Wie man eine Verfassung bewirbt: Die Federalist Papers

Juni 11, 2006

Die EU hat ein Problem: Ihre neue Verfassung ist unbeliebt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor einigen Tagen angekündigt, den Bürgern den Sinn und Nutzen der ganzen Sache näher bringen zu wollen, um das Projekt noch zu retten. Andere Leute wollen den Namen des Dokuments ändern, weil „Verfassung“ angeblich zu staatstragend klingt. Dieser Autor wird das irgendwann zum Anlass nehmen, hier die wunderbare amerikanische Erfindung des duck test vorzustellen, aber nicht heute.

Das Problem – wie die meisten der EU – ist dabei nicht neu. Vor 220 Jahren wurde schon mal eine neue Verfassung einer misstrauischen Gruppe von unabhängigen Staaten zur Ratifizierung vorgelegt. Auch damals mussten die Befürworter die Gegner überzeugen, dass es sich lohnt, Teile der eigenen Souveränität aufzugeben. Herausgekommen sind einige der wichtigsten Dokumente der US-Geschichte, die aber in Deutschland fast unbekannt sind: Die Federalist Papers. Es ist unmöglich, länger über die USA zu reden, ohne sie zu zitieren, und deswegen führen wir sie hier ein.

Im Vergleich zu damals hat es die EU eigentlich noch einfach: Wenigstens hat sie ein Mandat, eine neue Verfassung zu schreiben. Als 55 Delegierte im Mai 1787 in Philadelphia zusammenkamen und die Tür hinter sich zuzogen, sollten sie dagegen eigentlich nur kleinere Verbesserungen an den Articles of Confederation vornehmen, das Grundgesetz des losen Bündnisses, das die 13 Kolonien durch den Unabhängigkeitskrieg geführt hatte. Rhode Island hielt selbst das für dummes Zeug und entsandte keine Vertreter. Als im September dann die Tür aufging und die neue Verfassung veröffentlicht wurde, war die erste Reaktion daher auch etwas in der Art von You did what? dem nach einem ersten Lesen ein You’re kidding, right? folgte.

Denn niemand war wirklich glücklich über die Verfassung, einschließlich der Leute, die sie geschrieben hatten. Das ganze Dokument war ein einziges Bündel von Kompromissen, gespickt mit – für die damalige Zeit – radikalen Ideen. Wie man später erfuhr, hatte das schon bei der (selbsternannten) verfassungsgebenden Versammlung (constitutional convention) für Unmut gesorgt. Die Mitglieder des Repräsentantenhauses für gleich zwei Jahre zu wählen erschien nicht Wenigen als ein erster Schritt in die Tyrannei – alles länger als ein Jahr, so das Argument, würde die Abgeordneten zu sehr vom Volk entfremden. Warum wurde die Sklaverei nicht abgeschafft? Wo waren die Bürgerrechte? Die Trennung von Kirche und Staat war schön und gut, aber musste man deswegen gleich zulassen, dass auch Katholiken Ämter besetzen dürfen?

Einige Delegierte reisten noch während der Versammlung ab, andere verweigerten die Unterschrift. Größen wie Benjamin Franklin gingen mit einer „besser wird es wohl nicht“-Mentalität heran. Helden des Unabhängigkeitskrieges wie Patrick Henry attackierten die Verfassung scharf. In Leserbriefen an New Yorker Zeitungen verdammten Autoren mit Pseudonymen wie „Brutus“ und „Cato“ den Plan. Zwar hatten auch die Befürworter mächtige Verbündete – an erster Stelle George Washington selbst, der die zusammengewürfelten amerikanischen Truppen zum Sieg geführt hatte. Aber es war klar, das Projekt stand auf der Kippe.

Gerade New York war für eine Ratifizierung kritisch. Zwar mussten im Gegensatz zur EU nicht alle Staaten der Verfassung zustimmen, sondern neun der dreizehn. Ohne das bevölkerungsreiche New York wären die neuen Vereinigen Staaten aber nicht lebensfähig.

Und so machten sich drei Männer auf, in einer Serie von öffentlichen Briefen für die neue Verfassung zu kämpfen: Alexander Hamilton, später Finanzminister, John Jay, später Oberster Richter des Supreme Court, und James Madison, späterer Präsident. Sie wählten das Pseudonym „Publius“, nach dem legendären Begründer der römischen Republik, Publius Valerius Publicola.

In insgesamt 85 Texten – teilweise drei pro Woche – legen sie in New Yorker Zeitungen zuerst dar, warum die Articles unzureichend waren und warum eine engere Bindung nötig war. Dann gingen sie Schritt für Schritt durch die neue Verfassung, um die Einwände der Gegner zu widerlegen. Sie erklärten die Logik hinter der Struktur des neuen Staates, warum gewisse Dinge gewählt und die Alternativen verworfen wurden, alles um die Bürger zu überzeugen, dass ihre Rechte und Freiheiten ausreichend geschützt sein würden.

Der Rest der Geschichte ist bekannt: New York ratifizierte die Verfassung nach einer hitzigen Debatte am 26. Juli 1788. Zwei Jahre später stimmte zähneknirschend auch die letzte der ursprünglichen Kolonien zu: Rhode Island.

Die Papers sind nicht einfach zu lesen. Das Englische hatte damals noch eine (irgendwie germanisch wirkende) Neigung zu Schachtelsätzen und Fremdwörtern; von dem heutigen Ideal des
plain English war man noch mehr als 100 Jahre entfernt. Als gebildeter Europäer und Nordamerikaner war man mit Bildern aus der griechischen und römischen Antike zu einem Grad vertraut, den heute nur noch Geschichtsstudenten erreichen. Moderne Ausgaben haben lange, lange Fußnoten.

Und dennoch. Die Federalist Papers verfehlen auch heute ihre Wirkung nicht. Die Gedenkengänge hinter den Artikeln zu lesen, erklärt zu bekommen, warum das Repräsentantenhaus auf zwei Jahre gewählt wird, warum die Exekutive aus einem Präsidenten und nicht einem Rat besteht und warum die einzelnen Bundesstaaten weiter ihre Milizen (heute die Nationalgarde) behalten sollen, lässt die trockenen Paragraphen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Papers geben der amerikanischen Verfassung, wenn man so will, so etwas wie eine Seele. Und egal wie verquast der Stil ist, bis heute spricht aus ihnen noch eine glühende Leidenschaft für die Union. Eine Leidenschaft, die man bei der EU irgendwie kaum so findet.

Können wir darüber spekulieren, was Publius zur europäischen Verfassung gesagt hätte? Regel 1 verbietet uns leider derartige Ausflüge. Wären die Papers ein Modell für die Freunde der EU-Verfassung? Vielleicht. Allerdings waren schon damals nicht alle Zeitungsleser begeistert. Rettet uns vor dem schreibwütigen Publius! verlangten 27 entnervte Leser in einer Aktion von den Redakteuren. Egal wie wichtig die Politik sich vorkommen mag, manchmal gibt es aus Sicht der Bevölkerung wichtigere Dinge.

Vielleicht sollte Merkel zumindest bis nach der Fußball-WM warten.

[Überarbeitet 10. April 2007]