Von Vorwahlen und Castingshows

Januar 26, 2012

Und wenn Sie es bisher noch nicht bemerkt haben, werden Sie spätestens jetzt, nach drei Vorwahlen, feststellen, dass die amerikanische Demokratie ziemlich unübersichtlich ist. Das passt auch irgendwie zu uns.

– US-Botschafter Philip D. Murphy „Was Deutsche an Amerika nicht verstehen“, Berlin, 25. Januar 2012

Wer den Radio-Beitrag von Tilo Jung zu den US-Vorwahlen gehört hat und diesen Autor auch nur ansatzweise kennt, wird sich denken können, dass das eigentliche Interview viel länger gedauert hat. Das ist im Hörfunk normal — 30 Minuten reden für drei Minuten O-Ton — besonders wenn es nur um Hintergrund geht. Zusätzlich müssen, äh, gewisse Leute immer in ihrem Redefluss gebremst werden, wie die Schönste Germanin bezeugen kann. Daher liefern wir in diesem Eintrag etwas mehr Hintergrund als im Interview Platz finden konnte.

Denn in diesem Jahr scheint ein Missverständnis die Runde zu machen: Dass die potenziellen US-Präsidentschaftskandidaten von den Parteien aufgestellt werden, quasi als Liste, und dann die Basis darüber abstimmt. So würden sich die Parteien das bestimmt wünschen. Aber so läuft das nicht.

Tatsächlich kann vereinfacht gesagt jeder bei den Vorwahlen mitmachen, der sich berufen fühlt, für seine Partei die USA in eine leuchtende Zukunft zu führen. Wer sich eine (informelle) Anleitung für Kandidaten anschaut, wird viel über political action committees (PAC) und Wahlforschung finden, aber nichts über die Parteispitzen (das Ganze gibt es bei Deviant Art auch als Schaubild). Die Partei hat weder direkte Macht („Dich wollen wir nicht“) und weil die Kandidaten ihre eigene Finanzierung übernehmen, auch kaum indirekte („Wir zahlen das nicht“). Der interessierte Leser mag sich vorstellen, wer in Deutschland bei so einem Verfahren alles nach der Kanzlerschaft greifen würde.

Also, etwas salopp formuliert: Jeder, der zur richtigen Zeit „Ich!“ schreit, etwas Startkapital zusammenkratzt und den Papierkram korrekt ausfüllt, kann einen auf Kandidat machen. Die Parteispitze kann so entsetzt sein wie sie will, aber ihre Rolle beschränkt sich selbst im schlimmsten Fall faktisch darauf, versteinert zu lächeln. Der Joker, Hannibal Lecter und Walternate könnten für die Republikaner (oder Demokraten) antreten.

Entsprechend ist das mit den Kandidaten bei der Vorwahl noch viel, viel schlimmer. Die Leute, die man in den Medien sieht, sind nur der obere Ausschnitt der Kandidatenliste. Schauen wir uns eine vollständigere Aufstellung bei den Republikanern an, so finden wir neben den bekannten Verdächtigen wie Mitt Romney, Newt Gingrich, Ron Paul oder Rick Santorum noch Mitte Januar 2012 diese Namen:

Fred Karger
Kathyern Lane
Andy Martin
Thad McCotter
Jimmy McMillan
Tom Miller
Buddy Roemer
Matt Snyder
Vern Wuensche

Auf der anderen Seite haben wir Randall Terry, der bei den Demokraten gegen Amtsinhaber Barack Obama antritt, denn formell muss auch dieser erstmal nominiert werden. Die Chance dieser Leute auf die Präsidentschaft ist etwa so groß wie die der Arizona Cardinals, jetzt noch den Superbowl zu gewinnen. Die amerikanischen Medien ignorieren sie daher auch weitgehend. Aber eigentlich sind sie dabei, warum auch immer.

Überhaupt treten jede Wahl seit der Einführung des Vorwahlsystems in den 70ern Leute an, denen teilweise unterstellt wird, aus fragwürdigen Motiven mitzumachen — vielleicht um sich politisch zu profilieren („Ich war Präsidentschaftskandidat!“), um bekannter zu werden (Buchdeals) oder weil sie schlicht und einfach den Schuss nicht gehört haben.

Was uns zur zentralen Funktion der Vorwahlen bringt: Das Kandidatenfeld zu reduzieren. Dabei wird die Liste von unten gekürzt. Es folgt eine unserer berüchtigten groben Faustregeln:

Die Funktion der ersten Vorwahlen besteht nicht darin, die aussichtsreichsten Kandidaten zu krönen, sondern die aussichtslosen aus dem Rennen zu werfen.

Das erklärt auch, warum diese Wettkämpfe ruhig in Bundesstaaten abgehalten werden können, die nicht wirklich für die ganze USA repräsentativ sind. Wer schon in Iowa, New Hampshire oder South Carolina einen Oops-Moment hat, dürfte sich anderswo kaum besser schlagen. Die Medien konzentrieren sich trotzdem auf die Sieger: Niemand will wissen, dass der aussichtslose Kandidat whatshisface herausgeflogen ist, sondern wer später Kandidat werden könnte, auch wenn das am Anfang ziemliche Spekulation ist.

Wem jetzt der ganze Ablauf schrecklich bekannt vorkommt: Ja, es gibt gewisse Parallelen zu Castingshows. So gut wie jeder kann mitmachen, es wird brutal ausgesiebt und am Ende gewinnt jemand, der immerhin nicht völlig hoffnungslos ist. Auch bei den Emotionen der Zuschauer gibt es Ähnlichkeiten. Dieser Autor versucht seit Jahren, das nützliche deutsche Wort „Fremdschämen“ ins Englische einzuführen.

Warum tun sich die Amerikaner das an?

Schließlich beginnt der ohnehin lange Wahlkampf jetzt noch früher und alles wird noch teurer. Die guten Bürger von Iowa und New Hampshire können mit Wahlwerbung ihre Häuser tapezieren und ihren Kühen wird vor Stress die Milch schlecht. Während europäische Wahlkämpfe wie Golfturniere ablaufen — gesittet, leise und höflich — erinnert die amerikanische Politik schon seit jeher eher an Eishockey — brutal, laut und mit gelegentlichen Handgreiflichkeiten, wenn inzwischen selten noch echten. Entsprechend sind die Vorwahlen nicht unbedingt das würdigste Schauspiel.

Es gibt zwei Hauptargumente:

Demokratische Legitimation. Der Bürger soll sich nicht mit den Kandidaten begnügen müssen, die die Parteien für ihn aussuchen — wie es 140 Jahre lang der Fall war — sondern von Anfang an mitentscheiden können.

Ein weites Netz. Da jeder mitmachen kann, erhalten auch potenzielle Kandidaten eine Chance, die in der Parteimaschinerie stecken bleiben würden.

Als Beispiel für beide Argumente mag die Wahl 2008 gelten. Ohne der demokratischen Parteispitze böse Absicht zu unterstellen — wäre sie wirklich das Risiko eingegangen, einen vergleichsweise unerfahrenen und jungen Senator mit einem komischen Namen und einer bis dahin für Präsidenten ungewöhnlichen Hautfarbe ins Rennen zu schicken?

Weil Amerikaner Amerikaner sind, ist das System der Vorwahlen natürlich umstritten. Gegenwärtig versucht eine Gruppe in Arizona per Volksentscheid die parteigebundenen Abstimmungen in dem Bundesstaat abzuschaffen und durch ein offenes top-two-System zu ersetzen. Dabei soll es nur noch eine Abstimmung geben, an der sich alle Bürger beteiligen könnten. Der Erst- und Zweitplatzierte würden dann die Kandidatur erhalten, egal welcher Partei sie angehören (falls überhaupt). Die Initiatoren argumentieren, das jetzige System bevorteile Kandidaten mit extremen Ansichten.

Partisan primaries require candidates to appeal to the most fervent voters in their party, who often represent views more extreme than the mainstream …

Ob die nötigen Stimmen für ein Referendum im November zusammenkommen, ist noch unklar. Einer Umfrage der Arizona State University zufolge wären 58 Prozent der Zonies für eine entsprechende Änderungen der Landesverfassung.

Wenn das Schule macht, müssen wir einiges hier wieder umschreiben. Das nennt man wohl Arbeitsplatzsicherheit.

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