Von der Bedeutung von Ayn Rand und John Galt, wer auch immer das sein mag

Februar 3, 2009

Who is John Galt?

– Frage eines Obdachlosen, erster Satz von Atlas Shrugged

Im Jahr 1991 fragte die Kongressbibliothek die Mitglieder des Book of the Month Club, welche Bücher den größten Einfluss auf ihr Leben gehabt hätten. Der erste Platz war keine Überraschung: Die Bibel. Danach kam ein Roman: Atlas Shrugged von Ayn Rand aus dem Jahr 1957.

Erfahrungsgemäß haben Deutsche außerhalb einer kleinen Fangemeinde weder den Namen der russischstämmigen Philosophin und Autorin gehört, noch haben sie ihr wichtigstes Werk gelesen, können mit dem Begriff des Objectivism etwas anfangen oder wissen, wofür die Figur John Galt steht.

Das ist doof, denn Rand und Galt sind in den USA angesichts der Finanzkrise und der riesigen Konjunkturpakete wieder in aller Munde. Im Januar 2009 schrieb das „Wall Street Journal“:

Atlas Shrugged: From Fiction to Fact in 52 Years

Die Reaktionen auf den Kommentar des Wirtschaftsredakteurs Stephen Moore waren der Zeitung zufolge heftig [Video]. Er weiß sich in prominenter Gesellschaft: Zu Rands innerem Kreis gehörte Alan Greenspan, Chef der US-Notebank Fed. Er hielt 1982 ihre Grabrede.

Schon im Wahlkampf hatten einige Amerikaner davon gesprochen, bei einem Sieg von Barack Obama einen auf John Galt (going John Galt) machen zu wollen:

Obama talks about taking from those who are productive and redistributing to those who are not — or who are not as successful. If success and productivity is to be punished, why bother?

Perhaps it is time for those of us who make the money and pay the taxes to take it easy, live on less, and let the looters of the world find their own way.

Diese Zeilen der Bloggerin Dr. Helen (übrigens die Ehefrau des Alpha-Bloggers und Jura-Professors Glenn Reynolds von Instapundit) mag als sehr grobe Zusammenfassung von Atlas Shrugged dienen: Warum soll ich arbeiten, wenn sich meine Leistung für mich nicht lohnt? Schluss damit! Wir werden das gleich ausbauen, halten aber hier schon mal das Wort looters („Plünderer“) fest.

Wirklich weg war Rand nie. Der britische Guardian schrieb 2001, dass ihr Einfluss zunehme, zumindest in den angelsächsischen Staaten. Die Biografie A Sense of Life wurde 1998 für einen Oscar nominiert. Wer amerikanische Brieffreunde hat, bekam ihr Gesicht vielleicht 1999 ins Haus geliefert. Angeblich spielt ihre Philosophie in Bioshock eine Rolle („Best Game about Ayn Rand“). Dieser Autor muss allerdings erst noch die vorgeschriebenen 53.595 Zombies töten, bevor er das selbst überprüfen kann. Das wird noch etwas dauern.

An einer Rezension zu dem Weltraumspiel EVE Online von Ars Technica sehen wir, wie selbstverständlich Amerikaner ihre Ideen als bekannt voraussetzen:

Playing one of four races, you mine, trade, and fight in typical Ayn Rand fashion, selfish rationalism in space.

Eine zentrale Rolle spielt Rand in dem Kultroman Sewer, Gas & Electric von Matt Ruff. Das Buch wurde von Atlas Shrugged inspiriert und ist Rand gewidmet. Sie selbst taucht als Künstliche Intelligenz auf, raucht viel und erzählt den Leuten, wie scheiße sie sind. An dem Buch sehen wir ein Problem, das auch Amerikaner haben: Wie man den komischen Vornamen ausspricht.

„‚Ayn‘ rhymes with ’sane‘?“
„Rhymes with ‚mine,'“ Joan said.

Ruff liefert gleich einen kurzen Abriss ihrer Philosophie mit. Sie dort zu lesen ist aber geschummelt, denn wahre Männer und Frauen nähern sich Rand über Atlas Shrugged (erst Recht machen wir es uns nicht so einfach, einige Kernzitate [YouTube] abzuspielen). Etwas Mut ist nötig, denn das Werk ist zwar ziemlich spannend, hat aber mehr als 1.000 Seiten. Um die zentrale Rede im Schlussteil vorzulesen, bräuchte man drei Stunden. Bei Ruff wird eine Figur mit dem Buch zu Tode geprügelt. Das sollte zu denken geben.

Aber in diesem Blog folgen wir der Philosophie von James T. Kirk und stürmen in Orte vor, die zu betreten sich die Engel fürchten. Daher eine grobe Zusammenfassung in fünf Absätzen:

Wir befinden sich in einer nahen Zukunft. Die Welt besteht aus sozialistischen Volksrepubliken, die DDR ist überall. Das geht nicht gut: Alles bricht langsam zusammen. In den USA gibt es noch einen Rest von Marktwirtschaft, aber auch hier wird der politische Druck immer größer, die letzten „unsozialen“ Firmen zu verstaatlichen. Leistungswille ist verpönt, Ehrgeiz eine gesellschaftliche Sünde, demonstrative Betroffenheit die höchste Tugend.

Zu den wenigen Leuten, die noch kämpfen, gehört die Protagonistin Dagny Taggart, Managerin bei der Eisenbahn Taggart Transcontinental. Sie und der Industrielle Henry „Hank“ Rearden, Gründer und Präsident von Rearden Steel, versuchen irgendwie, ihre Konzerne am Leben zu erhalten, mit Kreativität, harter Arbeit und Risikobereitschaft (und ja, es gibt eine Liebesgeschichte). Als Taggart aufgefordert wird, wie alle anderen „sozial“ zu handeln, sagt sie zu ihrer Motivation als Geschäftsvorsitzende:

I’m not interested in helping anybody. I want to make money.

Taggart und Rearden bekommen noch mehr Probleme, denn plötzlich kündigen ihre besten Leute oder verschwinden einfach. Langjährige Partner, auch echte Haudegen, übergeben ihre Firmen auf einmal klaglos an den bislang so verhassten Staat. Die wenigen fähigen Leute haben kein Interesse mehr an einer Beförderung und weigern sich höflich aber bestimmt, mehr zu machen als die einfachsten Handlagerjobs. Warum, das sagen sie nicht. Ob Unternehmer, Musiker, Wissenschaftler oder gewissenhafter Handwerker, einer nach dem anderen steigt aus.

Und immer wieder taucht der Name John Galt auf. Taggart und Rearden dämmert es, dass hinter dem resignierten Spruch Who is John Galt? eine wirkliche Person stecken muss. Sie machen sich auf, um diesen Mann zu finden. Und tatsächlich schaffen sie es (und ja, Taggart findet ihn sexy).

Galt ist ein Ingenieur, der Erfinder eines revolutionären Antriebs, der keine Lust mehr hatte, sich vom Kollektiv ausbeuten zu lassen, die Schmarotzer (parasites, moochers und besagte looters) mitzuziehen und sich dafür auch noch anfeinden zu lassen. Als in seiner Fabrik die berühmte Parole From each according to his abilities, to each according to his needs ausgerufen wird, schmeißt er sein Werkzeug hin, lässt seinen Motor nutzlos zurück und kündigt an, den „Motor der Welt“ gleich mit anzuhalten. Sein Motto:

I swear — by my life and my love of it — that I will never live for the sake of another man, nor ask another man to live for mine.

Seitdem zieht er durch das Land und überzeugt die prime movers davon, sich seinem Beispiel anzuschließen, bis die Gesellschaft zusammengebrochen ist und neu aufgebaut werden kann. Und genauso kommt es am Ende auch.

Atlas Shrugged ist die Geschichte eines Streiks der Leistungsträger. Das Buch ruft sie auf, sich nicht alles gefallen zu lassen, stolz auf sich und ihre Errungenschaften zu sein, ihren Verstand und ihre Kreativität zu feiern, egal, was die Gesellschaft dazu sagt. Es erzählt vom Recht auf Eigennutz und Individualität, vom Übel des gesellschaftlichen Zwangs, ohne Gegenleistung für andere zu arbeiten, von der Pflicht ehrlich und aufrichtig zu sein sowie davon, dass man trotz aller Widrigkeiten seinen Träumen folgen soll. Hier ist die Inspiration, von der so viele Leser sprechen, die Vision, die ein Leben verändern kann.

Die Ayn Rand Society, die mit der American Philosophical Association (APA) verbunden ist, beschreibt das Gedankengebäude dahinter als virtue-focused rational egoism [sic]:

Rand identifies three cardinal values: Reason, Purpose, and Self-esteem, with the corresponding virtues of Rationality, Productiveness, and Pride.

Oder, um einen Punkt herauszunehmen, der schärfer formuliert ist:

[R]ational, productive people are good for us, while irrational parasites are worthless or dangerous.

Für ihre Kritiker ist Rand dagegen eine Verfechterin des Sozialdarwinismus und ihre Philosophie nur eine ausgeschmückte Version von greed is good. Zu ihren Gegnern gehört der amerikanische Intellektuelle Gore Vidal, der 1961 schrieb, dass Rands Philosophie nearly perfect in its immorality sei. Im Moment machen Greenspan-Kritiker ihren Einfluss für die Finanzkrise mitverantwortlich.

Dass die Linken Rand hassen, ist klar. Die Wurzeln dieser Feindschaft reichen dabei bis lange vor Atlas Shrugged zurück. Rand hatte als Kind in Russland die Revolution von 1917 erlebt und trug 1926 ihren Hass auf sozialistische und totalitäre Systeme mit nach Amerika. Ihr erster Roman We the Living ist eine Anklageschrift gegen den Kommunismus, was allerdings 1936 selbst in den USA nicht gut ankam. In anderen Teilen der Welt half es nicht, dass sie Jüdin war, auch wenn sie sehr früh Atheistin wurde.

Entsprechend mögen auch die religiösen Rechten sie nicht, denn sie hielt Religion und Mystik für dummes Zeug. Anderen Konservativen gefiel ihre Ablehnung von Präsident Ronald Reagan nicht. Rand wird überwiegend von den etablierten Philosophen ignoriert oder belächelt. Und dass die Europäer sie nicht mögen, mag zusätzlich an einer anderen Einstellung liegen:

I can say — not as a patriotic bromide, but with full knowledge of the necessary metaphysical, epistemological, ethical, political and aesthetic roots — that the United States of America is the greatest, the noblest and, in its original founding principles, the only moral country in the history of the world.

Eine Hurrah-Patriotin war sie allerdings nicht. Ihre Kritik an der Politik verschiedener US-Regierungen war bitterböse. Sie war gegen den Vietnam-Krieg und den Korea-Krieg und hielt den Eintritt der USA in beide Weltkriege für einen Fehler. Rand passt nicht wirklich in die Stereotypen, die Europäer von Amerikanern haben.

Allgemein ist Rand zu kompliziert, um in irgendein Schema gepresst zu werden, auch wenn das in diesem kurzen Eintrag vielleicht nicht klar wird. Wir haben viele der kontroversesten Themen gar nicht gestreift wie ihre Beziehung zum Feminismus. Selbst Kirk wusste, dass man nicht jeden fremden Planeten betreten sollte.

Es ist entsprechend schwer einen Amerikaner zu finden, der ihre Philosophie ganz unterstützt. Inspirationen und Einsichten, davon hört man immer wieder. Aber dann kommen eine lange Liste von Einwänden und Einschränkungen.

Daher eine Warnung: Deutsche, die zum ersten Mal Rand lesen, glauben oft, endlich den Schlüssel zum Verständnis der USA gefunden zu haben, insbesondere zu der Strömung des laissez-faire in der amerikanischen Wirtschaft. So groß ist ihr Einfluss dann doch wieder nicht. Greenspan mag in den 70ern viel mit Rand zu tun gehabt haben, verriet aber nach Ansicht der Objektivisten als Fed-Chef ihre Prinzipien in einem „Pakt mit dem Teufel“. Rands Anhänger weisen darauf hin, dass sie entsetzt über die Wirtschaftspolitik und das Verhalten der US-Bürger in den vergangenen Jahrzehnten gewesen wäre:

She would have been appalled at the level of debt Americans accumulated. Rand believed that you worked in order to purchase things you want and need with your own money. You don’t work to enslave yourself with borrowed money. You can’t afford the car you want? The house you want? Too bad. Read a book. Learn a craft. Acquire a skill. Improve society and you will be rewarded.

Den weiteren Hintergrund überlassen wir dem Ayn Rand Institute, das Rands Arbeit weiterführt.

Der interessierte Leser sollte mitnehmen, dass sie mit Atlas Shrugged und der Figur John Galt ein bleibendes Bild für Situationen geliefert hat, in denen fähige und leistungsbereite Menschen wegen der gesellschaftlichen Umstände keine Lust mehr auf Arbeit haben. Dann werden auch Schlagzeilen wie „Is John Galt Venezuelan?“ verständlich oder was gemeint ist wenn ein Unternehmer sagt: Atlas has shrugged all over the country.

Dass Deutsche dieses Bild nicht kennen und deswegen Berichte über Dinge wie die Manager-Abwanderung ohne Hinweis auf Rand und Galt schreiben, ist für Amerikaner regelrecht frustrierend. Es führt diesen Autor immer wieder in Versuchung, bewusst irgendwo eine Anspielung einzubauen, nur damit er hören kann, wie sein germanisches Gegenüber fragt:

„Wer ist John Galt?“

[Korrigiert 3. Feb 2009: Galt zerstört seinen Motor nicht, sondern lässt ihn einfach zurück. Weil niemand anders den Prototypen versteht, ist er nutzlos.]