Damals, als die Amerikaner gar niemanden abhörten

Juli 22, 2013

Man kann sich das im Moment kaum vorstellen, aber vor etwa 75 Jahren haben die USA auf Abhöraktionen verzichtet, weil ihnen das Ganze, nun, unhöflich erschien.

Unsere Geschichte fängt mit der Washington Naval Conference von November 1921 bis Februar 1922 an. Auf diesem Abrüstungsgipfel wurde unter anderem über die relativen Stärken der Schlachtschiffe in den Flotten von Großbritannien, den USA und Japan verhandelt. Die Regierung in Tokio verlangte dabei öffentlich ein Verhältnis von zehn für die beiden angelsächsischen Staaten zu sieben für sich (kurz 10:10:7 oder noch kürzer 10:7).

Jetzt tritt der amerikanische Kryptologe Herbert Yardley [PDF] auf die Bühne, wenn auch, äh, hinter den Kulissen. Zusammen mit seinen gerade einmal 13 Kollegen bildete er den Nachrichtendienst Military Intelligence Branch, Section 8 (MI8) — heute besser als America’s Black Chamber bekannt. Sie bekamen ein Telegramm aus Tokio vom 28. November 1921 in die Finger, das aus Tokio an den japanischen Verhandlungsführer adressiert war. Yardleys Team entschlüsselte bis zum 2. Dezember die Botschaft, deren Kern er so zusammenfasste:

It shows that if America presses Japan vigorously, Japan will give up proposal 1, then proposal 2, and that provided the status quo of the Pacific defenses is maintained, she will even accept a ten-to-six naval ratio.

Die US-Delegation unter Leitung von Außenminister Charles Evans Hughes kannte jetzt die Minimalforderung der Japaner — 10:6 — und konnte darauf hinarbeiten. Eine Woche später stimmte das Kaiserreich genau diesem Verhältnis zu. Ein diplomatischer Sieg für die USA und ein Riesenerfolg für den kleinen Nachrichtendienst.

In einer Welt ohne Computer war Yardley nach der Konferenz völlig erschöpft von der Entschlüsselungsarbeit und musste sich in Arizona ausruhen. Er bekam von Hughes einen (allgemein gehaltenen) Lobesbrief und vom Militär einen Orden. Zudem erhielten er und seine Mitarbeiter 1921 einen Weihnachtsbonus, unerhört zu dieser Zeit im amerikanischen Staatsdienst. Yardley bekam 184 Dollar.

Etwa acht Jahre später strich das Außenministerium die Gelder für MI8. Der Dienst wurde geschlossen.

Was war geschehen? Im Jahr 1929 wurde Henry L. Stimson Außenminister unter Präsident Herbert Hoover. Die Schließung von MI8 sollte zwar auch Geld sparen. Aber Stimson fand die ganze Sache in Friedenszeiten vor allem ethisch fragwürdig. Ihm wird folgender Spruch (in verschiedenen Varianten) zugeschrieben:

Gentlemen do not read each other’s mail.

Damit verfügten die USA ab dem 1. November 1929 über keine Möglichkeit mehr, ausländischen diplomatischen Verkehr abzufangen und zu entschlüsseln. Zwar schuf das Heer in seinem Signal Corps eigene Codes, brach fremde jedoch nicht. Erst 1932 – neun Jahre vor dem Angriff auf Pearl Harbor – nahm das amerikanische Militär diese Arbeit wieder auf.

Die Geschichte hat ein Nachspiel. Der plötzlich arbeitslose Yardley schrieb 1931 ein Buch über seine Arbeit bei MI8 mit dem Titel The American Black Chamber. Es wurde zum Bestseller, auch in Japan, wo man vor Wut schäumte und die Verschlüsselungsverfahren änderte. Im Jahr 1935 entstand auf der Grundlage der Agentenfilm Rendezvous. Die bösen Spione waren natürlich Deutsche.

Wie reagierte die amerikanische Regierung auf das Buch? Nun [PDF]:

The State Department, in the best tradition of „Mission: Impossible,“ promptly disavowed any knowledge of Yardley’s activities. Secretary Stimson (…) was now said never to have heard of it, and State Department spokesmen indignantly denied that Yardley had broken Japanese codes during the Washington arms conference of 1921-22. The War Department declined public comment except to say, curiously, that Yardley’s bureau had not operated in the last four years.

Es mag den ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden interessieren, dass gegen Yardley keine Anklage erhoben wurde: Damals gab es noch keine juristische Grundlage, um ihm den Prozess zu machen. Er blieb allerdings ein ausgestoßener und arbeitete später für China – und Kanada.

[Zur Erinnerung und für neue Leser: Wir haben bereits die Bedeutung der US-Nachrichtendienste im Krieg gegen Japan besprochen. Dort auch die Diskussion über die Abhöraktionen gegen neutrale und verbündete Staaten während des Krieges, die dazu führten, dass die Archive erst 1995 vollständig geöffnet wurden, was wiederum Folgen für die Diskussion über den Einsatz der Atombomben hat.]