Zur Religionsfreiheit

April 3, 2010

A right for a Protestant is a right for an Orthodox is a right for a Catholic is a right for a Jew is a right for a Humanist is a right for a Mormon is a right for a Muslim is a right for a Buddhist — and for the followers of any other faith within the wide bounds of the republic.

— The Williamsburg Charter (1988)

Noch nie hat dieser Autor auf einmal so viel E-Mail bekommen wie nach der Entscheidung eines US-Richters, einer deutschen Familie auf der Flucht vor der Schulpflicht Asyl zu gewähren. Wer hätte gedacht, dass den interessierten Lesern gerade das so am Herzen liegt? Man könnte fast eine gezielte Kampagne vermuten, wäre nicht die Hälfte der Zuschriften begeistert und die andere Hälfte entsetzt.

[Weil es so viele E-Mails waren, gilt dieser Eintrag als Gruppen-Antwort. Das ist unhöflich, aber bei der Menge hätten wir eh auf eine Form-Mail ausweichen müssen.]

Allen Lesern ist gleich, dass sie eine Einführung in das homeschooling haben wollen, den Schulunterricht zu Hause. Tatsächlich stand das Thema schon immer auf dem Programm. Allerdings muss man das schön der Reihe nach behandeln, nämlich zuerst

  1. den allgemeinen Aufbau des amerikanischen Schulsystems
  2. und dann erst das Homeschooling als Sonderfall.

Das dauert also noch einen Augenblick. Außerdem ficht die zuständige Behörde gerade das Urteil an.

Heute wollen wir als ersten Schritt eine Frage aus dem Weg schaffen, die bei vielen der Mails offen gestellt wurde und bei anderen mitklang: Sehen amerikanische Richter denn nicht, dass es in Europa und insbesondere in Deutschland auch Religionsfreiheit gibt?

Äh. Ehrlich gesagt, nein. Das muss man leider so hart sagen.

Denn der Religionsfreiheit wird in den USA ähnlich wie der Meinungsfreiheit ein komplett anderer Stellenwert eingeräumt. Das geht so weit, dass sie als first liberty bezeichnet wird: Die Freiheit des Geistes, so das Argument, ist die Voraussetzung für alle anderen Freiheiten.

Entsprechend steht die freedom of religion als erstes im Ersten Verfassungszusatz, noch vor der Meinungsfreiheit. Schauen wir uns den First Amendement nochmal mit neuer Betonung an:

Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.

Dieser Teil der Verfassung wird als establishment clause bezeichnet, weil er die „Einrichtung“ einer Staatsreligion verbietet. Der Kongress darf zudem nicht die freie Ausübung der Religion behindern: Das Oberste Gericht spricht von einer „wohlwollenden Neutralität“ (benevolent neutrality) des Staates. Allerdings hat es auch befunden, dass die Ausübung ihre Grenzen in anderen Rechten findet (man darf an Vampire glauben, aber sich nicht wie ein Vampir verhalten). Das ist alles in der Bundesrepublik nicht grundsätzlich anders.

Der wichtigste Unterschied zu Deutschland ist aber: Es darf keine Religion bevorzugt behandelt werden. Darauf werden wir immer wieder zurückkehren.

(Einige religiöse Themen haben wir schon besprochen: Durch den 14. Verfassungszusatz ist der First Amendment auch für die Bundesstaaten bindend; das no law wird nicht durch irgendwas wie „näheres regelt ein Bundesgesetz“ aufgeweicht, sondern heißt wirklich „kein Gesetz“; Blasphemie fällt unter die Meinungsfreiheit; es gibt keine staatlichen Feiertage nach europäischer Vorstellung; der Sonntag ist nicht geschützt. Religion und Militär haben wir gesondert behandelt.)

Schuld an dieser radikalen Auslegung ist die jahrhundertelange religiöse Verfolgung in Europa. Die religiösen Spinner Andersgläubigen wurden entweder in die Neue Welt abgeschoben oder flüchteten von selbst dorthin. Weil dieser Autor (unter anderem) skandinavische Vorfahren hat, schauen wir uns Schweden an:

The government of Sweden was connected to the State Lutheran Church, and, until 1858, people who practiced another religion faced being fined, put in jail, or exiled from the country.

Die Geschichte der Pilgrims, Gründer der Plymouth Colony im Jahr 1620, werden die interessierten Leser in der Schule gelernt haben. Was meist leider nicht behandelt wurde, ist was danach passierte. Denn ziemlich früh regte sich in der Kolonie Widerstand gegen den religiösen Zwang. Insbesondere ein Puritaner namens Roger Williams war der Meinung, dass die Gewissensfreiheit ein Geschenk Gottes sei.

So ein Quatsch, sagten die anderen Pilgrims, und setzten ihn vor die Tür.

Unverzagt gründete Williams 1636 mit Gleichgesinnten eine neue Kolonie, heute der Bundesstaat Rhode Island. Dieser Hort von Radikalen, als „Rogue“ Island beschimpft, gewährte erstmals allen Bürgern Glaubensfreiheit. Dies zog Menschen an, die in den anderen Kolonien nicht willkommen waren wie Juden (siehe die Touro-Synagoge) oder Quäker.

Williams benutzte 1644 in seiner Schrift The Bloudy Tenent of Persecution for Cause of Conscience erstmals den Begriff einer „Mauer“ zwischen Kirche und Staat, der später von Thomas Jefferson aufgegriffen werden sollte. In der Zwischenzeit ließ das englische Parlament Williams‘ Buch verbrennen. Trennung von Kirche und Staat? Da könnte ja gleich ein Katholik den Thron besteigen!

Einige Jahre später machte sich auch der britische Philosoph John Locke für die Glaubensfreiheit stark (außer für Katholiken, versteht sich). Als es etwa 150 Jahre und einen Unabhängigkeitskrieg später Zeit für die Verfassung war, hatte sich das Prinzip in Amerika so weit durchgesetzt, dass auf der Versammlung über das Verhältnis von Staat und Glaube nicht einmal ernsthaft diskutiert wurde [1]. Die wirklich radikale und in der Bevölkerung heftig umstrittene Neuerung fand sich in Artikel VI:

[N]o religious Test shall ever be required as a Qualification to any Office or public Trust under the United States.

Kein religiöser Eid, also Juden als gewählte Politiker? Na gut, wenn es unbedingt sein musste. Aber Moment, etwa auch Katholiken? Wut? Hatten diese Leute denn Locke nicht gelesen?

Obwohl die Bundesstaaten schnell nachzogen, hielten sich hier und da noch Reste. Marylands Verfassung sah lange eine declaration of belief in God vor. Erst das Oberste Gericht brachte den Bundesstaat 1961 in Torcaso vs. Watkins zur Vernunft: Auch Atheisten sind durch die Verfassung geschützt.

Radikale Christen in den USA behaupten hin und wieder, das sei alles schön und gut, aber eigentlich hätten die Verfassungsväter ihren christlichen Glauben als Grundlage des neuen Staats vorausgesetzt. Während des jüngsten Präsidentschaftswahlkampfs machte der republikanische Kandidat John McCain mit einer missverständlichen Formulierung in dieser Richtung von sich reden. Das ist dummes Zeug, wie unter anderem der 1797 mit dem muslimischen Tripolis geschlossene Treaty of Tripoli zeigt:

[T]he Government of the United States of America is not, in any sense, founded on the Christian religion […]

Die USA mögen von Christen gegründet worden sein, aber der Staat war schon immer weltlich. Entsprechend fehlt auch jeder Gottesbezug in der Verfassung.

Diese Trennung gilt auch 220 Jahre später. In amerikanischen Gerichtssälen gibt es keine Kreuze (selbst bei „Second-Hand-Kreuzen“ gibt es Ärger) und auch die Zehn Gebote sind dort verboten. Religiöse Symbole oder Monumente dürfen nicht auf öffentlichem Land gebaut werden. Im Moment wird gerade vom Obersten Gericht geklärt, was mit den bestehenden Denkmälern geschehen soll (Salazar vs. Buono). Im Extremfall müssten sie abgerissen oder umgesetzt werden.

[Neue Leser dieses Blogs werden jetzt vielleicht fragen, was dann mit dem Motto In God we trust oder dem One nation under God aus dem Fahneneid ist. Wie wir bereits besprochen haben, wurden diese Zeilen in den 50er Jahren im Kampf gegen die gottlosen Roten eingeführt. Beide sind entsprechend umstritten.]

Der genaue Verlauf der amerikanischen „Mauer“ zwischen Kirche und Staat ist (wie in Deutschland) bis heute nicht ganz klar. Ein Gefühl für den Streit bekommt man, wenn man sich die Arbeit der größten amerikanischen Bürgerrechtsgruppe ACLU anschaut. Ihre Klagen gegen Religion im Staat nehmen zwar den meisten Raum in den Medien ein. Tatsächlich gibt es aber keinen Mangel an Fällen, bei denen sie gegen übereifrige Religionsgegner vorgeht.

In der Praxis ist für Deutsche besonders eine Sache befremdlich: Der amerikanische Staat hat kein Recht, zwischen „echten“ und „falschen“ Religionen zu unterscheiden. Das betrifft insbesondere – der interessierte Leser wird auf das Wort gewartet haben – Scientology. Die von dem Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard gegründete Bewegung ist nach dem amerikanischen Recht ein Glaube wie das Christentum auch.

Entsprechend kritisiert das US-Außenministerium jedes Jahr höchst offiziell in seinem Menschenrechtsbericht die Situation in Deutschland, die sie als Diskriminierung beschreibt:

[German] Federal and some state authorities continued to classify Scientology as a potential threat to democratic order, resulting in discrimination against Scientologists in both the public and the private sectors.

Das heißt nicht, dass Verbrechen von Scientologen in den USA nicht verfolgt werden, wie Operation Snow White zeigt. Gegner der Organisation versuchen jedoch nicht, ein Verbot zu erwirken, das es nach der Verfassung nie geben wird. Sie arbeiten stattdessen mit einer möglichst umfassenden Durchleuchtung der Organisation und ihrer Arbeitsweisen (und beißendem Spott). Da Scientology eine „Geheimlehre“ enthält, die nur Eingeweihten zugänglich sein soll, versuchen sie die Inhalte an die Öffentlichkeit zu bringen. Scientology begegnet dem mit Klagen.

Der Staat kann eine Religionsgemeinschaft also nicht verbieten. Er kann aber sehr wohl darüber entscheiden, ob sie im Genuss von Steuervergünstigungen kommt. Auf der Website der Bundessteuerbehörde IRS kann man abfragen, welche Organisationen diese Vergünstigung erhalten. Zum Beispiel gibt es 19 Einträge mit dem Wort „wicca“. Die IRS stufte nach langem Streit auch Scientology unter 501(c)(3) ein.

Kehren wir zurück zu unserem amerikanischen Richter und die Frage, was er von der Situation in Europa halten würde. Was weiß er, wenn er die Nachrichten verfolgt?

Dass in der Schweiz keine Minaretten gebaut werden dürfen, zum Beispiel; dass in Frankreich Burka-Trägerinnen vom öffentlichen Nahverkehr ausgeschlossen werden sollen; dass auch Belgien das Kleidungsstück nicht mag; dass Irland gerade ein strenges Blasphemie-Gesetz erlassen hat; vielleicht sogar, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht den besonderen Schutz der Adventssonntage bestätigt hat:

[D]ie Verfassung selbst unterstellt den Sonntag und die Feiertage, soweit sie staatlich anerkannt sind, einem besonderen staatlichen Schutzauftrag und nimmt damit eine Wertung vor, die auch in der christlich-abendländischen Tradition wurzelt und kalendarisch an diese anknüpft.

Was für einen Amerikaner eine klare Bevorzugung des Christentums ist und damit ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit.

Wenn unser Richter weiter googlet ausführlicher recherchiert, wird er außerdem herausfinden, dass in gewissen europäischen Verfassungen nicht der Mensch (wie in We the People) zuerst kommt:

Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […]

Das klingt nicht nach einer Trennung von Kirche und Staat. Ihm wird vermutlich irgendwann auch auffallen, dass in Deutschland alle — je nach Bundesland mehr oder weniger stark — dazu gezwungen werden sollen, am Karfreitag möglichst wenig Spaß zu haben. So etwas verträgt sich ebenfalls nicht mit der amerikanischen Vorstellung von Religionsfreiheit – warum sollen Muslime und Juden nicht tanzen gehen dürfen, geschweige denn Hindus und Buddhisten, nur weil die Christen schlecht drauf sind?

Und dann gibt es noch die Kirchensteuer. Oh, die Kirchensteuer. Den Orden für die Verdienste um die transatlantischen Beziehungen in Gold mit Eichenlaub und Schwertern erhält nur der, der wenigstens einmal im Leben versucht hat, einem US-Bürger zu erklären, warum der deutsche Staat als Steuereintreiber für die Kirchen auftritt.

Der gemeine Amerikaner wird das nämlich zuerst für eine Verarschung halten: Eine church tax kennt er bestenfalls aus Filmen wie der Disney-Version von Robin Hood (die mit der Schlange Sir Hiss). Er hält es daher für völlig abwegig, dass ein demokratischer Industriestaat im 21. Jahrhundert noch so etwas machen könnte.

Hat man ihn mit viel gutem Zureden und im Extremfall mit der Vorlage der Lohnsteuerkarte davon überzeugt, dass es so etwas wirklich noch gibt, wird der Amerikaner nervös: Wie stellt der deutsche Staat denn sicher, dass die Muslime nicht mit dem Geld irgendwelche Anschläge finanzieren? Dass die Kirchensteuer gar nicht für Muslime eingezogen wird, leuchtet ihm dann wiederum nicht ein. Moment Mal, hier werden doch Religionen benachteiligt!

Und das ist am Ende das Problem: Die amerikanische Vorstellung von der Religionsfreiheit beinhaltet, dass der Staat keinen Glauben bevorzugen darf. Damit ist aus amerikanischer Sicht die Situation in Deutschland unzureichend, denn der Staat hat hier ein anderes Selbstverständnis.

Immerhin kann sich der interessierte Leser trösten: Großbritannien fällt völlig durch. Katholiken dürfen nämlich immer noch nicht auf den britischen Thron.

[1] Miracle at Philadelphia. The Story of the Constitutional Convention. Catherine Drinker Bowen, Back Bay Books 1966