Wie New York durch Clintons Torheit zum größten Finanzplatz der Welt wurde

Juni 3, 2007

I’ve got an old mule and her name is Sal
Fifteen years on the Erie Canal
She’s a good old worker and a good old pal
Fifteen years on the Erie Canal

– „Erie Canal“ von Thomas S. Allen

Ende des 18. Jahrhunderts hatten die jungen USA ein großes Problem: Es war unendlich umständlich, von der Ostküste über die Appalachen zu den Großen Seen und dem fruchtbaren Ohio-Tal zu kommen. Die Eisenbahn gab es noch nicht und die so genannten Straßen waren primitive Trampelpfade, die sich bei Regen in Schlammfallen verwandelten. Ohnehin waren Schiffe damals die einzige Art, um große Warenmengen zu transportieren. Aber dafür liefen die Flüsse falsch.

Na gut, sagten Leute wie der Geschäftsmann Jesse Hawley. Wir fahren von New York City den Hudson River hoch bis zur Landeshauptstadt Albany, das geht ja gut. Und von dort aus graben wir uns 580 Kilometer nach Westen durch – das ist etwas weiter als von Berlin nach Aachen – bis wir den Erie-See [PNG] erreichen, den südlichsten der Great Lakes.

Mit einem solchen Kanal, so Hawley weiter, kommen wir vom Atlantik ins Landesinnere. Die Transportzeiten und -kosten fallen drastisch, die Siedler können nach Westen, ihre Produkte nach Osten, alle sind glücklich und werden nebenbei reich. Dass Hawley seine Argumente wegen Überschuldung unter dem Pseudonym „Hercules“ im Gefängnis verfasste, sei nur am Rande erwähnt.

Die Idee war nicht neu. Vor allem war sie aber kühn, nein, dreist, eigentlich sogar dummdreist. Denn die Kosten wurden auf sechs Millionen Dollar geschätzt, was 1810 drei Viertel des Bundeshaushaltes entsprach (der Dollar war damals noch richtig was wert). Später ging man sogar von sieben Millionen Dollar aus. Die Strecke war nicht nur lang, sie führte durch Wälder und Sümpfe sowie durch Gesteinsformationen, die mit Schwarzpulver würden gesprengt werden müssen. Es gab keine Maschinen, schon gar keine schweren – alles wäre Schaufelarbeit. Die USA litten aber nach wie vor an einem chronischen Mangel an Arbeitskräften. Wer sollte das denn machen?

Schlimmer noch, es fehlten qualifizierte Leute, um den Bau zu leiten. In den ganzen USA gab es im Jahr 1800 zehn formell ausgebildete Ingenieure. Die Regierung versuchte den Mangel zwar mit der Gründung des Army Corps of Engineers anzugehen, das bis heute zivile Bauprojekte unternimmt. Aber die mussten erstmal ausgebildet werden. Und die technischen Herausforderungen waren nicht trivial. Der Höhenunterschied von einem Ende zum anderen betrug 173 Meter, eine Schleuse konnte damals aber nur 3,5 Meter auf einmal überwinden.

Es gab also gute Gründe, warum der Vorschlag immer wieder verworfen worden war. Auch jetzt gab es rundum erstmal Kopfschütteln. Präsident Thomas Jefferson, der als Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und Multitalent große Visionen gewohnt war, hielt es für Science Fiction, wie wir heute sagen würden:

It is a splendid project, and may be executed a century hence. It is a little short of madness to think of it at this day.

Kein geringerer als George Washington, so Jefferson weiter, sei mit dem Versuch gescheitert, auch nur 200.000 Dollar für einen 56 Kilometer langen Kanal am Potomac bewilligt zu bekommen. Und der lag im (vergleichsweise) dicht besiedelten Teil der Republik, nicht irgendwo in den nördlichen Einöden des Bundesstaates New York. Ein solches Projekt wäre selbst für das ehemalige Mutterland Großbritannien, zu dieser Zeit der Meister des Kanalbaus, eine Herausforderung, so das allgemeine Urteil. Die USA würden sich übernehmen.

Der Krieg von 1812 ließ dann jeden Gedanken an ein solches Mammutprojekt vergehen: Erstmal mussten die Soldaten des großen Kanalmeisters zurück auf ihre Insel getrieben und Washington wieder aufgebaut werden.

Aber es gab Leute, die fest an den Erie Canal glaubten. Darunter war der Bürgermeister von New York, ein gewisser DeWitt Clinton (nicht verwandt mit dem späteren Präsidenten). Clinton sah die Chancen für New York als Bundesstaat, aber auch für die Stadt:

The city will, in the course of time, become the granary of the world, the emporium of commerce, the seat of manufactures, the focus of great moneyed operations. […] And before the revolution of a century, the whole island of Manhattan, covered with inhabitants and replenished with a dense population, will constitute one vast city.

Der letzte Punkt erschien damals so albern wie der restliche Plan: New York hatte 120.000 Einwohner, so viele wie heute Bottrop. Damit lag man zwar noch vor dem großen Rivalen Philadelphia, aber nur knapp.

Aber den New Yorkern gefiel die Idee und Clinton wurde 1817 zum Gouverneur gewählt. Am 15. April 1817 verabschiedete die Legislative schließlich das Projekt, das die Kritiker verächtlich Clinton’s Ditch oder Clinton’s Folly nannten. Zuerst gab es noch Hoffnung, dass die angrenzenden Bundesstaaten wie Ohio oder der Bund sich beteiligen würden, aber die winkten ab. New York würde es alleine machen müssen, ein ungeheueres finanzielles Risiko. Unbeirrt setzte Clinton am 4. Juli 1817 (wann sonst) den ersten Spatenstich und schwor, dass der Kanal in zehn Jahren fertig sein würde.

Bis zu 50.000 Arbeiter gruben gleichzeitig, viele von ihnen Einheimische, andere irische und walisische Einwanderer, die direkt am Hafen von New York angeheuert wurden, gelockt mit hohen Löhnen. Hunderte deutsche Steinmetze wurden geholt, um die Seiten auszukleiden. Es dauerte vier Jahre, um sich nahe dem heutigen Lockport durch das Gestein zu sprengen. Es wurden 18 Aquädukte errichtet und 83 Schleusen eingezogen. Hunderte Arbeiter starben in den Sümpfen an Krankheiten.

Das nötige Wissen eignete man sich an Ort und Stelle an, die Erie Canal School of Engineering, wie es scherzhaft genannt wurde. Insbesondere die Bürger von New York kauften Anleihen zur Finanzierung des Projektes. Für die Zinsen wurden die Steuern erhöht. Je weiter der Kanal kam, desto mehr Großinvestoren – insbesondere Briten – beteiligten sich. Teilstücke gingen so schnell wie möglich in Betrieb.

Am 26. Oktober 1825 – acht Jahre später, nicht zehn – fuhr Clinton in dem Boot Seneca Chief vom Erie-See den neuen Kanal herunter zum Hafen von New York, wo er in der „Hochzeit der Gewässer“ ein Fass mit Erie-Wasser auskippte. Der Wahnsinn war Wirklichkeit geworden: 40 Fuß (12 Meter) breit und vier Fuß (1,2 Meter) tief.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Kanals waren so, wie sie sich Hawley und Clinton erhofft hatten. Der Transport einer Tonne Mehl von Buffalo nach New York City hatte vorher 120 Dollar gekostet und drei Wochen gedauert. Mit dem Kanal lag der Preis bei sechs Dollar und die Dauer bei einer Woche. Bereits 1825 benutzten 13.100 Schiffe die neue Wasserstraße und bezahlten dafür eine halbe Million Dollar Zoll.

Die Städte an ihrem Ufer wuchsen und gediehen und gehören bis heute zu den größten des Bundesstaates – Buffalo, Albany, Rochester, Syracuse und Utica. Bauern, Minenbetreiber und Holzhänder in den heutigen Bundesstaaten Ohio, Michigan, Illinois, Indiana und Wisconsin schickten ihre Fracht nicht mehr nach Süden über den Mississippi nach New Orleans, sondern nach Osten. Durch den Kanal floss der Reichtum des Midwest.

Und landete in New York City.

Bereits 1822, als klar war, dass der Kanal kein Hirngespinst war, hatte die britische „Times“ mit der üblichen britischen Bescheidenheit vorhergesagt, dass er New York zum „London der Neuen Welt“ machen würde. Die Zeitung hatte Recht: Zur Jahrhundertwende waren nur neun Prozent der amerikanischen Exporte über New York gegangen, bis 1860 stieg der Anteil auf 62 Prozent. Die Bevölkerung erreichte bis dahin 814.000 – die deutschen Steinmetze wechselten vom Kanal nach Manhattan und bauten dort weiter. New York war ein hohes Risiko eingegangen und hatte gewonnen.

Denn der Warenstrom förderte andere Entwicklungen. Im Jahr 1817 hatten einige Händler unter einem Buttonwood-Baum eine lose Gruppe gebildet, die Keimzelle der New York Stock Exchange (NYSE), die zur größten Börse des Landes wurde. Für Börsen gilt der Spruch size matters und so wollten nach der Erfindung des Telegraphen alle in New York handeln, was die Stellung der NYSE weiter festigte. Die NYSE Euronext wurde 2007 zum ersten transatlantischen Aktienmarkt und ist heute mit Abstand die größte Börse der Welt. Der Kanal bewirkte diesen Aufstieg nicht allein – unter anderem musste erst der Finanzplatz London durch den Ersten Weltkrieg ausgeblutet werden. Aber er war die Voraussetzung dafür.

Die Auswirkungen des Kanals gingen über New York hinaus. Die angeblich hinterwäldlerischen Ex-Kolonialisten mit ihrem komischen Regierungssystem hatten eines der größten Bauwerke des 19. Jahrhunderts fertiggestellt. Der Erie-Kanal war das erste der technischen Großprojekte, mit denen man heute die USA verbindet, wie die Transkontinentale Eisenbahn, der Panama-Kanal, das Empire State Building, der Hoover Damm, die Atombombe und die Mondlandung, das Internet und das GPS-Satellitensystem. Think big wurde, im Guten wie im Schlechten, endgültig zu einem Teil der amerikanischen Psyche.

Der Kanal selbst wurde mehrfach ausgebaut, umgebaut und modernisiert, Parallelstrecken wurden eingezogen. Immer dickere Schiffe [JPG] fuhren auf ihm, bis ins 20. Jahrhundert. Am Ende aber setzten sich Schiene und Straße durch, wie überall auf der Welt. Heute sind von dem ursprünglichen Kanal zum Teil nur Ruinen übrig, einzelne Abschnitte sind für die Erholung und den Tourismus erhalten worden.

Er hinterließ aber auch tiefe Spuren in Literatur und Musik. Herman Melville, Mark Twain und viele andere schrieben über ihn. Für Europäer dürfte das Lied „Erie Canal“ von Thomas S. Allen am bekanntesten sein, das unter anderem von Bruce Springsteen gecovert wurde [2]:

And you always know your neighbor
And you alway know your pal
If you’ve navigated on the Erie Canal

([1] An Empire of Wealth John Steele Gordon, Harper New York 2004 ISBN 0-06-050512-5. [2] We Shall Overcome: The Seeger Sessions, Bruce Springsteen. „Erie Canal“ ist auch unter dem Namen „Low Bridge“ bekannt; in einigen Versionen wird statt „15 years“ „15 miles“ gesungen)