Das Massaker von Bombay und US-Waffengesetze

Dezember 13, 2008

Among the many misdeeds of the British rule in India, history will look upon the act of depriving a whole nation of arms as the blackest.

Mahatma Gandhi

Wer nach den Anschlägen in Bombay amerikanische Blogs verfolgt hat, wird wiederholt auf eine Diskussion gestoßen sein: Hätten die Islamisten genauso ein Massaker anrichten können, wenn wenigstens einige Inder bewaffnet gewesen wären? Der Juraprofessor Glenn Reynolds sammelt Links dazu und spekuliert, dass es zumindest schwieriger gewesen wäre:

Would they take hostages? It would probably be a lot harder. Would that prevent raids like this? Maybe not, but if you’re just out to kill people and not take hostages, why not just use a car-bomb? Plus, when your „victims“ are shooting back at you and killing you, they’re not really victims any more, are they? Kinda undercuts the whole terrorism game.

Andere Leute sind direkter [YouTube] und erklären, Indiens strenge Gesetze hätten das Massaker in dieser Form überhaupt erst möglich gemacht.

Das Argument der „wehrhaften Zivilbevölkerung“ gehört zu den Wichtigsten der Befürworter von liberalen Waffengesetzen in den USA. Wenn der normale, gute, anständige Bürger bewaffnet ist, so die Logik, kann er Terroristen sofort Widerstand leisten, Verbrechen schnell unterbinden und böse Leute abschrecken.

(Wir sind kurz auf die Waffengesetze in den USA eingegangen, aber weil es noch keinen zentralen Eintrag dazu gibt, hier das Wichtigste: Wie so vieles andere auch entscheiden die Bundesstaaten und Kommunen, wer eine Schusswaffe tragen darf. Der Eintrag dazu in der Wikipedia ist entsprechend ein großer Spaß. Die Argumente gegen den Privatbesitz von Waffen sind in Deutschland gut bekannt und im Recht verankert. Wir setzten sie daher aus Platzgründen als bekannt voraus, auch unter der Gefahr, dass dieser Eintrag einseitig wirkt.)

Reynolds fasste das Argument im Bezug auf Amokläufe 2007 mit dem Spruch zusammen People don’t stop killers, people with guns do:

Police can’t be everywhere, and […] by the time they show up at a mass shooting, it’s usually too late. On the other hand, one group of people is, by definition, always on the scene: the victims. Only if they’re armed, they may wind up not being victims at all.

Da es nun in den USA zumindest im Vergleich mit Indien jede Menge Bürger mit Waffen gibt, stellt sich sofort die Frage, ob es wirklich solche Fälle gibt.

Kurz gesagt, ja. Die Presse liebt inbesondere wehrhafte alte Damen. Da wäre vor einigen Wochen die 85-jährige Leda Smith, die am Sonntag – natürlich – von der Kirche nach Hause kam und einen Einbrecher überraschte, den sie mit ihrem Revolver in Schach hielt, bis die Polizei kam. Im vergangenen Jahr wurde die damals 82-jährige Venus Ramey, Miss America 1944, zu einer Art Medienstar, als sie trotz ihrer Gehbehinderung einem Eindringling auf ihrer Farm die Reifen zerschoss:

She had to balance on her walker as she pulled out a snub-nosed .38-caliber handgun.

Hier gilt offensichtlich eine Variante von Terry Pratchetts Rule One.

Die Befürworter von liberaleren Gesetzen sammeln solche Beispiele. Sie argumentieren, dass die Bevölkerung und erst recht die Politiker die Häufigkeit dieser Fälle von Selbstverteidigung systematisch unterschätzen. Während „erfolgreiche“ Massaker in die weltweiten Medien gelangten, würden „gestoppte“ bestenfalls in der Lokalpresse aufgenommen und dann auch nur verfälscht – außer natürlich, es war eine Oma beteiligt.

Als Paradebeispiel gilt aus ihrer Sicht die Berichterstattung über das Massaker an der Virginia Tech 2007, das sie mit der Schießerei an der nahe gelegenen Appalachian School of Law fünf Jahre zuvor vergleichen. Im ersten Fall habe niemand den Amokläufer aufhalten können, weil die Universität eine gun-free zone gewesen sei. Im zweiten Fall hätten dagegen zwei Studenten ihre Waffen aus ihren Autos geholt und Schlimmeres verhindert. Genau das hätten jedoch die Medien vertuscht. Sie hätten nur geschrieben, der Schütze sei „überwältigt“ worden, ohne die Mittel zu nennen.

(Es dürfte nicht überraschen, dass die Befürworter von liberaleren Gesetzen die „waffenfreien Zonen“ für eine Einladung an Massenmörder halten, nach Belieben wehrlose Bürger niederzumetzeln. Wie der Musiker Ted Nugent es zusammenfasst:

Gun-free zones, huh? Try this on for size: Columbine gun-free zone, New York City pizza shop gun-free zone, Luby’s Cafeteria gun-free zone, Amish school in Pennsylvania gun-free zone and now Virginia Tech gun-free zone.

Entsprechend entstanden im ganzen Land nach dem Virginia-Tech-Massaker Studentengruppen, die an ihren Unis das Recht zum tragen einer Waffe einfordern.)

Die Befürworter von strengeren Gesetzen bestreiten nicht, dass es Fälle gibt, wo bewaffnete Bürger Einbrecher stoppen oder Massaker verhindern. Für sie ist der Preis dafür zu hoch, zum Beispiel die Zahl der Unfälle mit Schusswaffen:

Of 626 shootings in or around a residence in three U.S. cities revealed that, for every time a gun in the home was used in a self-defense or legally justifiable shooting, there were four unintentional shootings

(Beide Seiten werfen sich verschiedene Studien an den Kopf – einschließlich einer berühmten, die besagt, dass viele der Erhebungen überhaupt keine Aussagekraft in die eine oder andere Richtung haben. Die beiden Lager können sich höchstens auf sehr allgemeine Aussagen einigen, wie die dass die Mordrate in den USA stetig zurückgeht. Natürlich wird auch beißender Spott eingesetzt.)

Wir können die Diskussion an dieser Stelle verlassen, denn ein Konsens ist nicht in Sicht. Stattdessen schauen wir uns ein ähnliches Argument an, wenn wir schon mal beim Thema sind: Die Schusswaffe als Selbstschutz für die körperlich Schwachen.

Gehen wir zurück zu unseren rüstigen 80-jährigen Damen. Die Befürworter von liberalen Gesetzen argumentieren, dass die grannies with guns ohne ihre Waffen ihren Angreifern hilflos ausgeliefert gewesen wären. Gleichzeitig geht die Zahl der von Rentnerinnen dieses Alters verübten Massaker und Morde ziemlich gegen Null. Warum sollten sie ihre Pistolen abgeben?

Was bei Omas noch irgendwie lustig klingen mag, wird zum Politikum, wenn man es auf alle Frauen ausdehnt. Waffenrechte sind in den USA im Gegensatz zu Deutschland für Feministinnen ein Thema:

[G]uns are the only weapon that equalizes strength between attacker and attacked. It’s the only time when men’s greater speed, strength, and longer reach make no difference; if you pull the trigger first, you win. This is an enormous social advance.

Die Waffenlobby NRA hat eigene Programme für Frauen und Organisationen wie die Second Amendment Sisters werben mit Sprüchen wie [JPG]:

Give up my rifle? Never! I am blonde, not stupid.

Tatsächlich nimmt die Zahl der Frauen mit Schusswaffen in den USA immer mehr zu und dürfte inzwischen die 17 Millionen erreicht haben. Das wären grob zehn Prozent der Amerikanerinnen. Politisch ist es schwieriger zu verlangen, dass diese Frauen ihre Waffen abgeben sollen, denn schwere Gewaltverbrechen werden überwiegend von Männern verübt. Die Gegenseite argumentiert, dass es auch Pfefferspray oder ein Elektroschocker tun würde.

Ob jetzt in Indien eine neue Diskussion über Waffengesetze aufgekommen ist, vermag dieser Autor nicht einzuschätzen. Es gab vor dem Massaker zumindest einzelne Forderungen nach einer Lockerung. Parallelen zu der Situation in den USA sind trotz der gemeinsamen britischen Wurzeln ohnehin schwierig, denn die strengen indischen Gesetze stammen aus der Kolonialzeit. Daher auch das Gandhi-Zitat am Anfang des Textes. Nicht jeder interessierte Leser dürfte es kennen, aber unter amerikanischen Waffenbesitzern hat es einige Verbreitung gefunden.

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