Warum Abgeordnete (und viele Beamte) in den USA direkt gewählt werden

Oktober 23, 2006

Dieser Autor hat inzwischen seine Unterlagen für die Wahlen am 7. November bekommen und steht jetzt vor eine der wichtigsten Fragen, die sich ein Amerikaner in Deutschland bei der Inanspruchnahme seiner demokratischen Rechte stellen kann: Wenn zwingend ein number 2 pencil vorgeschrieben ist, was ist das für eine Bleistift-Härte im HB-System? Es gab einen guten Grund für den vorherigen Eintrag.

Die zweite Frage ist natürlich, wieso Bleistift und nicht Tinte, aber das ist eine Vorschrift des für diesen Autor zuständigen Bundesstaates New Mexico bei der Briefwahl. Die Zettel werden unter Aufsicht in Zählmaschinen gelegt, die eine Nummer 2 haben wollen. Angeblich alles kein Problem. Hmmm.

Die dritte und für uns heute wichtigste Frage lautet aber, wo ist der Anspitzer, denn es gibt viele, viele Kreise auszufüllen. Der etwa 20 mal 40 Zentimeter große Wahlzettel aus der zuständigen Gemeinde von New Mexico enthält folgende Posten:

Einen Senatssitz (Bund), einen Sitz im Repräsentantenhaus (Bund), Gouverneur und Vize-Gouverneur (Bundesstaat), einen Sitz im Repräsentantenhaus (Bundesstaat), Secretary of State (Bundesstaat), State Auditor (Bundesstaat), State Treasurer (Bundesstaat), Attorney General (Bundesstaat), Commissioner of Public Lands (Bundesstaat), County Commissioner (Gemeinde), County Assessor (Gemeinde) und der Sheriff (Gemeinde).

Dazu kommen weiter:

Fünf Landesbezirksrichter, sechs Richter des Metropolitan Court, 16 Richter, die abgewählt oder bestätigt werden können, drei Abstimmungen über die Herausgabe von zweckgebundenen Schatzbriefen des Bundesstaates (für Einrichtungen für Rentner, für die Bildung und für die Bibliotheken des Landes), sechs Abstimmungen über zweckgebundene Schatzbriefe der Gemeinde (für Investitionen in den Hochwasserschutz, in die Gemeindebibliothek, in Sicherheitsmaßnahmen für öffentliche Gebäude, in Parks und Schwimmbäder, für behindertengerechte Umbaumaßnahmen und in Straßen und Fahrradwege), eine Abstimmung über eine zweckgebundene Steuererhöhung für Kulturprojekte und vier Anträge auf eine Änderungen der Verfassung des Bundesstaates.

Einige Posten und Ämter, die man sonst erwarten würde, fehlen auf dem Wahlzettel, die Behörden der school districts zum Beispiel. Entweder werden sie von der Übersee-Briefwahl ausgeklammert, oder sie werden in zwei Jahren mit dem Präsidenten gewählt. Auf die Schnelle ließ sich das nicht klären.

Zur zweiten Gruppe: Wir hatten von der direkten Demokratie in den USA gesprochen, und so sieht das in der Praxis aus. Die Wahl der Richter und die Möglichkeit, sie aus dem Amt zu werfen, wird in einem späteren Eintrag besprochen.

Wir werden uns heute mit der ersten Gruppe beschäftigen. Für jeden dieser Posten stehen mindestens zwei Namen auf der Liste (in einigen Fällen kann man Kandidaten per Hand nachtragen). Dahinter steht zwar bei fast allen eine Partei, aber nur als Hintergrundinformation. Eine Zweistimme wie in Deutschland gibt es nicht. Das ist einer der größten Unterschiede zwischen Europas parlamentarischen Demokratien und dem amerikanischen Kongress: In den USA werden Menschen gewählt und nicht Parteien. Warum?

Drei Hauptgründe:

1. Kontrolle und Rechenschaft.

Die Amtsinhaber sollen einzig den Wählern Rechenschaft schuldig und auch nur von ihnen abhängig sein, nicht von einer Partei. Diese schirmt den Kandidaten sonst vom Volk ab: Am wichtigsten für ihn wird es, auf eine Parteiliste zu gelangen und dort einen möglichst hohen Platz zu bekommen. Er konzentriert sich darauf, den Parteibossen zu gefallen statt dem Bürger.

(Allgemein gelten Parteien in den USA seit Anfang an bestenfalls als ein unvermeidbares Übel, wie wir in einem eigenen Eintrag besprechen werden. Schon George Washington hat gegen sie gewettert. Amerikaner sind perplex, dass andere Länder mit ihnen ihren ganzen Staat aufbauen.)

Im Gegensatz dazu muss jeder einzelne Abgeordnete in den USA persönlich um seinen Posten kämpfen. Auch das Geld dafür muss er selbst aufbringen. Vom dienstältesten Parteivorsitzenden zum kleinsten Hinterbänkler hat niemand eine Garantie, die nächste Wahl zu überstehen. Das System der Vorwahlen verschärft das nur: Die Parteiführung kann nicht einmal entscheiden, wer ihr Kandidat sein soll.

Theoretisch könnte damit alle zwei Jahre das gesamte Repräsentantenhaus und alle sechs Jahre der ganze Senat ausgewechselt werden, ohne dass sich die Mehrheitsverhältnisse ändern: Gleiche Parteien, völlig andere Leute. In der Praxis sind größere „Säuberungswellen“ allerdings selten. Wir haben gesehen, dass einige Senatoren seit Jahrzehnten an der Macht sind.

Es werden aber nicht nur Abgeordnete direkt gewählt. Schauen wir uns die Liste nochmal an, finden wir den State Treasurer (Schatzmeister) oder den Attorney General (Generalstaatsanwalt/Justizminister) – Kabinettsposten also. Das ist wieder der im System eingebaute Zwang zum Kompromiss. Aber auch Ämter, die in Deutschland ernannt werden, werden von der Bevölkerung bestimmt: Der County Assessor bestimmt den Wert von Grundstücken und natürlich haben wir dann noch den Sheriff der Gemeinde (die Polizeichefs der Städte sind Angestellte). Diese Posten bringen uns zum zweiten Punkt:

2. Unabhängigkeit.

Da der Gewählte einzig seinen Wählern Rechenschaft schuldig ist, können ihm alle anderen den Buckel herunterrutschen. Im Idealfall folgt er immer seinem Gewissen und nicht nur dann, wenn die Parteiführung gnädigerweise mal den Fraktionszwang aufhebt.

Der Nachteil für den Abgeordneten ist aber: Er steht ganz allein für seine Entscheidungen gerade. Kein Senator oder Mitglied des Repräsentantenhauses kann sich herausreden, er habe sich der Parteidisziplin beugen müssen. In New Mexico war die republikanische Abgeordnete Heather Wilson für den Irak-Krieg, ihre Herausforderin Patricia Madrid (bislang Attorney General des Bundesstaates) von den Demokraten fordert jetzt einen klaren Zeitplan für den Abzug.

Fast wichtiger als bei Politikern ist diese Unabhängigkeit bei den Beamtenposten, wie man sie in Deutschland nennen würde. Zum Beispiel wird in Arizona (aber nicht in New Mexico) der State Mine Inspector gewählt, der für die Sicherheit der Bergwerke zuständig ist. Er soll durch die Direktwahl in die Lage versetzt werden, politisch unliebsame Dinge zu sagen, ohne Angst um seinen Job haben zu müssen. Wahlen werden in New Mexico von dem jeweiligen County Clerk organisiert, der auch für die Verwaltung von bestimmten Akten zuständig ist. Auch hier soll der Amtsinhaber von politischen Machtspielchen abgeschirmt werden. Vermutlich ist diese Person auch für die Bleistifte zuständig.

Wenn etwas schief läuft, ist damit auch die Verantwortung eindeutig: Er war’s. Die Bürger müssen nicht auf einen Untersuchungsausschuss oder ein „internes Disziplinarverfahren“ hoffen, in dem sich oft der Spruch mit den Krähen und den Augen als richtig erweist. Sie können die Person selbst herauswerfen. Wichtig ist, dass der Amtsinhaber das weiß, denn das bringt uns zum dritten Punkt:

3. Besserer Service.

Für solche Ämter gilt als nützlicher Nebeneffekt: Jeder glückliche Kunde ist ein treuer Wähler. Dieser Autor hat nur die besten Erfahrungen mit Behörden gemacht, die einen gewählten Leiter hatten – die Angestellten sind freundlich, zuvorkommend, hilfsbereit und schnell, denn ihr Boss will wiedergewählt werden. Diese Posten werden auf Bundesebene nicht gewählt, was oft zu einem deutlichen Kontrast führt und den gemeinen US-Bürger in seiner Überzeugung bestätigt, dass the feds ein Haufen ineffizienter Geldverschwender sind.

Es gibt noch eine Reihe von Nebengründen für die Direktwahl. Der ganze Mechanismus ist leicht zu verstehen, im Gegensatz zu dem gemischten Wahlsystem des Bundestages, das selbst deprimierend wenige Deutsche korrekt beschreiben können. Auch Dinge wie „Überhangmandate“ gibt es bei der Direktwahl nicht.

Das US-System hat aber auch Nachteile. Der erste ist die bereits in diesem Blog beschriebene Lautstärke: Jeder einzelne dieser gewählten Politiker und Beamten muss sich profilieren und dem Bürger zeigen, warum er wiedergewählt werden sollte. Erträglich ist das nur, weil alle zwei Jahre im November gewählt wird und nur dann. Ob der Einfluss von Lobbyisten größer ist, ist umstritten. Die Amerikaner haben den Abramoff-Skandal und die Deutschen die Flick-Affäre, immun ist also kein System. Ein unbestrittener Nachteil ist dass die Kandidaten mehr an ihrem öffentlichen Auftreten und Verhalten gemessen werden als einigen lieb ist.

Die Direktwahl führt zu einigen Effekten, die Europäer nicht kennen. Den Gewählten steht es nicht nur völlig frei, ihre persönliche Meinung zu äußern, mehr noch, die Bürger verlangen von ihnen oft, Position zu beziehen.

Und so setzen sich die Feuerwehrleute von New Mexico für die Wiederwahl der Abgeordneten Wilson ein. Ihre Rivalin Madrid hat die Lehrer hinter sich. Im tief republikanischen Arizona wird die demokratische Gouverneurin Janet Napolitano unter anderem von acht Sheriffs, sechs Kommunalstaatsanwälten und der Autobahnpolizei unterstützt. Die Sheriffs treten in voller Uniform in ihren Wahlspots auf. Bei Volksbefragungen sehen auch Richter sich berufen, ihre Meinung zu dem einen oder anderen Vorschlag abzugeben, wenn es zum Beispiel um Steuererhöhungen für den Bau von Gefängnissen geht. Solche endorsements können wahlentscheidend sein.

Der Anspitzer ist am Ende im Spielhaus von Kind Nummer Eins aufgetaucht. Wo auch sonst.

(Korrigiert 23. Okt 2006: Senat könnte alle sechs Jahre ausgetauscht werden (alle zwei Jahre ein Drittel), nicht alle 18 Jahre. Zuerst entdeckt von FL, vielen Dank)