Warum höfliche Amerikaner nicht über Politik reden (und Deutsche damit in den Wahnsinn treiben)

Mai 9, 2011

[W]hile politics and religion are seen as private matters across the Atlantic, critical discussion and openly expressing one’s political views are par for the course in Germany.

— Jan Friedmann, „Exchange Students Find a New Way to Deal With Germans“

Im Spiegelfechter hat Stefan Sasse eine „Liebeserklärung an Amerika“ veröffentlicht. Wir schauen uns hier nicht den Artikel selbst an (der netterweise dieses Blog verlinkt), sondern die Kommentare.

[Die unglaublich vielen Kommentare — wenn sich jemand immer noch fragen sollte, warum die entsprechende Funktion hier deaktiviert ist: Dieser Autor hätte nicht einmal Zeit, so viel Text zu sichten, geschweige denn sinnvoll darauf zu antworten.]

Dort finden wir diesen Beitrag:

Amerikaner sind mir als ziemlich unpolitisch bekannt. Über Politik diskutiert der Durchschnittsamerikaner nicht. So jedenfalls erlebe ich sie. Ich arbeite für eine US-amerikanische Firma.

Diese Aussage ist eine wunderbare Gelegenheit, unsere Einträge über angeblich „oberflächliche“ und „prüde“ Amerikaner um das dritte klassische Vorurteil zu ergänzen: Die Vorstellung, dass der US-Bürger an sich politisch desinteressiert ist. Ähnlich wie bei den anderen beiden Fällen haben wir es hier mit einem kulturellen Unterschied zu tun. Die Arbeitskollegen des Kommentators sind vermutlich nicht unpolitisch, sondern einfach nur höflich.

Denn im Umgang mit Fremden, Kollegen und entfernten Verwandten gilt in den USA die Regel:

Don’t talk about politics or religion.

Warum? Weil es schnell zum Streit kommt, und das wäre unhöflich, und Angelsachsen haben, wie wir mehrfach gesehen haben, eine panische Angst davor, unhöflich zu sein.

Wir finden die Regel an verschiedenen Stellen. Auf einer Liste des korrekten Verhaltens bei Gesprächen steht sie an erster Stelle, noch vor use reason to think. Man soll es schon seinen Kindern einbläuen, zusammen mit der Ermahnung, nicht mit vollem Mund zu sprechen. Selbst für smalltalk beim Frisör gilt traditionell das Tabu. Andere Listen raten auch von Diskussionen über Geld und Sex ab. Nicht nur Amerikaner, auch Briten werden diese Regeln für den Umgang mit Fremden nahe gelegt. Man beachte die Erweiterung:

[D]on’t complain, avoid politics and religion, and keep strong opinions to yourself.

„Nicht jammern“ ist natürlich die ganz alte Schule.

Auf der Arbeit, um zu unserem Zitat zurückzukehren, gehören sich diese Themen erst recht nicht. Neben der ganzen Frage der Höflichkeit schaden solche Diskussionen der Gruppendynamik:

[A]voiding any discussions of politics in the work place would be the best bet, as team spirit has the potential to be broken by a wave of insults.

Dazu die Ermahnung: You are at work to work, nicht um über Politik zu reden. So nämlich.

Es gibt allerdings auch weniger idealistische Gründe. Im Extremfall können Angestellte ihren Job verlieren, wenn dem Arbeitgeber die Ansichten nicht passen. Wer für den Bund oder die Bundesstaaten arbeitet, genießt einen gewissen Schutz, nicht aber die meisten Angestellten in der Privatwirtschaft:

Only four states — California, New York, Colorado and North Dakota — have some protections for employees who get involved in politics away from the office or plant, but even those laws are limited

In der Praxis bleibt das auf Einzelfälle beschränkt, aber Kritiker sorgen sich über die Schere, die Arbeitnehmer im Kopf haben könnten.

Dieser ganze Umgang steht im krassen Gegensatz zu den Sitten in Deutschland. Der Germane an sich redet ständig und mit großer Begeisterung über Politik, überall, mit jedem. Politisches Interesse zu zeigen wird als Zeichen für Bildung, Weltoffenheit und gelebtes Staatsbürgertum gesehen. Mehr noch, mit einem Ausländer über die Politik in deren Land zu sprechen gilt nicht nur als wertvolle Gelegenheit für einen kulturellen Austausch. Es ist auch eine Art zu zeigen, dass man sich für seinen Gegenüber interessiert. Eher sollte man mit Deutschen nicht über Fußball reden, außer, man hat einen Hochdruckschlauch zur Hand.

Aber irgendwo müssen Amerikaner doch außer im Internet über Politik und Religion sprechen, oder? Ja, unter guten Freunden und engen Verwandten.

Conversations around politics are usually best brought up around friends or close family members that know how you feel and won’t be offended by your personal stance as they you know it is just a debate rather than attack on their personal character if you don’t share the same political interest.

Das mit dem „persönlichen Angriff“ ist kein Witz. Nicht umsonst geht das Eingangszitat dieses Eintrags mit einem Hinweis auf die Probleme mit amerikanischen Austauschstudenten in Deutschland weiter:

„We have to make it clear to our guests that questions about their political persuasion should not be construed as personal attacks.“

Denn wenn Amerikaner endlich über Politik reden, wird es gerne leidenschaftlich. Ihnen geht es dann um tiefe Überzeugungen und persönliche Werte. Sollten Amerikaner tatsächlich einen gewissen Hang zum Missionarischen haben, bricht er hier durch bei dem Versuch, den Gegenüber aus der politischen Finsternis ans Licht zu führen. Die Sache mit dem Bürgerkrieg wundert gar nicht mehr.

Gut, das ist vielleicht etwas zugespitzt. Jeden Tag gibt es in den USA schließlich Millionen von völlig gesitteten, konstruktiven politischen Gesprächen. Laut vielleicht, aber zivilisiert. Allerdings gibt es auch keinen Mangel an Berichten von Familienfeiern, wo sich sonst zurückhaltende Amerikaner anschreien, wie der Komiker Larry Miller ohne jeden Humor berichtet:

My nephew and uncle and sister’s boyfriend talked for a while at the table, but just a few minutes of talking turned quickly (always quickly, isn’t it?) to yelling and anger, and the little food angels that had been dancing over the table were instantly kicked away and replaced by snarling demons

Sein Fazit: Politics kills love — daher keine Politik bei Tisch.

Im Vergleich dazu wirken politische Diskussionen in Deutschland auf Amerikaner klinisch-abstrakt, fast wie eine intellektuelle Übung. Das kann schon mal den Eindruck erwecken, dass Deutsche das alles nicht wirklich berührt, dass sie zwar über Politik reden, sie ihnen aber nicht wirklich wichtig ist. Man redet über Politik doch nicht einfach so wie über das Wetter!

Und damit fangen die Probleme zwischen den Kulturen erst an.

Amerikaner sind schockiert, wenn sie bei Deutschen zu Gast sind und jemand ihnen erklärt, wie scheiße sie (zum Beispiel) den Irak-Krieg finden. Hier kommt zum Bruch des Tabus Politik unter Fremden das unhöfliche Verhalten gegenüber einem Gast dazu. Aber weil es sich für diesen nicht gehört, irgendwas Unhöfliches zu sagen, hält der Amerikaner den Mund oder macht belanglose Kommentare — oft auch dann, wenn er ebenfalls den Krieg verurteilt. Das wiederum wird vom Deutschen als Desinteresse ausgelegt, trotz der kleinen schwarzen Rauchwolken, die aus den Ohren des Gegenübers aufsteigen.

Am Ende wird der Gast dann selbstverständlich erklären, dass der Abend toll, einfach super, total spitze war. Der Germane freut sich, denkt sich nichts weiter und ist später nur etwas verwirrt, dass der Amerikaner nie wieder eine Einladung annimmt und allgemein irgendwie distanziert wirkt. War was?

Umgekehrt können auch Deutsche in den USA ihr rot-weiß-blaues Wunder erleben.

Denn irgendwann ist man so weit in eine Familie oder andere Gruppe aufgenommen, dass das Politik-Tabu nicht mehr gilt. Plötzlich – machmal sehr plötzlich – kommt es zu Diskussionen, in denen massiv – manchmal sehr massiv – gegengehalten wird. Dann soll der Deutsche bitteschön erklären, warum (sagen wir mal) die Bundeswehr nicht im Süden Afghanistans im Einsatz ist. Dabei wird schon mal klar, wie viel von der politischen Debatte in Deutschland inzwischen über das Internet in den USA ankommt.

Der verschreckte Deutsche versteht meist nicht, woher der plötzliche Wechsel kommt: Bislang waren alle doch so freundlich! Nach den Erfahrungen dieses Autors kann es schwierig sein zu vermitteln, dass eine solche Diskussion eigentlich ein gutes Zeichen ist. Sie zeigt, dass man in den inneren Kreis aufgenommen wurde, wo man sich gut genug kennt, um mal Tacheles zu reden.

(Hier spielt allerdings auch die unterschiedliche Diskussions- und Streitkultur eine Rolle, ein Thema für einen späteren Eintrag.)

Inzwischen werden sich eine Reihe interessierter Leser fragen, was der Stevenson da für dummes Zeug redet. Sie werden auf amerikanische Bekannte verweisen, die ständig, ohne Unterlass und überall ihre politische Meinung zum Besten geben, ob jemand sie hören will oder nicht. Besonders zu den Präsidentenwahlen 2004 und 2008 kochten die Emotionen so hoch, dass viele Amerikaner trotz ihrer guten Erziehung und selbst auf der Arbeit nicht an sich halten konnten:

They think politics and work don’t mix, but they can’t help but talk about this particular election when they’re in the workplace.

Andere halten die ganze Konvention für veraltet. Selbst die Briten reden heute am Tisch über Politik. Entsprechend klagen Traditionalisten bei Miss Manners bitterlich über den Untergang der guten Sitten. Die Benimm-Tante bestätigt: Die Regel wird inzwischen ständig missachtet.

At best, it is thought to be a prissy restriction of adult conversation; at worst, it is considered a repression of free speech and the democratic process.

Ist das ein wirklicher Umbruch? Das wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen. Es ist auch schwer zu sagen, wie weit der Wandel geht. Auf MSNBC wurde vor der Wahl 2008 eine Befragung von 26.000 Leuten von Monster.com zitiert, die folgende Einstellungen zu politischen Diskussionen auf der Arbeit fand:

  • 46 Prozent: Listen, but keep your opinions to yourself
  • 30 Prozent: Don’t ask, don’t tell
  • 22 Prozent: Stand up and be heard

Es handelt sich vermutlich nicht um eine repräsentative Erhebung, daher ist das Ergebnis mit Vorsicht zu genießen. Sollte sie allerdings grob zutreffen, würde es heißen, dass etwa vier Fünftel der Amerikaner auf der Arbeit weiter nicht über Politik reden.

Was damit immer noch eine gute Faustregel ist.

[Geändert 10. Mai 2011: Weniger dramatische Darstellung der politischen Diskussion. 13. Januar 2012: Umgeschrieben]