Your way of looking at things and the actual condition in the Eastern Area [Soviet Union] may be seen as being completely contradictory.
– Japans Sowjet-Botschafter Sato tadelt seinen Außenminister Togo [1]
Am 22. Juni 1945 tat Japans Kaiser Hirohito etwas Unerwartetes. Er ließ die „Großen Sechs“ des Kabinetts zu sich bestellen und ergriff dann entgegen aller Gepflogenheiten zuerst das Wort. Es sollten konkrete Pläne zum Ende des Krieges erarbeitet und mit ihrer Umsetzung begonnen werden, erklärte er.
Das war ein Schock. Nur zwei Wochen zuvor hatte der Kaiser durch seine Anwesenheit einen Plan der Regierung abgesegnet, der vorsah, dass Japan bis zum letzten Mann weiter Krieg führen sollte, egal wie hoch der Preis – Sieg oder Untergang. Und noch im Mai glaubte der Kaiser an einen Sieg auf Okinawa. Aber im Juni erhielt er Einschätzungen seiner Vertrauten, die dem unerschütterlichen Optimismus des Militärs zuwider liefen. Japan war militärisch am Ende. Mehr noch, es drohten Aufstände.
Unter den sechs Ministern gab es eine Taube: Außenminister Shigenori Togo. Im Mai hatte er dafür gesorgt, dass die Großen Sechs ohne ihre Stäbe offen reden konnten. Unter zwölf Augen wurde erstmals überhaupt die Möglichkeit aufgeworfen, den Krieg zu Ende zu bringen. Aber für die Militärs war es undenkbar, mit dem Amerikanern und Briten zu reden, die als Gegner eine Kapitulation verlangen würden. Der Vatikan war dummerweise gegen Kriege an sich. Die Schweden und Schweizer nahm man nicht wirklich erst. Aber einen mächtigen Ansprechpartner gab es: Die Sowjetunion.
Formell waren die Sowjets neutral. Gut, da war die Kleinigkeit, dass die Regierung von Josef Stalin den Nichtangriffspakt im April 1945 gekündigt hatte:
The neutrality pact between the Soviet Union and Japan was signed April 13, 1941 … Since that time the situation is entirely altered. Germany attacked the Soviet Union, and Japan, an ally of Germany, helped the latter in her war against the U.S.S.R. Besides, Japan is fighting against the United States and Great Britain, who are allies of the Soviet Union. Under these circumstances the neutrality pact … has lost its sense.
Das klang irgendwie nicht so gut. Aber der Vertrag sah eine einjährige Kündigungsfrist vor. Frühestens werde ein Angriff erfolgen, wenn die alliierte Invasion begonnen habe, sagte man sich in Japan. Das würde, so die Einschätzung, vielleicht sogar bis zum Frühjahr 1946 dauern. Zwar warnte der Geheimdienst, dass die Sowjets ihre Soldaten in drei Monaten von Europa nach Asien bringen könnten. Aber das nahm man in Tokio nicht ernst.
Togos Kabinetts-Kollegen lebten in Bezug auf die Sowjetunion ohnehin in einer Fantasiewelt, wie er zu seinem Entsetzen bei den vertraulichen Gesprächen herausfand. Die Armee war noch ganz gut dabei, denn sie wollte nur, dass die Sowjets neutral blieben, um mehr Soldaten aus der Mandschurei zur Verteidigung der Heimatinseln zurückholen zu können. Die Marine träumte – der Historiker Richard B. Frank spricht von „Halluzinationen“ [1] – von einem Tausch japanischer Schlachtkreuzer gegen Öl und Flugzeugen und sogar von einer späteren Allianz.
Dass die Sowjets vielleicht schon im Februar in Jalta einen Deal mit den Amerikanern und Briten geschlossen haben könnten, kam offenbar nur Togo in den Sinn. Recht hatte er:
The leaders of the three great powers – the Soviet Union, the United States of America and Great Britain – have agreed that in two or three months after Germany has surrendered and the war in Europe is terminated, the Soviet Union shall enter into war against Japan on the side of the Allies […]
Am Ende war trotzdem nur die Sowjetunion ein denkbarer Gesprächspartner für das Kabinett. Togo erhielt immerhin das Mandat, die Neutralität der Sowjets zu wahren und vielleicht ihre Freundschaft zu suchen. Und das konnte er im Juni jetzt dem Kaiser als Ansatz vorschlagen.
Fein, sagte Hirohito. Macht mal.
Leider gab seine Exzellenz keine weiteren Details vor, zum Beispiel, wann oder was genau gemacht werden sollte. Entsprechend gab es auch im Kabinett keine Einheit. Ministerpräsident Kantaro Suzuki und Admiral Soemu Toyoda gaben später zu Protokoll, dass unter den Großen Sechs überhaupt nie Einigkeit darüber bestanden habe, was den Sowjets im Gegenzug für Gespräche angeboten werden sollte, geschweige denn, was man über sie den Alliierten vorlegen wolle.
Für Japans Heer und Marine war ohnehin klar: Irgendwelche Gespräche mit Russland würde es erst nach der letzten großen Schlacht Ketsu-Go geben. Sprich, für sie blieb erstmal alles beim alten.
Das Ganze wurde dem japanischen Botschafter in Moskau in den Schoß gekippt, Naotake Sato. Jetzt erfuhren die Alliierten, dass etwas vor sich ging, denn der diplomatische Verkehr zwischen Togo und Sato wurde von den Amerikanern als Teil des Magic-Programms abgefangen und entschlüsselt. Darunter waren „dringende Botschaften“, die Togo im Juli an Sato schickte:
We are now secretly giving consideration to termination of the war because of the pressing situation which confronts Japan both at home and abroad.
Der Kaiser selbst wolle „zum Wohle der Menschheit“ wieder den Frieden herstellen, gab Togo seine Sicht der Dinge weiter. Daher solle Sato Russland ansprechen, aber bloß nicht durchblicken lassen, dass das Ziel der Frieden sei. Unter anderem könne den Sowjets die Neutralität der japanisch besetzten Mandschurei angeboten werden.
Sato war früher selbst Außenminister gewesen und hielt, wie wir am Öffnungszitat sehen, mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Aus seiner Sicht waren Togos Ideen so realitätsfremd wie die Pläne der Marine für eine Allianz mit der Sowjetunion. Die Regierung in Moskau wisse genau, dass Japan ohnehin kurz davor sei, die Gebiete zu verlieren, schrieb Sato zurück. Die Sowjets seien „extrem realistisch“. Benötigt würden ein konkretes Angebot und handfeste Zugeständnisse.
We certainly will not convince them with pretty little phrases devoid of all connection with reality.
Gegenwärtig sei das Einzige, was Japan von Stalin zu erwarten habe, die faktische Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation. Und überhaupt sei ihm die politische Lage in der Heimat im Moment doch etwas unklar, ließ Sato seinen Vorgesetzten wissen:
Nor am I clear about the views of the Government and the Military with regard to the termination of the war.
Unterstützten wirklich alle das Ziel, jetzt den Krieg zu beenden? Das habe doch letztens beim Kaiser noch ganz anders geklungen. Togo wich der Frage in seiner Antwort vom 17. Juli bezeichnenderweise aus, denn es gab keinen Konsens und schon gar nicht mit dem Militär, das weiter unbeirrt Ketsu-Go vorbereitete. Der Minister betonte aber, dass eine bedingungslose Kapitulation nicht in Frage käme.
Okay, schrieb Sato zurück. Gut. Eine einzige Bedingung könne Japan vielleicht stellen: Den Erhalt der „nationalen Struktur“, sprich, des Kaisertums.
Except for the matter of maintenance of our national structure, I think that we must absolutely not propose any conditions. The situation has already reached the point where we have no alternative but unconditional surrender or its equivalent.
Togo schrieb am 21. Juli unmissverständlich und im Namen des Kabinetts zurück:
We are unable to consent to it under any circumstances whatever.
Wer sich fragt, warum die Alliierten nie Japan ausdrücklich eine Kapitulation unter Erhalt des Kaisertums anboten: Sie kannten die Antwort schon.
Überhaupt, was hielten die Alliierten von dem Ganzen? Wenn schon Sato den Vorstoß für unrealistisch hielt, wenn bei Togo selbst klar wurde, dass nicht die ganze Regierung dahinter stand, wenn die vom Ultra-Programm abgefangenen Botschaften des japanischen Militärs ungebremste Kriegslust zeigten und wenn man gerade Busenfreunde mit den Russen war (noch), konnte es nicht viel sein.
Vize-Stabschef John Weckerling und Vize-Außenminister Joseph C. Grew, ehemaliger Japan-Botschafter der USA und der erfahrenste Kenner des Landes in der Regierung, erstellen eine Analyse [PDF]. Darin wurden drei Szenarien besprochen:
- Dass der Kaiser plötzlich persönlich im Sinne des Friedens eingegriffen habe, sei unwahrscheinlich;
- Dass konservative Gruppen im Umfeld des Thrones und einige hochrangige Offiziere sich gegen die Militaristen durchgesetzt hätten, sei denkbar;
- Dass die japanische Regierung die Niederlage herauszögern wolle, in dem sie sich eine Einmischung der Russen erkaufe und die Kriegsmüdigkeit der Amerikaner anspreche, sei das wahrscheinlichste Motiv.
Es war für die Alliierten eine Finte.
Seit dem Angriff auf Pearl Harbor waren die Amerikaner ohnehin nicht geneigt, einem japanischen Politiker noch irgendwas zu glauben. Am 7. Dezember 1941 hatten japanische Diplomaten in Washington im Rahmen von Friedensgesprächen einen Text überreicht, der als Fourteen Part Message in die Geschichte eingegangen ist. Den Amerikanern blieb besonders der zweite Punkt in Erinnerung:
It is the immutable policy of the Japanese Government to insure the stability of East Asia and to promote world peace […].
Dieses unerschütterliche Bekenntnis zum Weltfrieden hatte Japans Marine Stunden zuvor durch den Überraschungsangriff auf die US-Pazifik-Flotte und den Tod von 2.400 Amerikanern auf ganz eigene Art unterstrichen. Im Sommer 1945 hätte ein japanischer Politiker behaupten können, die Sonne gehe im Osten auf – ehrlich, wir haben hier eine prima Aussicht – und die Alliierten hätten ihm nicht gelaubt.
Das japanische Kabinett blieb bis zum Ende gespalten, wie es mit der Sowjetunion weitergehen sollte. Noch am 2. August – vier Tage vor Hiroshima – musste Togo gegenüber Sato eingestehen, dass es keinen Konsens gab. In der Praxis war das unwichtig, weil Sato in Moskau hingehalten, vertröstet und abgespeist wurde [2]. Handfestes gab es erst am 8. August 1945: Zwei Tage nach Hiroshima überreichte ihm der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow die Kriegserklärung. In Tokio fiel Togo aus allen Wolken.
Tatsächlich konnte Stalin kein Interesse an einem starken Japan haben. Die Sowjetunion hatte schon im April damit begonnen, Hunderttausende Soldaten – gestählte Veteranen der Gefechte gegen die Wehrmacht – nach Osten zu bringen. Dort schwoll die Stärke der Roten Armee auf 1,5 Millionen Mann und etwa 5.000 gepanzerte Fahrzeuge an. Ihnen gegenüber standen halb so viele japanische Soldaten, die über keine panzerbrechenden Waffen verfügten. Sie hatten dem „August-Sturm“ nichts entgegenzusetzen.
Der Versuch der japanischen Regierung, im Sommer 1945 Kontakt mit der Sowjetunion herzustellen, beruhte auf einer völlig falschen Einschätzung der Denkweise in Moskau, hatte kein konkretes Ziel, wurde halbherzig ausgeführt und hatte nie die Unterstützung des Kabinetts als Ganzes. Es war der einzige Versuch der japanischen Regierung vor Hiroshima, in irgendeiner Form Gespräche einzugehen.
(Nächster Eintrag der Serie: „Die ursprünglichen alliierten Pläne“)
([1] Richard B. Frank, Downfall. The End of the Imperial Japanese Empire., Penguin Books 1999 [2] Marius B. Jansen The Making of Modern Japan, Belknap 2000)