Halloween. Ein Leitfaden für die Nacht der Kinder.

Oktober 18, 2006

Irgendwann im Oktober beginnen amerikanische Kinder unruhig zu werden. In den Geschäften dominieren die Farben Orange und Schwarz, die Nachbarn malen Gespenster auf ihre Fenster und schnitzen Fratzen in Kürbisse und überall tauchen Bilder von Fledermäusen, Gruselmasken und Hexenhüten auf. Wer schon zählen oder den Kalender lesen kann, ist im Vorteil – die Unter-Ein-Meter-Fraktion muss sich damit begnügen, ihre Eltern mit Varianten von How long? in den Wahnsinn zu treiben. Denn wenn die Blätter fallen und die Nächte länger werden, naht Halloween.

Halloween ist nach Ansicht dieses Autors das schönste Fest, das Nordamerika zu bieten hat, auch wenn es eher wie eine Schnitzeljagd der Addams Family daher kommt. Zwei Gründe:

Halloween ist ein reines Kinderfest. Das geht beim Übergang in andere Kulturen oft verloren und auch in den USA und Kanada gibt es immer mehr Teenager- oder Erwachsenen-Partys. Sein Hauptzweck besteht aber bis heute darin, Kinder glücklich zu machen. Einen Tag im Jahr können sie ihr Feen- oder Spiderman-Kostüm auf der Straße anziehen, sich mit erziehungspolitisch fragwürdigem Zeug beschäftigen und bekommen so viele Süßigkeiten, wie sie tragen können. Weihnachten, das Lichterfest und Ostern sind zwar auch schön für Kinder, aber immer nur informell. Bei Halloween stehen sie einmal ausdrücklich im Mittelpunkt.

Halloween ist nicht religiös oder politisch. Das folgt eigentlich aus dem ersten Punkt – Kinder sind bekanntlich noch zu nah an Gott, um sich Sorgen um Religion zu machen – sollte aber betont werden. Christen und Juden mögen im Dezember ihre eigenen Wege gehen, aber zu Halloween rennen ihre Kinder noch zusammen durch die Straßen. Inzwischen hat sich auch jede kulturelle oder ethnische Zugehörigkeit abgeschliffen. Schokolade eint alle.

Halloween ist also ein Kinderfest ohne ideologischen Hintergrund. So etwas ist selten: Das oberflächlich mit Halloween verwandte Karneval ist auch für Erwachsene, wie die Schnapsleichen in den Straßen bezeugen, und andere Feste – selbst Thanksgiving in den USA oder Sankt Martin in Deutschland – schleppen zumindest eine moralisch erbauende Hintergrundgeschichte mit sich herum. Halloween nicht. Es soll nicht an irgendwas erinnern, zu irgendwas mahnen oder gar irgendwen betrauern. Es geht um glückliche Kinder.

Und weil das so selten ist, soll Halloween in diesem Text der Alten Welt näher gebracht werden.

Bringen wir zuerst die unspaßigen Pflichtteile hinter uns, auf die nur Erwachsene bestehen: Geschichte und Geld.

Halloween hat Wurzeln im keltischen Neujahrsfest Samhain und wird am Abend des 31. Oktober gefeiert. Der Name selbst stammt vom All Hallow’s Eve – die Nacht vor Allerheiligen, dem 1. November. Entsprechend war Halloween zuerst in katholischen Gebieten verbreitet, und bis heute haben selbst professionelle Exorzisten kein Problem damit. An dem Datum sehen wir auch, dass der Reformationstag in den USA von geringer Bedeutung ist.

(Einzelne fanatische Protestanten verbieten ihren Kindern Halloween trotzdem, weil es a) Spaß macht und b) sie Martin Luthers Mahnungen über die Bedeutung der Freude für Kinder nicht verstanden haben. Die Geschichten über Satanismus und Halloween sind moderne Legenden, über die echte Satanisten empört sind.)

Zentrale Elemente kamen dann aus der Neuen Welt oder wurden dort anpasst, was jeder begrüßen wird, der schon mal versucht hat, einen europäischen Kürbis auszuhöhlen. Inzwischen beanspruchen alle möglichen Gruppen und Länder Halloween für sich, selbst die Engländer, die dieses Mal nun wirklich gar nichts zu melden haben. Für die Kinder ist das nur gut: Wer Ami-Hasser als Eltern hat, kann ihnen erklären, dass es ja eigentlich europäisch ist. Und auch in Kanada gefeiert wird. Und dass man nebenbei für UNICEF sammeln kannirgendwas, bloß um auch mitmachen zu können.

Zum Geld: Der durchschnittliche US-Konsument gibt zu Halloween 18,72 Dollar (etwa 15 Euro) für Süßigkeiten und 21,57 Dollar für Kostüme aus. Insgesamt liegt das Fest mit Ausgaben von fünf Milliarden Dollar weit abgeschlagen an sechster Stelle hinter den Winterfeiertagen (Weihnachten plus Lichterfest), dem Valentinstag, Ostern, Mutter- und selbst Vatertag. Zur Einordnung: Für die Winterfeiertage werden in den USA mehr als 450 Milliarden Dollar ausgegeben.

Klagen über die kommerzielle Seite von Halloween sind entsprechend seltener als bei anderen Festen. Ohnehin wird viel selbst gebastelt. In Gesprächen mit älteren Landsleuten fand dieser Autor vielmehr immer wieder ein Bedauern darüber, dass der Charakter eines reinen Kinderfestes verloren gehe. Auch das bestätigt der Einzelhandel: Etwa 85 Prozent der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren will demnach 2006 Halloween feiern, verglichen mit 67 Prozent im Jahr zuvor. Nicht unbedingt durch die Straßen ziehen – das bleibt Kinderkram – aber feiern.

Und damit kommen auch wir zum spaßigen Teil.

Vorbereitung.

Zuerst dekoriert man sein Haus oder seine Wohnung. Fenster werden mit allem bemalt oder beklebt, das schaurig ist: Gespenster, schwarze Katzen, Hexen, Skelette, ghouls (Aas fressende Monster, die auf angelsächsischen Friedhöfen leben), gargoyles (die „Wasserspeier“, die in Europa mit Kathedralen vorlieb nehmen müssen), Spinnen, Vampire, Mumien und ähnliches. Wer einen Garten hat, stellt ihn voll; nur zu den Winterfeiertagen steht in den USA dort mehr herum. Das Ganze wird mit Lampen geschmückt. In Deutschland hat die Dekoration einen weiteren Zweck: Es zeigt, wer mitspielt.

Das zentrale Symbol von Halloween ist der aufwändig geschnitzte und einem Licht bestückte Kürbis (pumpkin), der jack-o‘-lantern. Die Herstellung eines Jack-O‘-Lanterns ist eine Kunstform, aber die Standardvariante kann jeder: Zwei Dreiecke als Augen, ein weiteres Dreieck als Nase und einen Mund mit einem oder zwei Zähnen. Für das Innenleben des Kürbisses gibt es Rezepte.

Dann gibt man seine besagten 18,72 Dollar für Süßigkeiten aus. Einige Varianten gibt es hauptsächlich zu Halloween, darunter Candy Corn, das aussieht wie radioaktive Maiskörner und (leider) noch nicht seinen Weg über den Atlantik gefunden hat. Die Süßigkeiten kommen in eine große Schale oder eine Tüte, in die dann die Kinder hineingreifen.

Gibt es eine Alternative zu Süßigkeiten? Amerikanische Kinder definieren einen bösen Menschen als jemanden, der zu Halloween Zahnbürsten verteilt. Als dieser Autor, die Schönste Germanin und Kind Nummer Eins 2005 Halloween bei den Ehrenwerten Eltern in Arizona verbrachten, gab jemand bunte, dünne Halsringe heraus, die im Dunkeln leuchteten. Das wurde zwar von den Kindern mit gemischten Gefühlen angenommen – cool, aber kein Zucker – aber die Eltern waren für die zusätzliche Sicherheit auf der Straße dankbar. Am Ende geht es aber um Süßigkeiten, nicht um Spielzeug.

Verkleidung.

Deutsche kennen Verkleidungen von Karneval her, daher muss man hier nicht viel sagen. Ob das Kind das gleiche Kostüm nimmt, hängt davon ab, wie gruselig man Funkenmariechen findet.

Trick-or-Treating.

Das Kernritual von Halloween ist der Zug durch die Nachbarschaft, das trick-or-treating. Die Gruppe von Kindern rennt (am Anfang des Abends) oder schleppt sich (gegen Ende) in ihren Kostümen von Haustür zur Haustür, klingelt an und sagt den magischen Spruch auf – in Deutschland scheint sich „Süßes oder Saueres“ durchgesetzt zu haben. Dann und erst dann kriegt man Süßigkeiten. Es gehört zum guten Ton, sich als Erwachsener erschrocken zu zeigen oder sonst wie auf das Kostüm einzugehen, je mehr, desto jünger und aufgeregter die Racker sind.

(Ganz kleine Kinder entwickeln bei Halloween übrigens ungeahnte Fähigkeiten beim Spracherwerb. Kind Nummer Eins, gerade zweieinhalb Jahre alt, brauchte zwei Häuser um zu begreifen, dass es Leckeres gab, wenn man folgende drei Sätze sagte:

Trick or Treat!
Happy Halloween!
Thank you!

wobei die Reihenfolge schon mal unter der allgemeinen Aufregung litt. Immerhin war ein Danke dabei.)

Die Gruppen werden von einem oder mehreren Erwachsenen begleitet, die verkleidet sein können, es aber oft nicht sind – es ist schließlich ein Fest für Kinder. Während die Blagen die Türen belagern, bespricht man die Dekorationen im Garten oder macht Witze über Zahnarztrechnungen. In einigen Nachbarschaften ziehen die Kinder noch alleine los, aber das scheint seltener zu sein als früher. Empfohlen wird es nicht. Wie genau der Rundgang aussieht, hängt vom Klima ab. In den nördlichen Teilen des Kontinents ist es Ende Oktober schon so kalt, dass die ganze Veranstaltung in Einkaufszentren oder anderen großen, geschlossenen Räumen stattfinden muss. In Arizona sitzen die Leute dagegen im Hemd auf ihren Liegestühlen vor der Haustür.

Trick-or-Treating wird oft als ritualisiertes Betteln bezeichnet – so erklärt man es zumindest Nicht-Amerikanern, damit sie ihre Kinder mitmachen lassen. In Wirklichkeit ist es ritualisierte Erpressung. Das Kind kriegt einen treat oder – so die formelle Drohung – es spielt einen trick, also einen Streich. „Süßes oder Saueres“ ist eine geniale Übersetzung.

Echte Streiche sind selten. Was wäre ein traditioneller Trick? Moment –

DIE FOLGENDEN HANDLUNGEN SIND STRAFBAR. SIE SIND HIER AUS GRÜNDEN DER DOKUMENTATION AUFGEFÜHRT, NICHT ZUR NACHAHMUNG. KEINESFALLS MÖCHTE DIESER AUTOR SO VERSTANDEN WERDEN, DASS ER ZU SOLCHEN HANDLUNGEN AUFRUFT, UND ER ÜBERNIMMT ERST RECHT KEINE HAFTUNG.

– so. Der Klassiker ist soaping windows, das Einseifen von Fenstern, ob an Autos oder Häusern. Die Fenster selbst werden (meist) nicht beschädigt und lassen sich verhältnismäßig leicht reinigen. Es werden Klopapierrollen über die Bäume geworfen. Überliefert werden in der Familie dieses Autors Geschichten über Klohäuschen, die auf’s Dach gestellt wurden, und über Gänse, die ein Kopfkissen gesteckt und auf den Friedhof gelegt wurden – damals noch, beim Ur-Ur-Opa. Die Toleranz für richtigen Vandalismus ist während Halloween allerdings wenn überhaupt noch geringer als sonst. Die Polizei fährt verstärkt Streife.

Was man Zuhause tut.

Irgendwann ist der Raubzug zu Ende. Eltern sehen anschließend die Beutel durch, um das Beste zu klauen sicherzustellen, dass nicht jemand etwas Unpassendes hineingelegt hat. Kinder, die nicht sofort ins zuckerinduzierte Schlafmangelkoma fallen, machen Partyspiele.

Traditionell ist hier das apple bobbing, auch ducking for apples genannt. Dabei werden Äpfel in eine Wanne mit Wasser geworfen, die dann mit dem Mund herausgefischt werden müssen. Eine andere Variante besteht darin, möglichst klebrige Süßigkeiten an eine Schnur zu hängen. Beides ist eine Riesensauerei. In Gruselkisten (geschlossene Pappkartons mit Löchern für die Hände) werden Schüsseln mit Würmern (kalte Spaghetti) oder Augäpfeln (kalte Litschis) gelegt und die Kinder lernen wichtige Dinge über die Macht der Suggestion. Es gibt Geistergeschichten und Taschenlampen, die unter’s Kinn gehalten werden.

Und irgendwann kommt doch die Zahnbürste, und man muss ins Bett, und der Spuk ist bis zum nächsten Jahr vorbei.

Zuletzt noch ein Hinweis, vielleicht sogar eine Warnung.

Halloween wird in Amerika seit Generationen gefeiert. Die Eltern, die mit ihren Kindern losziehen, wissen selbst wie es ist, verkleidet mit den Freunden durch die Straßen zu rennen, die Kerzen durch die Fratzen der Jack-O‘-Lanterns flackern zu sehen, die Herbstblätter oder den Schnee zu riechen, lustvoll zu kreischen, wenn an einer Haustür plötzlich eine unfassbar unechte Riesengummivogelspinne an einer Schnur herunterfällt, zu fühlen, wie die Tüte mit Süßkram immer schwerer wird. Sie können Halloween mit den Augen ihrer Kinder sehen, oder besser, sie sehen es mit den Augen der Kinder, die sie selbst einmal waren.

In Deutschland ist das nicht so. Deutsche Eltern sehen Halloween ausschließlich mit den Augen von Erwachsenen, mit ihren Sorgen und ihrem Misstrauen und ihren Ängsten, durch die Brille von Pädagogik und Religion und Politik. Sie lassen ihre Kinder vielleicht an dem Spaß teilnehmen, aber es wird für sie immer ein Ort bleiben, an dem sie selbst nie waren und wohin sie nicht mehr folgen können. Und genau hier liegt ein Problem: Süßigkeiten verstehen sie, Verkleidungen verstehen sie, aber der lustvolle Gruselfaktor von Halloween, der Spaß der (älteren) Kinder am scary stuff muss ihnen fremd bleiben. Von einzelnen Spukgeschichten am Lagerfeuer und ein paar Masken an Fasching abgesehen gibt es so etwas im germanischen Kulturkreis einfach nicht.

Deswegen: Wer Halloween aus den USA kennt, aus Kanada oder selbst Großbritannien, sollte sich mit dem diesem Teil zurückhalten, auch wenn es schwer fällt und es wie Weihnachten ohne Tannenbaum ist. Nicht wegen der Kinder – sie würden es lieben, wenn ein Mülleimer plötzlich aufspränge. Sondern wegen ihrer Eltern. Die Generationenkette, von der der Erfinder dieses Trash-Can-Kostüms spricht, ist in Deutschland noch am Anfang:

When I was a kid there was a guy in our neighborhood that used to jump out of the bushes in a gorilla suit and scare the bejeezus out of us. It was one of my fondest memories of halloween. Last year I decided to be that guy.

Das Schwierige an Kinderfesten sind bekanntlich immer die Erwachsenen.

(Danke an die Ehrenwerten Eltern für Recherchehilfen.)

(Korrigiert 27. Aug 2008: Im Herbst werden die Nächte, nicht die Tage länger. Zuerst gesehen von JP, vielen Dank)