Free Speech, Teil 2: Der Schutz des Inhalts und die Folgen für das Internet

März 1, 2007

Wir haben im ersten Eintrag dieser Serie in allgemeiner Form gezeigt, dass die Meinungsfreiheit in der US-Verfassung eine bevorzugte Stellung einnimmt und das mit der Situation in Deutschland verglichen, wo es ein Recht unter vielen ist. Heute wollen wir etwas mehr ins Detail gehen und uns dabei die Folgen für das Medium anschauen, das jeder interessierte Leser in genau diesem Augenblick nutzt: Das Internet.

Wir hatten am Beispiel des Holocausts gesehen, dass nach dem First Amendment ein bestimmter Inhalt (content) nicht verboten werden kann. Das gilt auch für weniger extreme Fälle:

Gotteslästerung. Der Staat darf kein Gesetz zum Schutz von religiösen Empfindungen erlassen, wie der Supreme Court 1952 klar stellte:

It is not the business of government in our nation to suppress real or imagined attacks upon a particular religious doctrine, whether they appear in publications, speeches, or motion pictures.

Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der ganzen gläubigen Menschen braucht Gott in den USA ein dickes Fell. Das gehört zu der strikten Trennung von Kirche und Staat, auf die wir schon eingegangen sind.

Aufrufe zur Gewalt oder zum Gesetzesbruch. Auch das ist grundsätzlich zulässig, wie das Oberste Gericht 1969 in Brandenburg v. Ohio (ein wunderbarer Name für ein deutsches Publikum) befand:

Freedoms of speech and press do not permit a State to forbid advocacy of the use of force or of law violation except where such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action and is likely to incite or produce such action.

Der hier hervorgehobene Teil ist der wichtigste: Es muss ein Aufruf zum unmittelbaren Rechtsbruch vorliegen und wahrscheinlich sein, dass er auch umgesetzt wird. Das Urteil hebt faktisch das Kriterium des clear and present danger auf, das 1919 in Schenck v. United States formuliert worden war.

Sturz der Regierung. Verwandt damit ist die Frage, in wie weit man ein Ende des bestehenden Systems oder gar der Demokratie propagieren darf. Wir nehmen aus Brandenburg v. Ohio den Kommentar von Richter William Douglas mit:

Advocacy and teaching of forcible overthrow of government as an abstract principle is immune from prosecution.

Hier ist die genaue juristische Situation komplizierter, denn formell gibt es noch den Smith Act von 1940, der so etwas unter Strafe stellt. Aber eine Reihe von Urteilen in den 50er Jahren (insbesondere Yates v. United States) machen das Gesetz hinfällig. Bedenkt man, wie die USA entstanden sind, wäre ein solches Verbot auch irgendwie ironisch.

Amerikanische Nazis fordern daher unter dem Schutz des First Amendment unbehelligt die Umwandlung des Landes in einen Arier-Staat. Auch die Kommunistische Partei der USA (CPUSA), auf Bundesebene nie verboten, beschwört seit 1919 den bevorstehenden Sieg des Sozialismus – vielleicht morgen, spätestens übermorgen, nächste Woche aber ganz bestimmt.

Wir könnten die Liste mit Dingen wie Volksverhetzung oder Gewaltverherrlichung fortsetzen, aber das Grundprinzip bleibt immer gleich: Der Inhalt, die Botschaft, darf nicht beschnitten werden, auch wenn sie heftig ist.

Interessanter ist daher, wo überhaupt die Grenzen liegen. Die gibt es natürlich, denn selbst der stärkste Verfechter der Meinungsfreiheit verliert irgendwann die Nerven wenn etwas, egal was, morgens um drei mit einem Megafon vor seinem Schlafzimmerfenster propagiert wird.

Tatsächlich dürfen im öffentlichen Raum drei Dinge eingeschränkt werden: Der Zeitpunkt, der Ort und die Art (time, place and manner) der Aussage. Solche Einschränkungen müssen vier Bedingungen erfüllen:

  1. Does the regulation serve an important governmental interest?
  2. Is the government interest served by the regulation unrelated to the suppression of a particular message?
  3. Is the regulation narrowly tailored to serve the government’s interest?
  4. Does the regulation leave open ample alternative means for communicating messages?

Wir sehen besonders am letzten Punkt wieder den Schutz des Inhalts: Es muss immer Alternativen geben, damit die Botschaft selbst verbreitet werden kann. Berücksichtigt wird von Gerichten aber auch der chilling effect, also in wie weit ein Gesetz abschreckend auf eine legitime Meinungsäußerung wirken würde. Das soll eine Einschüchterung verhindern und Rechtssicherheit bei der Meinungsäußerung schaffen.

Hier können wir einen ersten Bezug zum Internet herstellen: Blogautoren und Website-Betreiber sind in den USA nicht für die Kommentare ihrer Leser haftbar, wie kürzlich wieder von einem Bundesgericht bestätigt wurde. Denn:

The amount of information communicated via interactive computer services is […] staggering. The specter of tort liability in an area of such prolific speech would have an obvious chilling effect. It would be impossible for service providers to screen each of their millions of postings for possible problems. Faced with potential liability for each message republished by their services, interactive computer service providers might choose to severely restrict the number and type of messages posted.

Bildlich gesprochen darf es in den USA bei Diskussionen ruhig heiß hergehen – schlimm ist, wenn jemand mit seiner Meinung kaltgestellt wird.

Ein aktuelles Beispiel für den Streit um diese Einschränkungen bietet die Westboro Baptist Church aus Kansas. Diese Gruppe sieht die USA als einen „homofaschistischen Staat“, der Gottes Zorn auf sich gezogen hat, weil er die Homosexualität duldet (Österreich ist angeblich auch nicht besser [PDF]). Wann immer ein Amerikaner im Irak fällt, ein Tornado wütet oder ein Anschlag verübt wird, feiern sie es lautstark als Gottes gerechte Strafe. Ihre bevorzugte Taktik besteht darin, bei Beerdigungen von Soldaten [PDF] deren Tod zu bejubeln und den Hinterbliebenen Plakate wie Thank God for Dead Soldiers entgegen zu halten.

Möglicherweise würde in Deutschland in so einem Fall „Störung einer Bestattungsfeier“ oder „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ oder so etwas greifen. In den USA ist das aber eine vom First Amendment geschützte Meinungsäußerung. Das dürfen die. Als Gegenbewegung haben sich die Patriot Guard Riders gebildet, eine landesweite Motorradgruppe, die bei der Beisetzung von Soldaten eine lebende Mauer zwischen den Westboros und den Trauernden bildet.

Natürlich stinkt die ganze Sache vielen Leuten gewaltig. Daher wurden 2006 Bundesgesetze erlassen, die Demonstrationen innerhalb von 150 feet (etwa 46 Meter) und eine Stunde vor oder nach einer Beisetzung verbieten – Zeit und Ort wurden eingeschränkt. Allerdings: Die mächtige Bürgerrechtsgruppe ACLU hat Klage eingereicht. Deren Argument: Auf dem Bürgersteig darf jeder Amerikaner sagen, was er will.

Denn in den USA ist der öffentliche Raum in drei Bereiche unterteilt: Dem traditional public forum (Straßen, Parks), in dem die Meinungsfreiheit am stärksten geschützt ist; dem designated public forum (ein Raum mit einem bestimmten Zweck wie eine Stadthalle), bei dessen Gründung einige Grenzen festgelegt werden können; und dem non-public forum, (Gefängnisse, Militärstützpunkte), wo es weitere Einschränkungen geben kann. Diese kann es auch in Schulen geben, wo die Meinungsfreiheit mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag in Einklang gebracht werden muss. Der vollständige Schutz in seiner oben beschriebenen Form gilt also bei weitem nicht überall.

Und damit kommen wir zum Internet. In Reno v. ACLU entschied der Supreme Court 1997, dass das neue Medium den full First Amendment protection genießt:

As a matter of constitutional tradition, in the absence of evidence to the contrary, we presume that governmental regulation of the content of speech is more likely to interfere with the free exchange of ideas than to encourage it. The interest in encouraging freedom of expression in a democratic society outweighs any theoretical but unproven benefit of censorship.

Das Urteil geht noch weiter. Die Betreiber von amerikanischen Websites müssen sich nicht mit der Frage befassen, ob Kinder Zugriff haben könnten. Da das Internet kein begrenztes Gut wie das Funkspektrum ist, fällt es auch nicht unter die Aufsicht der FCC – die Bundesbehörde, die Amerika vor den furchtbaren Gefahren schützen will, die von Janet Jacksons Brustwarzen ausgehen.

Wir sind damit wieder bei Congress shall make no law und können festhalten: Keine staatliche Stelle in den USA kann eine Meinungsäußerung auf amerikanischen Websites einschränken. Entsprechende Anfragen, Bitten und Forderungen sind sinnlos.

(Das heißt natürlich nicht, dass die Regierung nicht trotzdem versucht, Einfluss zu nehmen. Seit 2005 müssen nach dem Bundesgesetz 18 U.S.C. 2257 Websites mit „sexuell expliziten Fotos“ umfangreiche Belege dafür aufbewahren, dass alle abgebildeten Personen volljährig waren. Äußerst umfangreiche Belege. Ganz nebenbei und bestimmt nur zufällig könnte das Gesetz auch auf Darstellungen wie die Misshandlungsfotos aus Abu Ghraib angewandt werden. Eine Klage läuft.)

Reno v. ACLU ist einer der wichtigsten Gründe für die vielbeschworene Schwierigkeit, das Internet zu kontrollieren: Jede Person auf dem Planeten mit einem ungefilterten Zugang zum Netz hat durch das Urteil auch Zugang zu einem Raum, in dem das First Amendment in seiner stärksten Ausprägung gilt.

Mehr noch: Dieser Raum wird von 210 Millionen Menschen bevölkert, für die seit mehr als zwei Jahrhunderten eine möglichst uneingeschränkte free speech die unverzichtbare Grundlage jedes freien Staates ist. Entsprechend wenig Verständnis haben sie für die Sichtweise, die Meinungsfreiheit sei nur ein Recht unter vielen. Auch Internet-Bürgerrechtsgruppen wie die Electronic Frontier Foundation (EFF) handeln nach dem Prinzip: Freedom of speech is the foundation of a functioning democracy.

Diese Situation ist nicht nur für autoritäre Staaten wie China, Saudi-Arabien oder Nordkorea ein Problem. Alle Länder, die nicht den amerikanischen Glauben an die alles überragende Bedeutung der Meinungsfreiheit teilen – also so ziemlich alle außer den USA selbst – stehen spätestens seit Reno v. ACLU vor der Wahl: Entweder müssen sie mühsam und aufwändig das Internet filtern oder sie müssen akzeptieren, dass ihre Bürger Zugang zu Dingen bekommen, die nach ihren Gesetzen eigentlich verboten sind.

Die Diskussion darüber ist aber nicht mehr Gegenstand dieses Blogs. Halten wir fest, dass das First Amendment inzwischen nicht nur die Amerikaner betrifft, sondern mit dem Internet in die ganze Welt getragen wird.

James Madison wäre so stolz.

In der nächste Folge schauen wir uns an, warum Amerikaner Prediger und andere Personen des öffentlichen Lebens als Säufer darstellen dürfen, die Geschlechtsverkehr mit ihren Müttern haben.