Der „Krieg gegen Weihnachten“

Dezember 15, 2010

It is time to recognize that a new tradition has been added to Christmas. As surely as trees and lights and reindeer, December now brings Christian complaints about the secularization of the holiday.

— Rodney Clapp, „Let the Pagans Have the Holiday“

US-Präsident Barack Obama hat letztens den Amerikanern Merry Christmas [Video] gewünscht — gleich drei Mal in einer Rede. Das ging spurlos an den deutschen Medien vorüber, die wohl nicht verstanden haben, was für ein Aufreger das war. Für ihre US-Kollegen und diverse Blogs war Obamas Wortwahl dagegen durchaus ein Thema. Denn damit bezog er Stellung in einem der speziell amerikanischen Feiertagsdebatten: Die Christmas controversy, wie es die Wikipedia nennt, landläufig eher bekannt als der War on Christmas.

(Das entnervte Stöhnen im Hintergrund stammt von den interessierten amerikanischen Lesern, die von dem Thema die Nase voll haben. Dieser Autor teilt ihren Schmerz, aber wir müssen da trotzdem durch, sonst verstehen die Deutschen die jüngsten Witze von Jon Stewart [Video] nicht. Sorry.)

Nach unserem Eintrag über Hanukkah und dem Hinweis auf den (neu erfundenen) Schwarzen-Feiertag Kwanzaa kann sich der interessierte Leser das Problem denken: Im Dezember steht in den USA nicht nur ein wichtiges Ereignis für die Christen an, sondern auch für die Mitglieder anderer Religionen. Ist es aber dann nicht grob unhöflich (und das wollen Angelsachsen ja auf keinen Fall sein), Fremden „frohe Weihnachten“ zu wünschen? Wäre ein happy holidays — „frohe Festtage“ — nicht rücksichtsvoller?

Einige amerikanische Geschäfte halten das so, seit Jahren schon:

We went through the archives of several of the homepages for major retailers extending back to 1997 and found that most of them by that time had begun referring to „holidays“ rather than „Christmas“ largely because of the trend of regarding November through January as both Jewish and Christian holidays in the U.S.

Das ruft die tiefgläubigen Christen auf den Plan. Sie sehen das ganze Gerede von den frohen Feiertagen als einen politisch korrekten Frontalangriff auf ihren Glauben. Die American Family Association (AFA) geht seit spätestens 2005 gegen solche Firmen vor:

AFA has reviewed the website and newspaper ads of Radio Shack, Office Depot and Staples. We found terms like „holiday deals,“ „holiday prices,“ „gifts“ and „happy holidays,“ but no „Christmas.“

Für einen richtig guten Streit braucht man aber immer zwei. Zum Glück gibt es auf der anderen Seite der Debatte genug Leute, die sich genauso gut aufregen können. Einige Juden mögen keine Weihnachtsgrüße (andere schlagen eine Belehrung vor), ein unschuldiges Happy Kwanzaa kann lange Debatten nach sich ziehen und Atheisten loben Weihnachten als weltlichen Feiertag:

[I]’d rather celebrate Christmas my way — with gifts, a tree, and eating and drinking too much — than to lie to myself and to whatever god is out there by hypocritically going through the sacred motions of the traditional holiday.

Pagane machen geltend, dass Jesus (vermutlich) weder am Tag der Wintersonnenwende geboren noch an einen Tannenbaum genagelt wurde und verlangen ihren Feiertag zurück:

More than any other Sabbat, the winter solstice I think requires a conscious act of reclaiming.

Weil wir von Amerikanern reden, ist die ganze Diskussion mindestens laut und meistens schrill. Das Ergebnis sehen wir an einer Karikatur, die das English Blog gefunden hat: Zum Fest der Liebe prügeln sich wütende Vertreter von Merry Christmas und Happy Holidays. Andere Amerikaner – die smart-asses – entwerfen satirische T-Shirts. Die Masse ist, wie gesagt, nur noch genervt.

Sprechen wir einmal offen aus, was sich der interessierte Leser an dieser Stelle denkt: Die spinnen, die Amis. Dagegen ist der deutsche Christkind-oder-Weihnachtsmann-Streit harmlos und die Japaner wirken mit ihrem KFC-Fimmel zu Weihnachten nur etwas eigenwillig.

Ganz verneinen lässt sich das nicht. Wundern darf der Streit aber auch nicht. Nachdem Europa über Jahrhunderte seine religiösen Fanatiker in der Neuen Welt ablud, findet sich schließlich zu jedem gegebenen Zeitpunkt irgendein Amerikaner, der angeblich den Tag des Jüngsten Gerichts genau kennt, wenn nicht sogar die Stunde (aktuell übrigens der 21. Mai 2011). Dass der christliche Aspekt von Weihnachten mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, war vorhersehbar.

Allerdings geht der Hintergrund des Streits tiefer. Der Zank über den „Krieg gegen Weihnachten“ ist ein Symptom eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Umbruchs: Die USA sind nicht mehr nur ein weiterer westlicher Staat mit einer christlichen Mehrheit und einer jüdischen Minderheit, sondern weisen inzwischen eine große religiöse Vielfalt auf. Im Gegensatz zu Europa muss dabei nicht nur der Islam als eine dritte abrahamische Religion eingegliedert werden. Aus Asien werden Traditionen eingeschleppt, die völlig fremd sind – Religionen ohne Gott und Götter mit Elefantenköpfen zum Beispiel.

Die Theologie-Professorin Diana L. Eck von der Harvard-Universität bezeichnet die heutige USA entsprechend als the most religiously diverse nation in the world. Sie warnt auch, dass diese Entwicklung an vielen Amerikanern schlicht vorbeigegangen ist:

This new religious diversity is now a Main Street phenomenon, yet many Americans remain unaware of the profound change taking place at every level of our society, from local school boards to Congress, and in small-town Nebraska as well as New York City.

Die neue Vielfalt mag die amerikanische Kultur bereichern, wie man an Filmen wie The Matrix und jetzt auch Tron Legacy sehen kann. Aber gesellschaftliche Veränderungen sind bekanntlich nie angenehm oder konfliktfrei.

So ist Los Angeles zwar laut Eck mit 300 Tempeln die Stadt mit der weltweit größten „buddhistischen Vielfalt“ – wegen solcher Baugenehmigungen verklagen sich allerdings Bund und Kommunen. Außerdem streiten sich die Behörden in Kalifornien mit den Hindus über die richtige Darstellung ihres Glaubens in den Schulbüchern. Und so weiter.

Wir hatten schon die Anpassungsschwierigkeiten des US-Militärs an die neuen Gegebenheiten besprochen. Die Weihnachtskontroverse zeigt, dass die amerikanische Gesellschaft auch als Ganzes noch lernt, damit zu leben. Bis sich das einspielt, kann es noch dauern. Vom „Krieg gegen Weihnachten“ werden wir wohl noch Jahrzehnte hören, ob wir wollen oder nicht.

Ja, und wie halten die Amerikaner es jetzt in der Praxis? Einer neuen Umfrage zufolge sagt eine Mehrheit lieber Happy Holidays. Am Ende siegt dann doch die angelsächsische Höflichkeit.

[Nach einem Vorschlag von JL, vielen Dank]