Der Bund Teil 4: Wie Gesetze entstehen

Juli 26, 2006

Nachdem wir den Senat und das Repräsentantenhaus vorgestellt haben, wollen wir sie jetzt auch etwas tun lassen: Heute besprechen wir, wie in den USA Gesetze entstehen. Das ist nichts für schwache Nerven, daher ist vielleicht ein kleiner Vorrat an Schokolade angebracht.

Wir hatten gesehen, dass beide Kammern bei der Gesetzgebung gleichberechtigt sind (die Ausnahme waren Finanzgesetze, die vom Repräsentantenhaus ausgehen müssen). Es ist also eigentlich egal, wo wir anfangen: Der bill, also die Gesetzesvorlage, muss am Ende von beiden angenommen werden. Wir gehen einfach mal vom Senat aus, weil das Wort kürzer ist.

Eines Morgens wacht also ein Senator auf und hat eine Idee für ein Gesetz, ohne das die Amerikaner seiner Meinung nach nicht mehr leben können, obwohl sie es seit mehr als 200 Jahren tun. Egal: Er weckt seinen Stab und die formulieren dann einen Entwurf, der seit 1871 mit den Worten anfängt:

Be it enacted by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled

Dann kommt der eigentliche Text. Der Entwurf wird im Senat in einen „Eingangskorb“ gelegt, einem hopper. Es folgt eine kurze Orgie bürokratischer Formalismen, in deren Verlauf der Bill offiziell ins Protokoll aufgenommen und mit einer Nummer versehen wird. Diese Nummer ist wichtig, denn damit kann man über die Kongress-Datenbank THOMAS (benannt nach Thomas Jefferson) herausfinden, wie der genaue Text lautet und welchen Status der Entwurf hat.

Der nummerierte Bill wird als nächstes an einen der committees, der Ausschüsse, übergeben.

Ausschüsse und Unterausschüsse werden mit keinem Wort in der Verfassung erwähnt, haben aber eine ungeheuere Macht. Der jeweils zuständige Ausschuss entscheidet darüber, ob der Entwurf überhaupt der ganzen Kammer vorgelegt wird. Sie haben also eine Filterfunktion, ähnlich wie in Deutschland. Die Ausschuss-Mitglieder besprechen den Entwurf, halten vielleicht einige Anhörungen (hearings) ab und können ihn mit Anhängen (amendments) versehen. Dann wird abgestimmt. Wenn der Ausschuss damit glücklich ist, geht der Entwurf an die ganze Kammer, also in unserem Beispiel an den Senat. Anderenfalls ist er tot.

Überlebt der Bill den Ausschuss, wird er oft von der ganzen Kammer mit nur kurzer Debatte abgenickt.

Ein solcher Fall ist der jüngst von Senator Jack Reed aus Rhode Island eingebrachte Vorschlag S.3187, die Postfiliale an der Post Road Nummer 5755 in East Greenwich in Rhode Island in „Richard L. Cevoli Post Office“ umzubenennen. Das Postsystem untersteht dem Bund, deswegen ist der Kongress dafür zuständig. Hier fand der Ausschuss des Senats für Homeland Security and Governmental Affairs alles in Ordnung, und auch der ganze Senat war so begeistert, dass er den Entwurf einstimmig verabschiedet hat. Cevoli war übrigens ein Kriegsheld aus, wer hätte das gedacht, Rhode Island.

Aber nicht alle Entscheidungen sind so unumstritten, und dann geht die Debatte in der Kammer weiter. Es können auch hier Amendments hinzugefügt werden – wir hatten bei einem früheren, kurzen Ausflug in die Welt der US-Gesetzgebung gesehen, dass 100 Senatoren problemlos 122 Anhänge hinbekommen. Über diese Anhänge wird nun einzeln abgestimmt.

Dieser Vorgang sorgt regelmäßig für heillose Verwirrung unter deutschen Journalisten. Nach der Abstimmung über einen Amendment schreiben sie schon mal atemlose Meldungen über ein „Gesetz“, das der Senat oder das Repräsentantenhaus „verabschiedet“ haben soll. Abgesehen davon, dass eine Kammer alleine nie ein Gesetz verabschiedet, sondern nur einen Gesetzentwurf, muss man sich klar machen, dass viele Amendments taktischer Natur sind: Manche werden als Verhandlungsmasse für die späteren Debatten mit der anderen Kammer eingefügt, andere sind bewusst so extrem formuliert, dass selbst die Befürworter des ursprünglichen Entwurfs nicht anders können, als gegen den kompletten Text zu stimmen (poison pills). Bei Abstimmungen über Amendments gilt daher die Regel: Ruhe bewahren.

Irgendwann hat die Kammer über alle Anhänge abgestimmt. Dann ist der Entwurf als Ganzes an der Reihe. Wir er abgelehnt, ist er tot. Wird er angenommen, ist es vielleicht Zeit für die Schokolade, denn der Text landet in den Hopper der anderen Kammer und der ganze Prozess beginnt noch einmal von vorne. Mit Ausschüssen, mit Anhängen, mit allem. Wir sind bei unserem Beispiel jetzt im Repräsentantenhaus.

Wenn dieser ihn durchnickt, ist alles gut – so dürften weder das zuständige House Committee on Government Reform noch das ganze Repräsentantenhaus tiefgehende Bedenken gegen die Cevoli-Postfiliale haben. Allerdings kann die Kammer den Text auch verändern oder einen komplett eigenen Entwurf vorlegen. Dann wird am Ende ein Schiedskomitee (conference committee) einberufen. Dieser wird von Mitgliedern beider Kammern besetzt und darf sich nur mit den Unterschieden zwischen den Entwürfen befassen. Die Kompromissversion wird – mehr Schokolade, bitte – dann wieder den Kammern zur Abstimmung vorgelegt. Wenn sie ihn ablehnen, ist der Entwurf tot, oder man versucht nochmal, sich zu einigen.

Hat der Entwurf aber auch das überstanden, wird er als enrolled bill dem Präsidenten geschickt, der ihn unterschreiben soll. Tut er es nicht, ist das Gesetz nach zehn Tagen (Sonntage nicht mitgezählt) trotzdem amtlich. Der Präsident kann ein Veto einlegen. Wenn er das tut, muss jede Kammer den Entwurf nochmal mit zwei Dritteln der Stimmen verabschieden, um das Veto zu überstimmen. Klappt das nicht, ist er tot (der Entwurf, nicht der Präsident).

Und so entstehen in den USA Gesetze, oder eben auch nicht.

Das ist die kurze Version: Die lange findet sich unter How Our Laws Are Made auf der Website der Kongressbibliothek. Was wir erstmal festhalten sollten:

Erstens: Eine Kammer allein macht noch kein Gesetz. Ein Medienbericht über einen Entwurf, der im Senat verabschiedet wird, muss immer auch erwähnen, wie das Repräsentantenhaus dazu steht und umgekehrt. Fehlt das, heißt es meist, dass der Autor keine Ahnung hat, wie das US-System funktioniert.

Zweitens: Einige Abstimmungen sind wichtiger als andere, und viele kann man als Betrachter im Ausland ganz ignorieren. Im Zweifelsfall selbst bei THOMAS nachschauen, was wirklich passiert ist.

Drittens: Der Präsident ist an der Gesetzgebung nicht beteiligt. Der Kongress erlässt Gesetze eigenmächtig und gerne auch gegen den Willen der Regierung. Nur am Ende kann der Präsident sein Veto einlegen.

(Der letzte Punkt ist nicht ganz richtig. Zwar hat der Präsident formell von der Verfassung her genau die gleichen legislativen Rechte wie dieser Autor, er hat aber einflussreichere Freunde. Und so kann der Präsident oder ein anderes Kabinettsmitglied eine executive communication an den Kongress schicken, in dem ein Gesetz vorgeschlagen wird. Dieser Schrieb geht dann an den Vorsitzenden des zuständigen Komitees, der ihn dann dort einbringt. Auf diese Weise fängt auch der Haushaltsprozess an: Der Präsident schlägt dem Kongress etwas vor, alle lachen herzlich, und dann wird verhandelt.)

Schaut man sich die Statistik [PDF] für die erste Hälfte der 109. Legislaturperiode an, stellen wir fest, dass im Senat 2169 Bills und im Repräsentantenhaus 4653 eingebracht wurden, aber am Ende nur 169 Gesetze herauskamen. Nun wurden einige Bills nur geschrieben, um die Wähler zu Hause glücklich zu machen: In Europa müssen nur die Parteien zeigen, dass sie etwas leisten, in den USA ist es jeder einzelne Abgeordnete. Einige Bills sind also reiner Wahlkampf, der Preis für die Direktwahl. Aber selbst wenn man das berücksichtigt, scheint die Versagerquote sehr hoch zu sein. Das US-System wirkt ziemlich umständlich und ineffektiv.

Das ist mit Absicht so.

Die Verfassungsväter hatten sehr genaue Vorstellungen, wie der jeweilige „Charakter“ der drei Gewalten sein sollte. Die Legislative, so die Idee, soll deliberative, also „abwägend“ oder „beratend“ sein. Und genau das tut der Kongress mit Gesetzentwürfen: Abwägen. Sie werden durch Ausschüsse gezerrt, in Anhörungen auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, von beiden Kammern auf den Kopf gestellt und so lange bearbeitet, bis alle damit mehr oder weniger zufrieden sind. Das dauert und das soll auch dauern. Jeder soll Zeit haben, darüber nachzudenken und neue Ideen einzubringen. Am Ende sollen nur wirklich gute Gesetze herauskommen – sonst lieber gar keins.

So gesehen sind 169 Gesetze vielleicht eher zu viele. Viel zu viele. Ist noch Schokolade da?

Bleibt die Frage, wie so eine „nachdenkliche“ Legislative auf Krisen, Kriege und Katastrophen reagieren kann, die ein schnelles Handeln erfordern. Die Antwort lautet, gar nicht. Für schnelle Entscheidungen sieht das US-System einen ganz anderen Mechanismus vor, einen, der sehr viel effektiver ist, als es irgendein Verfahren im Parlament es je sein könnte: Anweisungen (executive orders) des Präsidenten.

Und damit beschäftigen wir uns in der nächste Folge.