Niemand entkommt dem Kansas-Spruch: Die Bedeutung von The Wizard of Oz

Januar 10, 2007

Es gibt in jeder Kultur Standardwerke, die man als bekannt voraussetzt. In unserem Breitengrad – oder zumindest Längengrad – gehörten 2.000 Jahre lang die griechischen Heldensagen dazu; dank der modernen Bildungsprioritäten weiß heute aber kaum noch jemand, dass Odysseus sieben seiner zehn Reisejahre damit verbrachte, die Nymphe Kalypso zu vögeln. Die Bibel ist auch ein solches Werk, noch zumindest. Die Deutschen haben Grimms Märchen beigesteuert. Und ständig kommen neue Quellen hinzu: Ob es einem gefällt oder nicht, ein großer Teil der Menschheit versteht inzwischen eher Anspielungen auf Hannibal Lecter als auf Hektor.

Nun gibt es im angelsächsischen Raum einige Werke, die ständig zitiert werden, aber in Deutschland nicht bekannt genug sind, als dass jede dieser Anspielungen erkannt wird. Dazu gehören große Teile von Shakespeare, Bücher wie Alice in Wonderland oder Einzelstücke wie „The Charge of the Light Brigade“ von Alfred Tennyson – ein Gedicht nach einer wahren Begebenheit, das Peter Jackson in The Return of the King einbaute, ohne dass es Nicht-Angelsachsen wirklich mitbekommen haben.

Wir wollen uns heute eines der Wichtigsten dieser „lokalen“ Standardwerke vornehmen, ohne den man jeden zweiten amerikanischen Film nicht versteht und auf den auch im Alltag ständig angespielt wird: The Wizard of Oz.

Erstmal ist damit die Serie von Kinderbüchern von L. Frank Baum gemeint, die 1900 mit The Wonderful Wizard of Oz anfing. Insgesamt schrieb er 14 Bände [1]. Außerhalb der USA bekannter und für den interessierten Leser leichter zugänglich ist die klassische Verfilmung des ersten Buches von 1939 mit Judy Garland. Wir werden uns hauptsächlich damit befassen.

Die Handlung in vier Absätzen:

Das naive aber garantiert sittliche reine Farm-Mädchen Dorothy Gale aus Kansas wird zusammen mit ihrem Hund Toto durch einen Tornado über den Regenbogen hinweg nach Oz gewirbelt. Auch ihr Haus fliegt mit, und als es aufschlägt, tötet es die Wicked Witch of the East. Die hat bislang das unerträglich fröhliche Zwergenvolk der Munchkins unterdrückt, die Dorothy jetzt als Befreierin feiern. Sehr viel weniger fröhlich ist die Wicked Witch of the West, die die Schuhe ihrer getöteten Schwester verlangt.

Zum Glück schreitet Glinda, die Good Witch of the North, ein und gibt Dorothy die ruby slippers. Die West-Hexe – hässlich und biestig wie es sich gehört, und grün noch dazu – schwört Rache und fliegt stilecht auf ihrem Besen ab. Glinda erklärt Dorothy, dass sie zum Wizard of Oz gehen muss, wenn sie nach Hause will, denn der kann einfach alles. Um zu ihm kommen, muss man dem Yellow Brick Road folgen, das Stichwort für eine neue Gesangseinlage der offensichtlich drogenabhängigen Munchkins: Follow, follow, follow the Yellow Brick Road. Dorothy und Hund laufen los.

Unterwegs treffen sie drei benachteiligte Mitbürger: Den Scarecrow, der ein Gehirn braucht, den Tin Woodman, der ein Herz haben will, und den Cowardly Lion, der Mut sucht. Gemeinsam sprechen sie nach diversen Unterabenteuern beim Zauberer vor. Der verspricht ihnen, ihre Wünsche zu erfüllen, wenn sie ihm den Besen der West-Hexe bringen, ausgerechnet. Also geht es zur finsteren Festung der fiesen Fliegerin. Die Gefährten werden von geflügelten Affen angegriffen etc. etc., und töten am Ende die Hexe mit Wasser. Sie schmilzt schreiend in einer Szene, für die Kind Nummer Eins noch deutlich zu klein ist.

Zurück in Oz entlarvt Toto den Zauberer als einen einfachen Mann, der von hinter einem Vorhang aus nur Maschinen bedient. Auch er stammt aus Kansas. Er löst die Probleme der Gruppe mit gesundem Menschenverstand und will Dorothy und Toto dann mit seinem Ballon wieder nach Hause mitnehmen. Dumm-Toto springt aber in letzter Minute aus dem Korb. Dorothy, die nichts aus Alien gelernt hat, hechtet hinterher um das Tier zu retten. Der Ballon fliegt ab. Aber Glinda erklärt ihr (dann doch schon), dass sie selbst die ganze Zeit die Möglichkeit hatte, nach Hause zu kommen. Sie muss nur die Hacken ihrer roten Schuhe zusammenschlagen und sagen:

There is no place like home.

Dieser Satz ist einer von gleich drei aus dem Film, die es in die Liste der 100 wichtigen Filmzitate geschafft haben, auf Platz 23. Wizard als Ganzes ist zum sechstbesten US-Film aller Zeiten ernannt worden. Das Lied „Over the Rainbow“ ist die Nummer 1 der Filmmusik; „Ding Dong the Witch is Dead“ liegt immerhin auf Platz 82. Es gab zwei Oscars. Es wären wohl mehr geworden, wenn im selben Jahr nicht Gone with the Wind acht Stück gewonnen hätte. Zumindest für Hollywood war 1939 ein gutes Jahr.

Und so wundert es nicht, wenn das Angelsachsentum voll mit Anspielungen auf Oz ist. Elton Johns Lied „Goodbye Yellow Brick Road“ gehört zu den offensichtlichsten Beispielen. Geflügelte Affen werden (natürlich) in Buffy the Vampire Slayer erwähnt und bei Wayne’s World könnten sie den Leuten aus dem Arsch fliegen. Bei Terry Pratchett werden Hexenhüte verkauft, die vor 80 Prozent aller fallenden Farmhäuser schützen, garantiert [2]. Und auch wann immer es nirgendwo so schön ist wie zu Hause, der Mann hinter dem Vorhang nicht beachtet werden soll, jemand „Munchkin“ genannt wird oder zusammen mit seinem Hund getötet werden soll (Platz 99 der 100 wichtigsten Zitate), dann sind das mit ziemlicher Sicherheit Oz-Anspielungen.

Und dann gibt es noch den Kansas-Spruch. Der Kansas-Spruch ist überall. Niemand entkommt dem Kansas-Spruch. Er stammt von Dorothy und lautet [WAV]:

Toto, I’ve a feeling we’re not in Kansas anymore.

(Wichtig: Kein got, ein häufiger Fehler) Der viertwichtigste Satz der amerikanischen Kinogeschichte war einige Zeit lang ein einfaches Klischee, was Clarice Starling in dem Buch „The Silence of the Lambs“ leider etwas zu spät merkt [3]:

„Well Toto,“ she said, „we’re not in Kansas anymore.“ She’d always wanted to say that under stress, but doing it left her feeling phony, and she was glad nobody had heard.

In dieser Form finden wir den Kansas-Spruch in Diskussionen im Internet. Inzwischen ist er aber zu einer Art Überklischee geworden, das nicht mehr direkt zitiert werden muss. In The Matrix ist Cypher also fast noch direkt, als er Neo vor dessen Reise in die wirkliche Welt erklärt:

It means buckle your seatbelt, Dorothy, because Kansas is going bye-bye.

(Die deutschen Synchronisatoren, ohnehin mit dem Film schwer gestraft, kapitulierten an dieser Stelle und schnitten die Anspielung heraus: „Das bedeutet, dass du dich lieber anschnallen solltest. Hier wird’s nämlich gleich sehr ungemütlich werden.“ Dummerweise lächelt Switch aber jetzt nicht mehr über die Oz-Anspielung, sondern über den Inhalt. Damit erhält sie einen sadistischen Charakterzug, den sie im Original nicht hat. Zudem wird der Sprachebene Gewalt angetan. Übersetzen ist, wie wir hier schon mehrfach festgestellt haben, die Hölle.)

Nun ist Kansas hauptsächlich für seine Weizenfelder bekannt. Es gibt in Filmen meist keinen guten Grund, über diesen Bundesstaat zu sprechen. Wir können daher eine Faustregel aufstellen: Wenn das Wort „Kansas“ plötzlich irgendwo auftaucht, sollte man sofort an Oz denken. Außer natürlich in Kansas selbst, wo man von diesem Blag Dorothy vermutlich mehr als genug hat.

Das hilft allerdings nicht in Situationen, in denen der Spruch gar nicht mehr verwendet wird, auch nicht in Teilen: In der Muppets-Verflimung von Oz (mit Ashanti und einen wunderbaren Dialog zwischen Quentin Tarantino und Kermit) guckt das Toto-Gegenstück (ein Gamba, warum auch immer) einfach nur in die Kamera, macht den Mund auf und dann wieder zu. Mehr muss nicht gesagt werden, denn alle angelsächsischen Zuschauer wissen, was an dieser Stelle eigentlich hätte gesagt werden sollen.

Oz ist als amerikanisches Märchen bezeichnet worden. Es ist zumindest eine sehr amerikanische Geschichte: Ein Haufen zusammengewürfelter Streuner entlarvt den angeblich überirdischen Herrscher und stürzt ihn. Es fehlt nur noch, dass die Munchkins nach dem Tod der Hexe eine verfassungsgebende Versammlung einberufen (oder herbeisingen). Entsprechend gibt es keinen Mangel an politischen Interpretationen, die wir hier alle ignorieren. Auch darauf, dass alle Figuren mit wirklicher Macht Frauen sind, im Film wie in den Büchern, wollen wir nicht eingehen.

Wegen seines Erfolges müssen wir allerdings eine völlige Neuerzählung für Erwachsene namens Wicked von Gregory Maguire erwähnen, die die Geschichte aus der Perspektive der bösen West-Hexe erzählt und sehr viel düsterer ist [4]. Inzwischen ist daraus ein ähnlich erfolgreiches Musical geworden, das Ende 2007 nach Deutschland kommt.

Und am Ende noch die unvermeidliche Verschwörungstheorie: Angeblich soll es eine genaue Übereinstimmung zwischen den Ereignissen in dem Film und in dem Pink-Floyd-Album The Dark Side of the Moon geben. Im Internet gibt es Listen mit mehr als 100 einzelnen Punkten, die man finden soll, wenn man Film und CD gleichzeitig abspielt. Das so entstandene Hybrid-Werk wird The Dark Side of the Rainbow genannt. Es gibt natürlich Kritiker, die das als dummes Zeug abtun. Und Pink Floyd leugnet es auch.

Aber wir wissen ja: Dann muss es wahr sein.

([1] The World of Oz Allen Eyles, HPBooks 1985 ISBN 0-89586-415-0; [2] A Hat Full of Sky. A Tiffany Aching Adventure. Terry Pratchett, HarperCollins 2004, ISBN 0-06-058662-1 [3] The Silence of the Lambs Thomas Harris, St. Martin’s Press 1991, ISBN 0312924585; [4] Wicked. The Life and Times of the Wicked Witch of the West Gregory Maguire, Regan Books 1995, ISBN 0-06-074590-8)

(Danke an DKS für den Hinweis auf Return of the King)