Free Speech, Teil 1: Warum die USA Holocaust-Leugner schützen

November 22, 2006

Es wird Zeit, dass wir über einen der wichtigsten Unterschiede zwischen den USA und Deutschland sprechen: Die Stellung der Meinungsfreiheit. Das gehört zu den größten Aufreger-Themen im deutsch-amerikanischen Verhältnis und auch wenn sich das nicht ändern wird – dazu sind gewisse Grundvorstellungen einfach zu gegensätzlich – können wir wenigstens dafür sorgen, dass die Leute wissen, warum sie sich aufregen.

Wir werden daher in einer kleinen Serie die amerikanische Einstellung zur Meinungsfreiheit, der berühmten freedom of speech, vorstellen. Wir werden ihre Grenzen – oder besser, deren Fehlen – zeigen und auch darlegen, was dafür geopfert wird und warum. Ganz gefahrlos ist das nicht: Erfahrungsgemäß explodiert Europäern schon mal der Kopf, wenn ihnen klar wird, was alles in den USA erlaubt ist.

Wir fangen daher auch ganz vorsichtig bei den Gemeinsamkeiten an.

Die USA und Deutschland sind beides Demokratien und sind beide als Staaten daher grundsätzlich der Meinung, das Zensur schlecht ist. Einig ist man sich auch, dass die Meinungsfreiheit nicht grenzenlos sein kann: In einem voll besetzten Kino grundlos „Feuer!“ (oder halt Fire!) zu brüllen gibt auf beiden Seiten des Atlantiks Ärger. Es gibt also Ausnahmen. Der Unterschied ist nun, dass es in Deutschland mehr Ausnahmen gibt als in den USA.

Der Grund dafür liegt darin, was jeweils zum höchsten Gut der Verfassung erklärt wird. In Deutschland ist das in Artikel 1 des Grundgesetzes festgeschrieben:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Vom Stellenwert her ist das Gegenstück in der US-Verfassung das First Amendment:

Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.

Der Satz ist elendig lang und behandelt mehrere Dinge auf einmal: Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit (die wir später getrennt behandeln werden), Versammlungsfreiheit und das Recht, seinen Volksvertretern mit jedem quer sitzenden Furz auf die Nerven zu gehen. Diese Rechte haben eine preferred position, stehen also über den anderen. Und innerhalb dieser Kategorie hat die Meinungsfreiheit nochmal eine besondere Stellung.

Denn aus Sicht der Amerikaner ist eine weit reichende Meinungsfreiheit langfristig die einzige Möglichkeit, um die Bürgerrechte zu schützen. In dem Moment, wo der Staat einen Teil der freien Rede einschränken darf, entzieht er sich damit auch zum Teil der Kontrolle des Bürgers und kann andere Verstöße vor dem Volk verstecken. Die Demokratie wird dann langsam ausgehöhlt, wie durch einen Tumor. Ohne free speech ist die Freiheit verloren.

Daher auch der Fanatismus, mit dem Amerikaner diesen Teil des First Amendments verteidigen: Er ist das Herz ihrer Demokratie. Mehr noch, er ist aus ihrer Sicht das Herz jeder Demokratie. Deswegen reagieren Amerikaner mit Unverständnis auf gewisse Vorgänge in Staaten, in denen man die Meinungsfreiheit eher als ein Recht unter vielen sieht, als ein wichtiges, aber vielleicht nicht das allerwichtigste Gut.

Deutschland ist so ein Staat. Das ist nur logisch: Wenn man die Würde des Menschen an erste Stelle setzt, ist eine gewisse Beschränkung der Meinungsfreiheit zwingend notwendig, denn viel von dem, was so gesagt und geschrieben wird, verletzt sie. Zwar garantiert das Grundgesetz in Artikel 5 (für Amerikaner schon verdächtig weit unten) auch die Meinungsfreiheit. Aber dort heißt es dann auch sofort:

Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Das sind die Ausnahmen, von denen wir gesprochen haben.

Die amerikanische Verfassung kennt zwar auch den Trick mit „das Nähere regelt ein Gesetz“, wie man am Third Amendment sieht, das sich mit der Einquartierung von Soldaten beschäftigt, ein wichtiges Thema im Nordamerika des 18. Jahrhunderts. Aber davon ist im First Amendment nicht die Rede. Dort steht klipp und klar: Congress shall make no law.

Natürlich versuchen der Bund und die Bundesstaaten trotzdem seit 200 Jahren irgendwelche Dinge zu verbieten, nur zum Wohl des Bürgers, versteht sich. Im Moment (November 2006) beschäftigen sich die Gerichte mit dem jüngsten Versuch des Kongresses, das Internet zu zensieren. Aber die Urteile des Supreme Court zu diesem Thema lauten in ihrem Kern am Ende immer gleich:

Censorship is the deadly enemy of freedom and progress. The plain language of the Constitution forbids it.

Oder anders formuliert: Was genau ist an make no law so schwer zu verstehen? Wir werden in der kommenden Folge sehen, welche Bedingungen ein Gesetz erfüllen muss, um die Meinungsfreiheit auch nur berühren zu dürfen.

Es gibt als deutsche Besonderheit eine weitere Klasse von Ausnahmen, die wir erwähnen müssen. Nach den Erfahrungen mit der Weimarer Republik wurde die Bundesrepublik als eine „wehrhafte Demokratie“ konstruiert, die über umfangreiche Möglichkeiten zur Selbstverteidigung verfügt. Amerikaner tun sich mit diesem Prinzip schwer. Aus ihrer Sicht ist die Verfassung dazu da, um das Volk vor dem Staat zu schützen – dass der Staat die Verfassung vor dem Volk schützen soll, finden sie seltsam. Für den „Verfassungsschutz“ gibt es noch nicht mal eine gute englische Übersetzung, geschweige denn ein Gegenstück als Institution. Die US-Verfassung ist nicht wehrlos, aber so etwas wie die deutschen Schutzmechanismen sucht man vergeblich.

Schon nach dieser oberflächlichen Betrachtung können wir uns einem der größten Aufreger zuwenden, der auch schön verdeutlicht, wie unterschiedlich die Vorgehensweise in den USA und Deutschland ist: In Amerika ist es im Gegensatz zu mehreren europäischen Staaten nicht strafbar, den Holocaust zu leugnen. Es gibt schlicht keine Ausnahme zur Meinungsfreiheit, die ein solches Verbot zulassen würde.

Anders betrachtet: Die amerikanische Verfassung gibt dem Staat nicht das Recht zu entscheiden, was geschichtlich wahr ist und was nicht. Im Gegenteil, das wird ihm im First Amendment durch das make no law ausdrücklich verboten. Das gilt selbst bei Fragen wie dem millionenfachen Judenmord der Nazis: Als zu groß gilt die Gefahr, dass ein solches Verbot als Präzedenzfall benutzt werden könnte, um weitere Dinge zu verbieten – die oben beschriebene Aushöhlung der Bürgerrechte.

Bestätigt sehen sich die Amerikaner in dieser Haltung etwa durch den Beschluss der französischen Nationalversammlung vom 13. Oktober 2006, auch die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern zu verbieten. Sollte der Gesetzentwurf den Senat passieren, gäbe es in Frankreich schon zwei Genozide, die man nicht in Frage stellen dürfte. Aus amerikanischer Sicht hat das ehemalige Bruderland damit die berüchtigte slippery slope betreten, die „Rutschbahn“, auf der die Freiheit Stück für Stück verloren geht. Mit welchem Völkermord wird sich die Nationalversammlung als nächstes beschäftigen?

Der Ansatz zur Bekämpfung solcher Ansichten ist in den USA grundsätzlich anders. Gut zusammengefasst wird er von dem überparteilichen Freedom Forum:

The antidote to distasteful or hateful speech is not censorship, but more speech.

Nicht ein Verbot ist demnach die beste Vorgehensweise, sondern der offen ausgetragene Streit mit den Urhebern solcher Gedanken. Dieser kann dann auch ruhig lautstark, bitterböse und brutal sein. Wie wir sehen werden, schafft das US-Recht dafür besondere Freiräume, zum Beispiel dadurch, dass Personen des öffentlichen Lebens – ausdrücklich nicht nur Berufspolitiker – faktisch kein Recht auf Beleidigungsklagen haben. Das vom deutschen Grundgesetz garantierte „Recht auf persönliche Ehre“ wird dabei bewusst der Meinungsfreiheit geopfert.

Ob dieser Ansatz besser oder schlechter ist und ob er im besonderen Fall von Deutschland und dem Holocaust überhaupt in Frage käme, ist nicht Gegenstand dieses Blogs. Wir schließen unsere erste Betrachtung vielmehr mit der Erkenntnis ab, dass die Meinungsfreiheit trotz gleicher allgemeiner Glaubensgrundsätze in den USA und Deutschland einen unterschiedlichen Stellenwert hat. Wir halten auch fest, dass beide Staaten in diesem Punkt immer unterschiedlicher Ansicht sein werden, denn ihre Demokratien stehen auf etwas anderen Fundamenten. Weitere Aufregung ist also garantiert.

In der nächsten Folge schauen wir uns an, wann was in den USA wie eingeschränkt werden darf.

[Danke an NM für wertvolle Einsichten zur deutschen Perspektive und der entscheidenden Anregung für den Aufbau des Textes.]