Krankenversicherungen und blutende Amerikaner vor der Notaufnahme

Dezember 30, 2008

Der zukünftige Präsident Barack Obama hat eine umfassende Reform des Gesundheitssystems zu einem zentralen Ziel seiner Regierung erklärt. Das zeigt, wie richtig unsere Entscheidung war, das Thema erstmal nicht aufzugreifen. Wenn der Kongress die benötigte Summe von mindestens 60 Milliarden Dollar aufgetrieben hat, können wir immer noch einsteigen.

Allerdings wird dieser Autor insbesondere von in den USA lebenden Deutschen ständig, anhaltend und mit Nachdruck aufgefordert, wenigstens ein Vorurteil aus der Welt zu schaffen: Dass amerikanische Krankenhäuser Menschen ohne Versicherung bei Notfällen nicht behandeln. Offenbar müssen sich Exil-Germanen ständig von ihren zu Hause gebliebenen Verwandten und Bekannten anhören, dass Amerikaner reihenweise auf dem Bordstein vor der Notaufnahme verbluten, weil die Ärzte sie ‚rausgeworfen haben.

Diese Vorstellung zeugt von einem erstaunlichen Mangel an Zynismus gegenüber der modernen Mediengesellschaft. Wenn dem tatsächlich so wäre, würden solche Fälle wie Verfolgungsjagden live im Fernsehen übertragen, auf DVDs mit Titeln wie Best Hospital Curb Deaths 2008 verkauft und auf YouTube gesammelt. Es würde (mindestens) eine Reality Show dazu geben, vielleicht direkt vor dieser MTV-Serie über leichtbekleidete bisexuelle Zwillinge auf Liebessuche. In Horror-Shootern spekulativen Computersimulationen wie Left 4 Dead findet man nicht umsonst die größten Zombie-Horden im Krankenhaus selbst und nicht auf der Straße davor. Das wäre ja auch zu einfach.

Also, einmal ganz ausdrücklich: Natürlich werden alle Notfälle im Rahmen des health care safety net behandelt. Konkret wird das durch ein Bundesgesetz geregelt, dem Emergency Medical Treatment and Active Labor Act (EMTALA):

Any patient who „comes to the emergency department“ requesting „examination or treatment for a medical condition“ must be provided with „an appropriate medical screening examination“ to determine if he is suffering from an „emergency medical condition“. If he is, then the hospital is obligated to either provide him with treatment until he is stable or to transfer him to another hospital in conformance with the statute’s directives.

Wir erinnern uns daran, dass die Gesundheit eigentlich Ländersache ist, was wir am Beispiel der Pflichtversicherung in Massachusetts gesehen hatten. Entsprechend gehen die Gesetze in einigen Bundesstaaten noch über EMTALA hinaus.

Tatsächlich ist diese Behandlungspflicht der Krankenhäuser einer der Gründe für die horrenden Kosten des amerikanischen Gesundheitssystems – bekanntlich gibt kein Land mehr Geld pro Kopf auf diesem Sektor aus als die USA. Denn wenn die Patienten in der Notaufnahme nicht zahlen können, müssen die Träger der Krankenhäuser selbst für die Behandlungskosten aufkommen.

Wenn wir schon mal dabei sind, und weil es bei der Diskussion über das neue System eine Rollen spielen wird, hängen wir noch etwas Hintergrund dazu an.

Fast 46 Millionen Menschen in den USA haben keine Krankenversicherung (Deutschland: knapp 200.000). Direkte Vergleiche mit anderen Industriestaaten sind schwierig, denn die meisten von ihnen haben nicht 11,3 Millionen illegal eingewanderte Menschen in ihren Reihen – das entspricht der Gesamtbevölkerung von Kuba. Zudem kann man in amerikanischen Krankenhäusern auch direkt bezahlen. Deswegen beschließen einige Leute, das Risiko auf sich zu nehmen und keine Versicherung abzuschließen, obwohl sie sich eine leisten könnten.

(Massachusetts versucht mit einer Strafsteuer [PDF] von bis zu 912 Dollar, diese Leute zu einer Teilnahme zu bewegen. Wie Obama mit ihnen umgehen wird, ist unklar. Zwar hat er sich im Wahlkampf gegen eine Versicherungspflicht (individual mandate) für Erwachsene ausgesprochen. Sein zukünftiger Gesundheitsminister Tom Daschle hält sie aber für absolut unumgänglich. Auch Hillary Clinton hatte im Vorwahlkampf eine Zwangsteilnahme gefordert und erklärt, ansonsten würden 15 Millionen US-Bürger weiter keine Versicherung abschließen.)

So oder so reden wir von mehreren Millionen Menschen in den USA, die gerne eine Versicherung hätten, sich aber keine leisten können. Sie gehen entsprechend selten zum Arzt und verschleppen damit Krankheiten so lange, bis sie akut werden. Dann bleibt ihnen nur noch die „kostenlose“ Notaufnahme:

[M]any of the uninsured people who arrive in America’s hospital emergency departments are in terrible shape. Emergency physicians say they have delayed needed care, live with more serious medical conditions and are more likely to die before their time than those with health insurance.

Inzwischen gibt es für 55 Prozent der Notfälle keinen finanziellen Ausgleich. Der entsprechende Betrag für diese uncompensated care allein für die kommunalen Krankenhäuser stieg von 6,1 Milliarden Dollar im Jahr 1983 bis 2004 auf 40,7 Milliarden Dollar. Auch die Wartezeiten in der Notaufnahme haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.

Selbst man den humanitären Aspekt völlig ignorieren würde, ist klar, dass diese Leute früher behandelt werden müssen, bevor ihre Krankheiten ein fortgeschrittenes Stadium erreicht haben (a stitch in time saves nine, sagt man dazu auf Englisch). Sonst bricht das System zusammen.

Allerdings gibt es Widerstände gegen einen zu radikalen Umbau. Der Grund dafür ist einfach, wenn auch erfahrungsgemäß in Deutschland wenig bekannt: Die Leute, die versichert sind – die anderen 260 Millionen Amerikaner – sind mit den Leistungen des Gesundheitssystems hochzufrieden [PDF].

Among insured Americans, 82 percent rate their health coverage positively. Among insured people who’ve experienced a serious or chronic illness or injury in their family in the last year, an enormous 92 percent are satisfied with their care, and 87 percent are satisfied with their coverage.

Den größten Unmut gibt es über die Kosten. Entsprechend betonte Obama im Wahlkampf immer wieder die finanzielle Seite, sprach von affordable healthcare, stellte mehr Transparenz und Effizienz in Aussicht und versprach eine Entlastung pro Familie von „typischerweise“ 2,500 Dollar.

Für die kommende Diskussion sollte man daher im Kopf behalten: Auch wenn eine Mehrheit der Amerikaner eine einheitliche, landesweite Krankenversicherung befürwortet, ist das politische Mandat für einen völligen Umbruch nicht wirklich gegeben. Das Ziel dürfte daher eher sein, das System effektiver zu machen und mehr Menschen daran teilhaben zu lassen. Das wird schwierig genug.