es Ilya Sominvon der George Mason University formuliert:

If the federal government prevails, Congress is likely to have an unlimited power to impose mandates of any kind. If the plaintiffs win, the Court will have reaffirmed the importance of constitutional limits on federal power.

Die Argumente der Gegner der Reform sind einfach: Was der Bund darf, steht in der Verfassung, und das steht da nicht. Basta. Außerdem könnten die Clowns in Washington der Kongress dann den Bürger nach Belieben dazu zwingen, Dinge zu kaufen. Weil Angelsachsen nicht dem germanischen Tabu gegen Humor bei ernsten Themen unterworfen sind, sprach der Oberste Richter Antonin Scalia in diesem Zusammenhang bei einer Anhörung von einem hypothetischen Zwang, Brokkoli zu kaufen:

Everybody has to buy food sooner or later, so you define the market as food. Therefore, everybody is in the market. Therefore, you can make people buy broccoli.

Seitdem wird in der Obamacare-Diskussion ständig über Brokkoli geredet, ein Gemüse, das ohnehin erstaunlich viel Raum in der amerikanischen Politik einnimmt.

Die Argumente der Befürworter beschränken sich nicht nur auf den Hinweis, dass Brokkoli und eine allgemeine Versicherungspflicht wie, nun, Äpfel und Birnen sind. Ihre Darstellung: Wer keine Versicherung kauft, entscheidet sich, seine Krankenhauskosten selbst zu tragen. Das hat massive Auswirkungen auf den Gesundheitssektor und damit den Handel zwischen den Bundesstaaten — und fällt wegen des Commerce Clause unter Bundesrecht. Dass Verweigerer Strafe zahlen müssen, ist demnach durch die unstrittigen Befugnisse des Kongresses zum Eintreiben von Steuern gedeckt. Außerdem erfordere ein landesweites Problem wie die Krise im US-Gesundheitssystem eine landesweite Lösung.

(Wer die Diskussion nur sporadisch verfolgt, mag an dieser Stelle verwirrt sein. Hat Obama nicht immer betont, dass dieser Teil des Gesetzes keine Steuer darstellt? Ja, hat er. Und überhaupt, hatte Obama nicht im Vorwahlkampf erklärt, dass es kein allgemeines Einzelmandat geben dürfe und das sogar seiner Rivalin Hillary Clinton um die Ohren gehauen? Ja, hatte er.)

Wir sollten an dieser Stelle betonen, dass es hier nur um das Recht des Bundes geht, eine solche Versicherungspflicht einzuführen, nicht um das Recht „des Staates“, wie es gelegentlich in den deutschen Medien heißt. Den einzelnen Bundesstaaten bleibt es ungenommen, innerhalb ihrer Rechtssysteme derartige Mechanismen einzuführen.

Daher verteidigt der faktische republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney das Einzelmandat, das während seiner Zeit als Gouverneur von Massachusetts dort als Teil einer allgemeinen Krankenversicherung eingeführt wurde. Umfragen zufolge sind die Bürger des Bundesstaates mit ihrer „Landesversicherung“ zufrieden, während eine Mehrheit der Amerikaner die „Bundesversicherung“ Obamacare ablehnt.

Haben wir irgendwelche Andeutungen, wie die Entscheidung des Supreme Court ausfallen könnte? Nun, die besagte Anhörung vor einigen Tagen lief nach Einschätzung von Beobachtern wie dem britischen Magazin The Economist eher mies für die Regierung.

(…) Mr Obama’s chief lawyer began unsteadily, stopped to sip water and never quite recovered. As everyone will eventually consume health care, he explained, Congress may regulate the way Americans pay for it. Yet Mr [Donald] Verrilli made these points shakily. Several times the court’s liberal justices interrupted to make his argument for him.

Daneben liegen diverse Vorentscheidungen unterer Instanzen vor, die allerdings mal so und mal so ausgingen. Am Ende muss eine so grundsätzliche Frage halt vom Supreme Court geregelt werden. Der Bundesrichter Jeffrey S. Sutton aus Ohio forderte das Gericht entsprechend auf, endlich einmal Klartext zu reden:

The Court should stop saying that a meaningful limit on Congress’s commerce powers exists or prove that it is so.

Im Sommer sollten wir mehr wissen.