Liebe Presse, Amerikaner (Briten, Kanadier, Australier) haben keine Personalausweise

Oktober 3, 2012

Was musste dieser Autor heute Morgen zum Frühstück in seinem RSS-Feed bei einem deutschen Nachrichtenmagazin lesen? Ein US-Gericht habe in Pennsylvania ein Gesetz aufgehoben, das die Bürger gezwungen hätte, bei der Wahl ihren „Personalausweis“ vorzulegen. Was ein Glück, sonst wären die Wahlbüros dort ziemlich leer geblieben: In Amerika gibt es keine Personalausweise. In anderen angelsächsischen Staaten wie Großbritannien, Kanada und Australien übrigens auch nicht.

Wie so viele wichtige Dinge im Leben lernt man das bei Buffy. In der Folge „Tabula Rasa“ will Willow einige unschöne Erinnerungen im Zusammenhang mit ihrer Magie-Sucht aus dem Gedächtnis ihrer Freunde löschen. Das geht natürlich schief und alle fallen in einem Laden für Zauberbedarf in Ohnmacht. Als sie aufwachen, wissen sie nicht mehr, wer sie sind. Wie schließen sie jetzt auf ihre Identität?

  • Giles: Führerschein.
  • Xander: Führerschein (nennt sich „Alex“).
  • Willow: Studentenausweis.
  • Tara: Studentenausweis.
  • Spike: Keine Papiere — findet in seiner (geklauten) Jacke den Namen „Randy“.
  • Dawn: Keine Papiere — trägt eine Halskette mit ihrem Namen.
  • Anya: Keine Papiere — findet ein Flugblatt auf dem steht, dass sie und Giles den Laden führen.
  • Buffy: Keine Papiere — gibt sich selbst den Namen „Joan“.

Auf den deutschen Zuschauer wirkt das unrealistisch. Spike als Vampir und Anya als Ex-Dämonin würde man vielleicht noch abnehmen, dass sie keinen Ausweis haben, aber nicht Giles, Xander oder Buffy. Nach einem Massennickerchen in der Lindenstraße würden die Figuren schließlich einfach in ihre Brief- oder Handtaschen greifen und von ihren maschinenlesbaren, bundesweit einheitlichen Ausweisen „Hans Beimer“ oder „Ludwig Dressler“ ablesen. Der ganze Plot von „Tabula Rasa“ funktioniert nur, weil es in den USA keine Personalausweise gibt.

Leider grenzt die Synchronisation hier an Volksverdummung. Willows Aha-Ausruf „Cards — driver’s licenses!“ wird zu „Ausweise — ein Führerschein tuts auch!“ was den Eindruck erweckt, es gäbe Ausweise. Auch sonst wurde wieder ohne Verstand übersetzt: „Joan“ – eine Anspielung auf Joan of Arc, also Jeanne d’Arc – bleibt „Joan“, was in Deutschland niemand als Namen der französischen Märtyrerin erkennt.

Weiß man, dass es in den USA keine Personalausweise gibt, werden auch andere Dinge auf der Mattscheibe klarer. In Fringe gibt es eine Parallelwelt, in der jeder US-Bürger eine „Show Me“-Karte mit persönlichen Daten bei sich führen muss. Was für Festland-Europäer nicht weiter bemerkenswert ist, zeigt dem englischsprachigen Zuschauer sofort, dass die USA in der anderen Welt ein faschistoider Staat mit massiv eingeschränkten Bürgerrechten ist.

Umgekehrt hat dieser Autor die Erfahrung gemacht, dass sich die meisten Germanen überhaupt nicht vorstellen können, wie ein Staat ohne Personalausweise (und übrigens auch ohne Einwohnermeldeamt) funktionieren soll. Man muss doch zumindest sein Alter nachweisen können, oder? Was macht man da?

Man benutzt den Führerschein, der vom jeweiligen Bundesstaat nach eigenen Gesetzen und Vorschriften ausgestellt wird.

Most adults use their driver’s license as their main form of identification. It’s used to see Rated R movies, buy tobacco or alcohol, enter nightclubs and bars, board a plane, check into a hotel, cash a check, and verify a credit card.

Dabei muss man wissen, dass die Fahrausbildung in den USA nicht einen vierstelligen Betrag kostet wie in Deutschland — die Spanne liegt eher zwischen 300 und 600 Dollar, je nach Bundesstaat und Kommune. Das ist für deutsche Touristen praktisch: Wer Amerikanern erklären will, warum ihr Führerschein nicht ausläuft, kann auf die Kosten hinweisen. Bei der Stange Geld kann man schon lebenslange Gültigkeit erwarten.

Wer in den USA keinen Führerschein besitzt, kann — muss aber nicht! — sich in seinem Bundesstaat eine ID card ausstellen lassen. In unserem Beispielstaat Arizona ist logischerweise das Motor Vehicle Department dafür zuständig, denn es handelt sich um einen funktionellen Ersatz für einen Führerschein.

(Soweit dieser Autor das feststellen kann, gilt das gleiche Prinzip in Kanada

Ontarians without a driver’s licence to use as a quick and easy piece of identification can soon apply for a government-issue photo ID card.

– und Australien sowie diversen anderen angelsächsischen Staaten. Die Briten hatten vor einigen Jahren Ansätze zur Einführung von echten, landesweiten Personalausweisen unternommen, das Ganze aber 2010 wieder rückgängig gemacht und die zugehörigen Daten gelöscht. Die englische Wikipedia bietet eine Übersicht.)

Wer keinen Führerschein besitzt und keine ID Card, der hat halt keinen Ausweis. Punkt. Das macht das Leben natürlich sehr viel schwieriger, weil man dann gucken muss, was die andere Stelle zur Identifikation akzeptiert. Entsprechend selten kommt es vor. Aber es geht.

(Bei gewissen Finanzdingen kommt noch die Social Security Number (SSN) ins Spiel, was wir in einem eigenen Eintrag behandeln.)

Eine ausführliche Diskussion über das Thema wird schnell kompliziert, weil man auch über andere Aspekte sprechen muss wie die Melde- und Mitführpflicht oder ob die Polizei überhaupt das Recht hat, jemanden einfach so nach seinem Namen zu fragen (in einigen US-Bundesstaaten erlaubt), geschweige denn einen Ausweis verlangen kann. Viele Deutsche gehen davon aus, dass sie eine Mitführpflicht haben (stimmt aber nicht) und schockieren damit noch mehr die armen Amerikaner.

Die kippen endgültig aus den Socken, wenn man ihnen das Einwohneramt erklärt — Deutsche müssen sich beim Staat melden, wenn sie umziehen? Aber nur früher im Osten, oder? Erfahrungsgemäß kommt irgendwann immer die Frage, ob die Nazis mit Hilfe der Einwohnermeldeämter damals die Goldbergs und Süsskinds gefunden haben. Sollte man diese Archive nicht abschaffen oder, äh, niederbrennen? Es hilft nicht, dass Amerikaner solche Vorschriften nur im Zusammenhang mit einer Gruppe von Menschen kennen: Verurteilte Sexualverbrecher. Aus ihrer Sicht wird damit die ganze deutsche Bevölkerung wie Kriminelle behandelt.

Am Ende stößt nur die Kirchensteuer auf mehr Unverständnis. Und da hilft selbst Buffy nicht.

ANHANG

Der interessierte Leser mag sich fragen, warum wir so einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den USA und Deutschland nicht früher in diesem Blog behandelt haben. Tatsächlich hat dieser Autor das Thema schon lange auf der Liste. Allerdings meinte die US-Regierung 2005, im Kampf gegen den Terrorismus den Real ID Act einführen zu müssen, das die Bundesstaaten zu einheitlichen Standards bei den Führerscheinen zwingt … zwingen wird, soll, sollte, könnte …

Denn das von Präsident George W. Bush unterzeichnete Gesetz wurde von Bürgerrechtlern sofort als perfider Versuch kritisiert, durch die Hintertür einen Personalausweis einzuführen.

[Real ID] will create America’s first national identity card, increase the threat of identity theft, enable the routine tracking of individuals, and propel us toward a surveillance society.

Die Übergangsfrist ist immer wieder verlängert worden; mehrere Bundesstaaten haben Gesetze erlassen, die eine Umsetzung verbieten; das Heimatschutzministerium zeigt selbst wenig Interesse an dem Ding; im Kongress werden wahlweise Vorlagen eingereicht, um Real ID aufheben oder aber eine Version zu finden, die Kritiker beschwichtigt. Bislang ohne Erfolg.

Eigentlich hatte dieser Autor warten wollen, bis das Gesetz endgültig den Fangschuss bekommen hat, aber offenbar kann das Chaos noch Jahre dauern. Irgendwann ist gut.