Der Bund Teil 6: Wie Bush sein Ding durchzieht: Executive Orders

August 16, 2006

Wir wissen, wie der Kongress Gesetze macht, wir können uns in etwa denken, wie das Oberste Gericht Urteile fällt, aber wie erteilt der Präsident Anweisungen? Da es in Deutschland kein vergleichbares Amt gibt, gibt es auch keinen vergleichbaren Mechanismus. Wir besprechen heute daher die executive orders (EO) des Präsidenten, meist übersetzt als „Dekret“, „Erlass“ oder eben „Anweisung“.

Wie immer schweigt sich die amerikanische Verfassung über die entsprechenden Details aus. Der Präsident soll dafür Sorge tragen, dass die Gesetze gewissenhaft umgesetzt werden, heißt es lapidar in Artikel II, Sektion 3. In der Praxis teilt er den Organen der Exekutive in kurzen Texten – den EOs – seine Wünsche mit. Diese sind mit seiner Unterschrift sofort gültig. Ein Berater von Präsident Bill Clinton, Paul Begala, handelte sich eine Menge Ärger mit einem Spruch ein, der das ganz gut zusammenfasst:

Stroke of the pen. Law of the land. Kind of cool.

Wir haben gesehen, dass der Präsident in der Lage sein soll, schnell zu handeln, und deswegen ist es nur logisch, dass er in seinem Machtbereich auch schnell Befehle geben kann. Die wichtige Frage ist also, was alles zu diesem Bereich gehört.

Da sich die amerikanische Verfassung strikt an die klassischen Vorstellungen der Gewaltenteilung hält, gilt: Die Legislative macht die Regeln und die Exekutive setzt sie um. Eine Anweisung des Präsidenten muss sich also innerhalb eines Rahmens bewegen, den die Gesetze oder die Verfassung vorgeben. Die Verfassung ist der einfache Teil, den wir schon besprochen haben: Der Präsident darf Verträge schließen und Leute ernennen, ist Chef des Militärs und so weiter. Das Problem sind die Gesetze.

Denn es steht dem Kongress frei, der Exekutive weitgehende Befugnisse einzuräumen, den Rahmen also groß zu machen. Ein Beispiel dafür ist der Patriot Act, der nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 verabschiedet wurde. Das Gesetz selbst ist nicht die leichteste Lektüre, aber schaut man sich eine Analyse des Textes an (hier vom demokratischen Senator Patrick Leahy), wird der Rahmen sichtbar (Title I, Sec. 106):

The new provision permits the President, when the United States is engaged in military hostilities or has been subject to attack, to confiscate property of any foreign country, person or organization involved in hostilities or attacks on the United States.

Wir müssen die Bush-Hasser unter unseren Lesern enttäuschen: Was er da so macht, ist vom Kongress erlaubt oder wird zumindest geduldet. Wenn die Abgeordneten wirklich gegen – sagen wir mal – das Gefangenenlager in Guantanamo Bay wären, könnten sie versuchen, es per Gesetz zu schließen oder die Gelder dafür zu verweigern. Gerade aber weil der Kongress als Ganzes keinen Handlungsbedarf sieht, müssen diese Fälle vor Gericht geklärt werden, mit der entsprechenden Verzögerung.

(Bush hat offenbar tatsächlich zum Teil versucht, am Kongress vorbei zu handeln, mit der Begründung, das sei für die nationale Sicherheit notwendig. So etwas macht die Abgeordneten aber so richtig fuchsig und sie kennen dann keine Parteibanden mehr. In der deutschen Presse sucht man Berichte über diese Fälle meist vergeblich, weil das Gesamtsystem und damit die Tragweite oft nicht verstanden wird.)

Wir können jetzt als Faustregel eine Hierarchie aufstellen:

  1. Präsident: Executive Orders (Anweisungen). Am schnellsten, aber auch am schwächsten.
  2. Kongress: Laws (Gesetze). Langsamer, aber stärker. Geben den Rahmen der Executive Orders vor.
  3. Oberstes Gericht: Rulings (Urteile). Schneckentempo, aber allmächtig. Geben den Rahmen der Gesetze vor, können Executive Orders aufheben.

Das ist sehr grob vereinfacht: Die Verfassung weist jeder Gewalt gewisse Bereiche zu, in denen die anderen nicht wildern dürfen; der Präsident kann zum Beispiel nicht per EO am Haushalt herumspielen oder die Verfassung ändern. Auch sind die Gewalten nicht gleich: Der Präsident und der Kongress handeln aus eigenem Antrieb; das Oberste Gericht darf dagegen nur über Fälle entscheiden, die ihm vorgelegt werden, ist also „ohne Wille“.

Aber als Faustregel ist diese kleine Liste nützlich, denn damit werden einige Dinge klar:

Wenn der Präsident etwas anordnet, und der Kongress nicht weiter darauf eingeht, hat es Gesetzeskraft. Das kann aus reiner Faulheit geschehen – wenn der Kongress eh damit einverstanden ist – oder wenn die Abgeordneten sich nicht auf ein Gesetz einigen können. EOs können damit eine Blockade in der Legislative überbrücken. Das ist ein Mittel, das parlamentarischen Demokratien fehlt, wo Streit unter den Abgeordneten oder zwischen zwei Kammern sofort zum berüchtigten „Reformstau“ führt. Es kann auch vorkommen, dass der Kongress sich nicht auf die Feinheiten eines Gesetzes einigen kann und die Details der Umsetzung einfach dem Präsidenten überlässt, frei nach dem Motto „George, du machst das schon“.

EOs galten lange als interne Angelegenheit der Exekutive, und niemand bemühte sich, sie aufzubewahren. Inzwischen werden sie archiviert und fortlaufend nummeriert, rückwirkend angefangen mit der Emancipation Proclamation, also der Sklavenbefreiung durch Abraham Lincoln vom Januar 1863, als die Nummer 1.

Bekannte (oder berüchtigte) Anweisungen sind EO 9066, das zur Einrichtung von Internierungslagern für Japanisch-Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs führte, EO 10834, der offizielle Aufbau der amerikanischen Fahne, oder EO 13119 [PDF], der Beginn der US-Beteiligung am Kosovo-Krieg. Wir sind inzwischen (August 2006) bei EO 13409 [PDF] angekommen.

Aber Moment mal. Wie kam Lincoln eigentlich dazu, die Sklaven zu befreien? War dafür nicht ein Gesetz oder sogar eine Verfassungsänderung notwendig?

Nein. Lincolns Trick bestand darin, die Sklaverei nur in den eroberten Teilen der Südstaaten für beendet zu erklären – als oberster Feldherr durfte er das. Wo auch immer die Blauen einmarschierten, waren die Schwarzen frei. Im Norden – also in den „Rest-USA“ – blieb die Sklaverei zwar weiter Sache der einzelnen Bundesstaaten, aber die Symbolkraft fegte alles hinweg: Der erste und wichtigste Schritt auf dem langen Weg zur Gleichberechtigung war getan.

Theoretisch hätte die Proklamation allerdings mit dem Ende des Krieges aufhören können zu wirken, und deswegen wurde die Sklavenbefreiung 1865 mit dem 13. Amendment in die Verfassung aufgenommen. Alles wie vorgeschrieben also.

Wir haben von der Angst gesprochen, der Kongress könne alle Macht an sich reißen und wie in Großbritannien eine „Diktatur des Parlaments“ aufstellen. Die Angst vor einem US-Präsidenten, der sich zum Diktator macht, gibt es natürlich auch. Das Oberste Gericht entschied 1935 in Schechter Poultry Corp. v. United States ausdrücklich, dass der Kongress dem Präsident nicht das Recht übertragen kann, Gesetze zu erlassen. Der Rahmen muss sozusagen im Rahmen bleiben, Legislative (und Exekutive) könnten sich nicht selbst entmachten. Die ersten 220 Jahre hat das auch ganz gut funktioniert.

Was die Frage aufwirft, was mit der dritten Gewalt, der Judikative ist – gibt es da auch die Befürchtung, sie könnte die Macht an sich reißen?

Tatsächlich hat sich der Supreme Court ganz am Anfang einige seiner wichtigsten Befugnisse einfach selbst zugesprochen. Nicht wenige Leute werfen ihm heute vor, seit einigen Jahrzehnten weit außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs zu handeln. Das hat mit Abtreibungen, britischen Science-Fiction-Comics und Sylvester Stallone zu tun und wird das Thema des nächsten Eintrags dieser Serie.