Enron und erste Worte zum US-Justizsystem

Mai 28, 2006

Die Ex-Enron-Firmenchefs Lay und Skilling sind schuldig gesprochen worden. Das Verfahren selbst werden wir hier nicht behandeln, aber es gibt uns einen willkommenen Anlass, einen ersten Schritt in ein oft rätselhaftes, weil unbekanntes Terrain zu wagen: Das amerikanische Rechtssystem. Viel mehr als einen ersten Schritt werden wir nicht tun können, denn es ist ein weites Feld. Und wichtiger noch: Es ist Sonntag, und Kind Nummer Eins, wenn es schon kein Trikot kriegt, will zumindest „Cat in the Hat“ vorgelesen bekommen. Es wird also bei einer ersten Skizze bleiben, ähnlich wie wir die Gesetzgebung erstmal nur angerissen haben.

Zuerst müssen wir uns aber über ein allgemeines Problem klar werden: Die Wahrnehmungsverzerrung durch die Medien.

Das US-Justizsystem hat in Deutschland eine ziemlich schlechte Presse. Interessanterweise hat das deutsche System in den USA aber auch eine schlechte Presse. Wenn man genau Zeitung liest, hat das britische Rechtssystem auch eine schlechte Presse, und zwar in Deutschland und in den USA. Auch über Frankreich und Italien liest man, wenn überhaupt, nur schlechtes.

Es handelt sich um einen Selektionseffekt der Medien, die nur über etwas berichten, wenn es schief geht. Ein Hund, das kein Kind anfällt, ist keine Zeile wert. Aber wenn ein Schäferhund einem Kind das Gesicht abreißt, dann ist das eine Nachricht. Und nach einigen solchen Artikeln macht sich beim Leser das Gefühl breit, alle Hunde seien irgendwie böse.

Analog gilt: In Deutschland wird – bis auf wirklich spektakuläre Fälle wie Enron – nur dann über die US-Justiz berichtet, wenn irgendwas falsch läuft. In den USA hört man dagegen nur von bizarren deutschen Urteilen zu Kannibalen oder wenn die deutsche Wikipedia aus dem Netz genommen wird. Frankreich taucht in beiden Ländern nur auf, wenn Unschuldige als Kinderschänder im Gefängnis landen und Italien lediglich dann, wenn Vergewaltigungen von sexuell erfahrenen 14-Jährigen für weniger schlimm befunden werden als von Jungfrauen. Dass in diesen Systemen täglich in abertausenden Fällen völlig unkontrovers Recht gesprochen wird, bleibt ungesagt. So funktionieren die Medien halt.

Einige Fälle, und damit kommen wir langsam zum Thema, berühren dagegen wirklich grundliegend verschiedene Auffassungen der Güterabwägung. So ist das höchste Rechtsgut in den USA die Meinungsfreiheit nach dem First Amendment, in Deutschland aber die Würde des Menschen nach Artikel 1 des Grundgesetzes. Wenn in den USA jemand wieder ungestraft den Holocaust leugnet oder in Deutschland das Persönlichkeitsrecht eines toten Programmierers über die Informationsfreiheit gestellt werden soll, ist das Unverständnis auf der anderen Seite groß. Und wird es auch vermutlich immer bleiben.

Und dann gibt es noch das Problem, dass die einfachsten juristischen Abläufe nicht verstanden werden. Dagegen können wir hier vielleicht etwas tun. Und damit sind wir dann endlich beim Thema.

Bei dem angelsächsischen Rechtssystem – Common Law genannt, offenbar gibt es keine gute Übersetzung – können wir drei Punkte als große Unterschiede zum kontinentaleuropäischen System ausmachen, wie es in Deutschland zu finden ist. Echte Juristen mögen diesem Autor die folgenden groben Vereinfachungen verzeihen, die sich hauptsächlich auch erstmal nur auf das Strafrecht beziehen:

Erstens: Der Staat hat nicht das Recht, über Schuld oder Unschuld zu entscheiden. Der Souverän, also das Volk, behält sich dieses Recht in Form einer Jury vor. Als zu groß gilt die Gefahr, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter als Staatsdiener im weitesten Sinne gemeinsame Sache machen.

Zweitens: Anklage und Verteidigung nehmen entgegengesetzte Extreme ein und stellen sich voll hinter ihre Mandanten (adversarial system). Aus diesem Konflikt soll ein Sieger hervorgehen, oder – der häufigere Fall – beide Parteien einigen sich ohne großes Verfahren (plea bargain). Das macht das Justizsystem sehr laut – aber das kennen wir ja schon. In Deutschland sollen Anwälte dagegen auch so Dinge tun wie das Recht pflegen.

Drittens: Die Rolle des Richters kann man (sehr grob) mit der eines Schiedsrichters vergleichen. Seine Aufgabe in einem Geschworenenprozess ist es nicht, über Schuld oder Unschuld zu entscheiden, sondern sicher zu gehen, dass alles fair und mit rechten Dingen zugeht, dass das geltende Recht eingehalten wird, dass die Geschworenen den nötigen Hintergrund haben.

Dazu kommen andere Unterschiede, die zum Teil spezifisch für die USA sind: Die Staatsanwaltschaft darf nicht in die Berufung gehen (Verbot des double jeopardy nach dem Fifth Amendment), die Rechtssysteme der einzelnen Staaten sind völlig eigenständig und auch von dem des Bundes getrennt, und das Kommunalrecht spielt eine sehr viel wichtigere Rolle als in Deutschland. Aber das sind Themen für andere Texte. Uns dürfte für den Anfang erstmal die Sache mit den Geschworenen reichen.

Die gilt in Ländern wie Großbritannien und den USA als ein Kernstück einer gerechten Justiz, als Bollwerk gegen staatliche Willkür, ein hart erkämpftes Grundrecht jedes freien Bürgers, das traditionell (aber möglicherweise zu Unrecht) bis zur Magna Carta von 1215 zurückverfolgt wird. Deutschen gruselt es eher vor der Vorstellung, von Amateuren gerichtet zu wurden. Dazu sagen die Angelsachsen, dass die Entscheidung bewusst nicht von Berufsrichtern getroffen werden soll, die nach Tausenden von Vergewaltigungsfällen abgestumpft sind und dem Staat als ihrem Arbeitgeber viel zu nahe stehen. Dagegen lautet der Einwand: Verstehen denn einfache Bürger überhaupt, was da vor Gericht passiert?

Amerikaner, Briten und andere Staaten mit Geschworenen haben sich über die Jahre – mehrere hundert davon, im Falle Großbritanniens – die gleiche Frage gestellt. Es gibt keinen Mangel an Untersuchungen dazu. Die Antwort ist kurz gesagt ja. Die Geschworenen sind nicht zu doof. Man darf auch nicht vergessen, dass das System auf sie ausgerichtet ist: In den USA und Großbritannien sprechen Juristen richtiges, normales, verständliches Englisch, oder können es zumindest, wenn sie müssen. So etwas wie Paragraphendeutsch hat in dem System keine Chance.

Das Geschworenen-System ist nicht perfekt, darüber sind sich alle einig, aber das gilt auch für die Alternativen. Es sind auch zahlreiche Kontrollen eingebaut, beispielsweise, dass der Richter das Urteil im Extremfall oft aufheben kann. Leichtfertig sollte er es aber nicht tun, denn in vielen Bundesstaaten haben die Wähler die Möglichkeit, Richter aus dem Amt zu wählen. Wo der Richter für ein faires Verfahren sorgen soll, ergibt diese Kontrollfunktion einen Sinn. In Deutschland wäre das dagegen etwa so sinnvoll wie die Wahl von Gehirnchirurgen.

Können wir denn irgendwas Allgemeines zum Vergleich sagen? Allgemein – sehr allgemein – sollen Geschworene dazu neigen, die Bürgerrechte stärker zu schützen, besonders wenn es darum geht, den Staat oder die Polizei zu verklagen. Sagen zumindest die Befürworter des Common Law. Im Gegenzug soll die Rechtssicherheit in Ländern wie Deutschland größer sein: Bizarre Verfahren ohne Aussicht auf Erfolg können früher abgeblockt werden. Sagen die Befürworter dieses Systems.

Allein an den Geschworenen kann man das System aber nicht messen. Viele weitere Punkte sind wichtig. Anwälte werden in den USA ganz anders bezahlt als in Deutschland, aber parallel dazu gibt es ein umfangreiches pro bono System. In Deutschland ist der Bundestag voller Beamter, der Kongress in den USA ist voller Juristen. Das alles hat Auswirkungen.

Und deswegen konnten wir das Thema hier nur anreißen. „Cat in the Hat“ ruft.

Eine Sache zeigt uns Enron immerhin: Weder Reichtum noch Verbindungen in die höchsten politischen Kreise konnten die Angeklagten vor einer Verurteilung schützen. Das ist ein gutes Zeichen – in jedem Rechtssystem.

(Danke an N.M. für mehrere wertvolle Verbesserungsvorschläge)