Warum Nicht-Wählen in den USA nicht so problematisch ist (rechnerisch zumindest)

Oktober 18, 2012

Deutsche sind entsetzt, mit welcher Nonchalance Amerikaner nicht zur Wahl gehen. Hier prallen unterschiedliche Weltansichten aufeinander: Während der US-Bürger nicht einsieht, seine Stimme abzugeben, wenn ihm beide alle Kandidaten nicht gefallen und es schon mal mit einem Spruch wie Don’t vote, it only encourages the bastards abtut, lernen Bundesbürger schon als Kinder: „Nicht zu wählen ist die schlechteste Wahl.“ Da werden düstere Warnungen über die Zukunft der Demokratie ausgesprochen, die Amerikaner wiederum nach 200+ Jahren Erfahrung mit der ganzen Sache irgendwie nicht ernst nehmen.

Die unterschiedlichen Einstellungen haben einen konkreten Hintergrund: Das Nicht-Wählen hat in einem Parlamentssystem wie dem deutschen schwerwiegendere Folgen als in den USA, wo die Abgeordneten direkt gewählt werden.

Vereinfachen wir das komplizierte deutsche System mit seinen Erst- und Zweistimmen sowie Überhangmandaten — schon deswegen eine gute Idee, weil die Bundesrepublik im Moment bekanntlich kein gültiges Wahlrecht hat. Sagen wir einfach: Die Sitze für eine Partei werden nach dem Prozentsatz der für sie abgegebenen Stimmen verteilt. Reines Verhältniswahlrecht also.

Wenn jetzt ein gemäßigter deutscher Wähler zu Hause bleibt, ein radikaler Wähler sich aber zur Urne schleppt, steigt der prozentuelle Anteil der radikalen Stimmen (umgekehrt natürlich auch, aber dieser Autor ist bis auf die Sache mit den Zombies ein bekennender Spießer). Sie bekommen entsprechend mehr Sitze. Sprich, bei einer Verhältniswahl ist es ein Erfolg für die Radikalen, wenn Gemäßigte nicht zur Wahl gehen.

In Deutschland ist nicht-wählen damit tatsächlich eine saublöde Idee, weil es automatisch „die anderen“ stärkt, wer immer das auch sein mag.

In den USA werden dagegen Menschen gewählt und nicht Parteien (wir erinnern uns: Parteien gibt es eigentlich gar nicht). Dabei werden die Stimmen über Wahlkreise (Repräsentantenhaus) oder Bundesstaaten (Senat und Präsident) zusammengefasst.

Durch dieses Mehrheitswahlrecht werden kleinere Gruppen — ob extrem oder einfach nur „anderes“ — strukturell ausgeschlossen. Die besten Chancen, auch nur einen (in Zahlen: 1) Abgeordneten in den Kongress zu bekommen hätte die Communist Party USA („Radical Ideas. Real Politics.“), wenn alle amerikanischen Kommunisten in einen Wahlbezirk ziehen würden. Das ist auch der Grund, warum sich Mechanismen wie die Fünf-Prozent-Hürde in den USA erübrigen.

Entsprechend müssten sehr, sehr viele Amerikaner nicht zur Wahl gehen, bevor es einem Radikalen gelingen würde, auch nur in die Nähe der Kandidaten der beiden großen Volksparteien zu kommen. Das ist eine weitere Ausprägung der größeren Fehlertoleranz bei einer Mehrheitswahl im Vergleich zu einer Verhältniswahl. Der Preis dafür ist allerdings, dass politische Minderheiten als Gruppe nicht im Kongress vertreten sind.

Rein rechnerisch ist Wahlabstinenz also in den USA weniger ein Problem, denn Extremisten müssen so oder so draußen bleiben. Wie das moralisch und vom Demokratieverständnis her aussieht, ist natürlich eine ganz andere Frage. Nicht umsonst fordern amerikanische Prominente mit beißendem Sarkasmus Don’t vote! [YouTube] — und ziehen sich dann den BH aus, damit die Bürger es doch tun.