Noch mehr Macht für Washington: Der New Deal und die Verfassungsrevolution von 1937

Januar 23, 2011

In unserem Gesamtüberblick über die USA haben wir erwähnt, dass der Bund über die Jahrhunderte immer mehr Macht auf Kosten der Bundesstaaten gewonnen hat. Den ersten der zwei größten Schritte dahin haben wir schon beschrieben: Das nach dem Bürgerkrieg im 14. Verfassungszusatz eingeführte Prinzip, dass die Bürgerrechte auch für die Bundesstaaten bindend sind.

Dass wir den zweiten Schritt vor uns her geschoben haben, die „Verfassungsrevolution von 1937“ im Rahmen des New Deal, erweist sich als Glücksfall: Jetzt können wir Bezug nehmen zu aktuellen Entwicklungen wie die Forderungen der Tea Party Movement oder die Einwände gegen die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama. Fast so, als hätten wir es geplant!

Wir müssen dazu zurück zur Weltwirtschaftskrise. Nein, nicht die von 2008, sondern zur Great Depression, die im Oktober 1929 mit dem Kurssturz an der Wall Street [YouTube] begann und ihren tiefsten Punkt 1933 erreichte. Die unglaubliche Not dieser Zeit — Massenarbeitslosigkeit, Hunger, der Zusammenbruch der Wirtschaft — ist nicht unser Thema. Für uns ist die Reaktion des Bundes wichtig.

Die Krise traf den republikanischen Präsidenten Herbert Hoover. Der hatte im Wahlkampf noch erklärt:

We in America today are nearer to the final triumph over poverty than ever before in the history of any land.

Nun, nach dem Wall Street Crash war das dann nicht mehr der Fall. Hoover sah es hauptsächlich als die Aufgabe der Bundesstaaten und Kommunen an, die Wirtschaft anzukurbeln – die klassische Aufgabenteilung zwischen dem nach außen gewandten Bund und den nach innen gewandten Bundesstaaten. Dummerweise waren Länder und Städte völlig pleite. Eine direkte Hilfe des Bundes für den einzelnen Bürger lehnte Hoover ab. Er wurde, um es höflich zu formulieren, ein wenig beliebter Präsident.

(Hoover fasste seine Sicht der Krise später in einem Brief zusammen. Seine Rolle ist umstritten, wie so ungefähr alles im Zusammenhang mit der Krise. Wir überlassen den Streit den Profis und betrachten nur die groben Abläufe.)

Im Wahlkampf 1932 traf Hoover auf den Demokraten Franklin Delano Roosevelt.

Man kann sich FDR in erster Näherung als eine Art Dampfwalze oder Lokomotive vorstellt, auch wenn das Bild wegen seiner Lähmung durch Polio (oder Guillain-Barré) eigentlich überhaupt nicht passt. Der in Harvard ausgebildete Anwalt wurde von der absoluten Überzeugung getragen, dass nur er das Land retten konnte [1]:

He was a master politician, who took command with absolute authority: He knew […] that he could save the country and that no one else could.

Roosevelt gewann die Wahl deutlich. Seine Antrittsrede [Video] 1933 gehört zu wichtigsten und einflussreichsten Ansprachen in der Geschichte der USA.

[L]et me assert my firm belief that the only thing we have to fear is fear itself …

Dann legte Roosevelt los. Die Amerikaner sind stolz darauf, dass sie in ihrer Not nicht wie die Europäer den Lockrufen von Faschismus und Kommunismus folgten, sondern an der Demokratie festhielten. Allerdings war kein Präsident – nein, auch nicht George W. Bush – jemals so faktisch ein Despot wie FDR [2]:

For the first three months after his inauguration — the so-called Hundred Days — Franklin Roosevelt was the American dictator, in the very best sense of that term.

Gemeint sind hier die antiken Diktatoren der römischen Republik, die vorübergehend das Heft in die Hand nahmen (da alle wissen, wie das ausging, führten die USA nach den Erfahrungen mit FDR die Begrenzung der Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten ein). Roosevelts kurze Quasi-Diktatur war vor allem deswegen möglich, weil der Kongress völlig verzweifelt und zu allem bereit war. Gesetze wurden zunächst einfach durchgewunken.

Roosevelt nutzte den Freiraum, um massive Hilfsprogramme und neue Institutionen auf Bundesebene einzuführen – den New Deal. Die mehr als 100 neue Behörden wurden wegen ihrer Abkürzungen alphabet agencies genannt: AAA, CCC, FDIC, NRA (die National Recovery Administration, nicht die Waffenlobby), SEC, TVA, WPA, und so weiter. Der Bund nahm die Wirtschaft in die Hand, die USA wurden von oben nach unten umgekrempelt.

Aber Moment, war das legal? Eigentlich nein, denn die Verfassung sagte nach der bis dahin gängigen Interpretation, dass so etwas Sache der Bundesstaaten war. Entsprechend kassierte der Supreme Court die Programme wieder. Wir können den Ablauf dieser Jahre so beschreiben:

  1. Roosevelt entwirft eine Initiative gegen die Wirtschaftskrise. Sie wird unter einer bizarren Buchstabenkombination bekannt.
  2. Der Kongress nimmt den Gesetzentwurf in Windeseile an. Er zeigt sich dabei etwa so kritisch wie die Volksversammlung in Pjöngjang.
  3. Die neue Behörde nimmt die Arbeit auf. Sie ist mehr oder weniger erfolgreich.
  4. Der Oberste Gericht fällt vor Entsetzen vom Stuhl und erklärt die Institution für verfassungswidrig.

Besonders die ersten Maßnahmen des New Deal waren handwerklich so schlecht gemacht — übereilte, überstürzte, hingerotzte Gesetze — dass das Gericht kaum eine andere Wahl gehabt hätte. Aber es prallten hier auch völlig verschiedene Verfassungsinterpretationen aufeinander.

Im Kern ging der Streit um die Commerce Clause, die „Handelsklausel“ der Verfassung in Artikel 1, Sektion 8, Absatz 3. Dort wird dem Kongress das Recht zugesprochen (Hervorhebung hinzugefügt):

to regulate commerce with foreign nations, and among the several states, and with the Indian tribes

Das war mehr als 150 Jahre so verstanden worden: Wenn es um den Handel innerhalb eines Bundesstaates ging, hatte der Bund sich herauszuhalten. Erst wenn die Landesgrenze überquert wurde, konnte der Kongress mitreden. Damit waren ganze Bereiche der Zuständigkeit des Bundes entzogen, wie Fabriken oder Bergwerke.

Als Beispiel mag das Urteil Schechter Poultry vs. United States von 1935 gelten. Darin stellte das Oberste Gericht fest, dass der Bund sich nicht in den Hühnchenhandel innerhalb des Bundesstaates New York einzumischen habe, da die Vögel nicht über die Landesgrenzen geschleppt wurden:

Activities local in their immediacy do not become interstate and national because of distant repercussions.

Allgemeiner formuliert lautete die Kritik, dass Roosevelt die Macht des Bundes auf Kosten der Bundesstaaten ausweiten wolle. Der Vorsitzende des Obersten Gerichts, Charles Evans Hughes, fasste seine Ablehnung der New-Deal-Philosophie in einem berühmten Satz zusammen [1]:

Extraordinary conditions may call for extraordinary remedies. But extraordinary conditions do not create or enlarge constitutional power.

In der Praxis war das Gericht tief gespalten. Vier der neun Richter – die sogenannten Four Horsemen – waren gegen die Maßnahmen, drei – die Three Musketeers – waren dafür. Die anderen zwei, Hughes und Owen J. Roberts, entschieden sich mal so, mal so.

Roosevelt reichte es irgendwann mit den bockigen alten Männern. Nach seiner Wiederwahl startete er einen Frontalangriff auf den Supreme Court: Im Februar 1937 schlug er vor, das Gericht auf bis zu 15 Richter zu erweitern, dem court-packing plan. Als Präsident hätte er die zusätzlichen Stellen besetzen können.

Das ging allen dann doch etwas weit. Aus dem Plan wurde nichts. Aber kurz nach dem Vorstoß passierte etwas seltsames: Roberts wechselte bei der Entscheidung über West Coast Hotel Co. vs. Parrish – es ging um den Mindestlohn – zu den Musketieren. Amerikanische Historiker sprechen von the switch in time that saved nine, eine Anspielung auf das Näh-Sprichwort a stitch in time saves nine. Das Gericht gab ab hier seinen Widerstand auf.

Seit dem gilt, sehr vereinfacht gesagt, dass alle Dinge in einem Bundesstaat, die den Handel in anderen Bundesstaaten betreffen, Sache des Bundes sein können. Statt also die Macht des Bundes zu begrenzen, erhält dieser nun durch die Handelsklausel

virtually unlimited access to matters heretofore reserved for the states

Wohlgemerkt: Nicht ein Buchstabe der Verfassung wurde geändert, der Kongress wurde nicht befragt und die Bundesstaaten schon gar nicht. Das Oberste Gericht entschied einfach, dass ein einziger Satz plötzlich komplett anders zu verstehen sei als er bislang von allen Gerichten zuvor verstanden worden war. Daher der Begriff der „Verfassungsrevolution“.

Dass alle mitmachen, hat einen einfachen Grund: Viele Dinge funktionieren jetzt besser. Der interessierte Leser wird in der obigen Liste der Alphabet-Behörden die Börsenaufsicht SEC erkannt haben, die es bis heute gibt. Auch das Hilfsprogramm Social Security und die Gesetze zum Mindestlohn gehen auf den New Deal zurück, um zwei weitere Beispiele zu nennen.

Der Preis dafür ist ein massiver Machtzuwachs des Bundes auf Kosten der Bundesstaaten. Etwas bösartig formuliert sieht der Ablauf jetzt so aus:

  1. Der Kongress regt sich über X auf. Das geht so nicht!
  2. Aber Moment, sagen sich die Abgeordneten. Hat X nicht irgendwas mit Handel zu tun, irgendwie? Aber natürlich! Dude, das ist unser Beritt!
  3. Der Kongress erlässt ein Gesetz zu X.

Ursprünglich sah die Verfassung eine Möglichkeit für die Bundesstaaten vor, den Elan der Abgeordneten in Washington in Schach zu halten: Der Senat wurde, ähnlich wie der Bundesrat in Deutschland heute, von den Bundesstaaten besetzt. Durch den 17. Verfassungszusatz wurde 1913 jedoch die Direktwahl der Senatoren eingeführt, um die Macht des Volkes zu stärken. Jetzt bleibt den Staaten nur der Gang vor das Oberste Gericht (weswegen einige Leute eine Rückkehr zum alten Senats-System fordern).

Kritiker sehen insbesondere den Zehnten Verfassungszusatz ausgehebelt, der da sagt: Der Bund darf nur die Dinge regulieren, die ausdrücklich in der Verfassung aufgelistet sind (die enumerated powers). Alles andere bleibt bei den Bundesstaaten.

In den vergangenen Jahren haben die Richter das Pendel wieder etwas zurückgeschlagen lassen. Ein wichtiges Urteil war 1995 United States vs. Lopez. Der Bund hatte versucht, mit dem Hinweis auf die Handelsklausel Waffengesetze in Schulzonen zu regeln. Jetzt reichts, sagt das Gericht: Wenn das so weiter geht, kann der Kongress einfach alles bestimmen und den Föderalismus komplett aufheben.

[I]f we were to accept the Government’s arguments, we are hard pressed to posit any activity by an individual that Congress is without power to regulate.

Jetzt reichts, sagen inzwischen auch einige der Bundesstaaten — das Schlagwort lautet States‘ rights. Gegen die als „ObamaCare“ genannte Gesundheitsreform haben 26 der 50 Staaten Rechtsmittel eingelegt. Einer ihrer Einwände lautet: Wo bitte steht in der Verfassung, dass der Bund den Bürger zu einer Versicherung zwingen kann? Na, das Gesundheitssystem hat doch auch mit dem Handel zu tun, argumentieren die Befürworter. Am Ende wird wieder das Oberste Gericht entscheiden müssen.

Zu den lautesten Vertretern einer Rückkehr zu einem stärkeren Föderalismus gehört heute die Tea Party Movement. Hier wird die Bedeutung des Zehnten Verfassungszusatzes betont – daher der Begriff des Tenther. Die extremsten Vertreter fordern, dass der Bund sich auf besagte 30 Zuständigkeiten beschränken muss. Alles andere, ob Meinungsfreiheit, Waffengesetze, Homo-Ehe oder Gesundheitspolitik, soll bei den Bundesstaaten bleiben (Hervorhebung im Original):

The federal government was delegated certain enumerated powers from the people of the several states. Everything else is left to those states to decide for themselves. Whether they want school prayer, the death penalty, abortions, medical marijuana or machine guns.

Das wäre nicht nur eine Rückkehr zu der Struktur der USA vor dem New Deal, sondern auch vor dem Bürgerkrieg. Es ist daher gleichzeitig völlig richtig und völlig irreführend, diese Leute als „konservativ“ zu bezeichnen, denn sie sehen die meisten Republikaner als Teil des Problems an. Allerdings muss man betonen, dass die Mehrheit der Tea Party Movement nicht so weit gehen will. Einig sind sie sich, dass die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte gestoppt werden muss.

Wie erfolgreich der von den (Erz-)Konservativen und dem heutigen Obersten Gericht vorangetriebene sogenannte New Federalism sein wird, ist unklar — wie auch, ob das wirklich die Richtung sein sollte, in die sich das Land bewegt. Der Streit über die Machtverteilung zwischen Bund und Bundesstaaten dürfte nie entschieden sein.

([1] Brogan, Hugh The Penguin History of the United States Penguin Books 1999 [2] Gorden, John Steele An Empire of Wealth, Harper Perennial 2004)

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