Wir müssen nach unserer Diskussion über die Auswirkungen der Seuchen der Alten Welt auf die Bevölkerung der Neuen eine Frage gesondert behandeln: Ob es Fälle gab, wo gezielt versucht wurde, die Indianer zu infizieren.
Kurz gesagt, ja.
Gehen wir ins Jahr 1763 zurück, ins Ohio-Tal. Wie schon dargestellt hat Großbritannien gerade im French and Indian War – der Siebenjährige Krieg – die Franzosen aus Nordamerika vertrieben. Die mit Paris verbündeten Indianerstämme im Gebiet der Großen Seen sind nicht glücklich darüber und greifen in Pontiac’s Rebellion [PNG] die Engländer an. Acht britische Festungen fallen sofort, ihre Besatzungen – Soldaten wie Zivilisten – werden massakriert. Drei Forts halten aus, darunter Fort Pitt, das heutige Pittsburgh.
Dort führte der Schweizer Söldner Simeon Ecuyer das Kommando. Von den 550 Menschen in der Festung waren mehr als 200 Frauen und Kinder. Und, um alles noch schlimmer zu machen, die Pocken (smallpox) waren ausgebrochen.
Dass Ecuyer versuchte, die Seuche unter den Belagerern zu verbreiten, wissen wir aus dem Tagebuch eines gewissen William Trent. Der berichtete von einem Treffen am 24. Juni 1763 mit den beiden Delaware-Indianern Turtle’s Heart und Mamaltee:
Out of our regard to them we gave them two Blankets and an Handkerchief out of the Small Pox Hospital. I hope it will have the desired effect.
Damit haben wir einen Zeugen. Und weil man ein Imperium nur mit Hilfe einer Bürokratie führen kann, finden wir für Juni diese von Ecuyer gegengezeichnete Rechnung der Firma Levy, Trent and Company (Hervorhebung hinzugefügt):
To Sundries got to Replace in kind those which were taken from people in the Hospital to Convey the Smallpox to the Indians Viz:
2 Blankets @ 20/ £299 099 0
1 Silk Handkerchef 10/
& 1 linnen do: 3/6 099 1399 6
Ob es dadurch tatsächlich zu einer Ansteckung kam, kann nicht belegt werden. Zwar wurden die Belagerer von den Pocken heimgesucht, aber die ersten Fälle gab es offenbar schon vor dem „Geschenk“. Den beiden Delawaren soll es noch einen Monat später prächtig gegangen sein – die Inkubationszeit der Pocken beträgt etwa zwei Wochen. Es sind auch mehrere parallele Infektionswege denkbar, etwa durch das Plündern der Häuser oder durch das Skalpieren.
Für uns ist aber nicht wichtig, ob der Versuch erfolgreich war. Uns reicht es festzuhalten, dass Ecuyer bewusst und vorsätzlich versucht hat, die Pocken als Waffe gegen die Indianer einzusetzen. Er ist somit schuldig im Sinne der Anklage.
Es gibt eine lange Debatte darüber, ob Ecuyer auf eigene Faust handelte oder auf Befehl des britischen Militärs. Gesichert ist folgender Ablauf:
Am 16. Juni berichtete Ecuyer seinem Vorgesetzten Henry Bouquet – auch ein Schweizer – davon, dass die Pocken in Fort Pitt ausgebrochen seien. Bouquet gab diese Information in einem Brief vom 23. Juni an den Oberkommandeur der britischen Streitkräfte in Nordamerika, Sir Jeffrey Amherst, weiter, also am Tag, bevor Ecuyer den Indianern die Decken übergab.
Amherst schrieb am 7. Juli an Bouquet (Hervorhebung im Original):
Could it not be contrived to send the Small Pox among those disaffected tribes of Indians? We must on this occasion use every stratagem in our power to reduce them.
Bouquet antwortete [JPEG] etwa eine Woche später:
I will try to inoculate the Indians by means of Blankets that may fall in their hands, taking Care however not to get the disease myself.
Am 16. Juli legte Amherst in einem weiteren Brief [JPEG] an Bouquet nach:
You will do well to inoculate the Indians by means of Blankets, as well as to try every other method that can serve to extirpate this execrable Race.
(Beide Männer bedauerten, dass sie nicht die „spanische Methode“ gegen die Indianer anwenden konnten – der Einsatz von Kampfhunden, wie wir ihn bei Hernando de Soto gesehen haben.)
Ecuyer scheint von selbst auf die Idee gekommen zu sein. Amherst wird sein Vorgehen allerdings gebilligt haben, denn er ist für zwei Dinge berühmt: Seine Nachsicht gegenüber den Franzosen (was den Kanadiern den Sonderstatus von Quebec einbrockte) und seinen Hass auf die Indianer. Davon zeugen auch die Briefe.
Was ist mit Bouquet? Es gibt trotz seiner Ankündigung keinen Beleg, dass er wirklich zur Biowaffe griff. Auf dem Weg zur Befreiung von Fort Pitt besiegte er am 5. und 6. August die Indianer in der Schlacht von Bushy Run. Das war der Wendepunkt des Krieges.
Die Historikerin Elizabeth A. Fenn sieht die Vorgänge von Fort Pitt in einem größeren Zusammenhang. Sie stellt die These auf, dass der Einsatz der Pocken als Waffe Ende des 18. Jahrhunderts häufiger vorkam.
Dazu machen wir einen Abstecher zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Die britischen Truppen stammten aus den dichtgepackten und verdreckten Städten Europas, wo sie ständig Kontakt mit den Pocken hatten. Zudem waren viele von ihnen Berufssoldaten, bei denen eine variolation vorgenommen worden war. Das war eine gezielte Ansteckung mit Pocken, die zwar häufig eine Immunität hinterließ, aber leider den einen oder anderen Patienten tötete. Die Amateur-Kämpfer von George Washington waren kaum so behandelt worden.
Nun gibt es keinen Beweis, dass die Briten diesen Vorteil ausnutzten und die Pocken einsetzten. Allerdings berichteten britische Deserteure während der amerikanischen Belagerung von Boston im April 1775, dass Infizierte aus der Stadt geschickt wurden, um den Feind anzustecken. Ein skeptischer Washington schrieb John Hancock:
The information I received that the enemy intended Spreading the Small pox amongst us, I could not Suppose them Capable of — I now must give Some Credit to it, as it has made its appearance on Severall of those who last came out of Boston.
Der britische General Alexander Leslie schrieb 1781 Lord Cornwallis von seinem Plan, im Süden „mehr als 700 infizierte Neger“ in die Plantagen der Rebellen einzuschleusen. Ob er das wirklich tat, ist nicht bekannt. Der englische Offizier Robert Donkin riet in einer Kriegsfibel, Pfeile in Pocken-„Materie“ zu tauchen, um die amerikanischen Rebellen anzustecken, denn das würde diese stubborn, ignorant, enthusiastic savages am ehesten zur Aufgabe zwingen.
Zurück zu den Indianern. War Fort Pitt der einzige belegte Fall seiner Art?
Auch hier lautet die Antwort ja, wobei das wichtigste Wort in dem Satz „belegt“ sein dürfte. Es gab über die Jahrhunderte immer wieder Gerüchte über den Einsatz von Pockendecken, aber beim näherem Hinsehen bleiben sie genau das, Hörensagen. Es ist durchaus denkbar, dass irgendwann Siedler so versuchten, Indianer auszurotten. Allerdings wiegt der Vorwurf des Völkermordes schwer und muss entsprechend belegt werden können. Das ist trotz aller Forschung nur bei Ecuyer gelungen.
Einige interessierte Leser werden an dieser Stelle irritiert sein. Was ist mit dem Stamm der Mandan und den infizierten Decken, die das US-Heer ab dem 20. Juni 1837 an sie verteilt haben soll? Hat nicht der Ethik-Professor und Indianer-Aktivist Ward Churchill von der University of Colorado ausführlich beschrieben, wie durch diesen „Genozid“ bis 1840 mehr als 400.000 Menschen getötet wurden?
Nach der Erfahrung dieses Autors haben viele Deutsche von Churchills Behauptungen gehört, auch wenn sie mit seinem Namen nichts anfangen können. Was allerdings nicht bis nach Europa vorgedrungen zu sein scheint, ist dass er die Geschichte schlicht erfunden hat. Churchill wurde deswegen im vergangenen Jahr von der Uni geschmissen. Die Ermittlungskommission der Universität erklärte im Mai 2006 zu dem angeblichen Massenmord in ihrem Bericht [PDF]:
We therefore find by a preponderance of the evidence a pattern of deliberate academic misconduct involving falsification, fabrication, and serious deviation from accepted practices in reporting results from research.
Etwas weniger hochtrabend formuliert:
Professor Churchill has created myths under the banner of academic scholarship.
Churchill hat gegen seine Entlassung geklagt.
Wir halten fest, dass tatsächlich 90 Prozent der Mandan, die Hälfte der Hidatsa und der Arikara 1837 an den Pocken starben, nachdem die Seuche auf dem Flussdampfer „St. Peters“ in die plains eingeschleppt wurde. Unwahr ist, dass der Auslöser Pockendecken waren, die als Teil eines Genozid-Plans der amerikanischen Regierung von US-Soldaten verteilt wurden. Das ist ein Lügenmärchen.
Allerdings spielte das Kriegsministerium – der Vorläufer des heutigen Verteidigungsministeriums und damals für Indianerfragen zuständig – bei dem Ausbruch eine nicht wirklich glorreiche Rolle: Monatelang tat es absolut gar nichts. Diese Reaktion auf eine Katastrophe unter den Ureinwohnern finden wir immer wieder. Denn aktiv Indianer zu töten, das war eine Sache. Tatenlos und oft genug billigend zuzuschauen, wie sie durch Hunger, Wetter oder Seuchen von allein starben, eine ganz andere.
Als der Druck insbesondere von Kirchengruppen zu groß wurde, schickte das Ministerium 1838 den Indianer-Beauftragten Joshua Pilcher und den Arzt Joseph DePrefontaine in die Region, um wenigstens die Lakota (Sioux) zu retten. Die Männer erwarteten Widerstand, aber sie wurden von den Indianern überrannt. Noch während ihrer Reise den Missouri hinauf impften sie mehr als 3.000 Lakota. DePrefontaine blieb mindestens zwei Jahre vor Ort.
Die Pocken brauchten ohnehin keine menschliche Hilfe, um sich unter den Indianern zu verbreiten. Tragisch ist, dass menschliche Hilfe nicht konsequent genug eingesetzt wurde, um die Seuche so früh wie möglich ganz auszulöschen.
Denn nachdem der Brite Edward Jenner 1798 die Pockenimpfung mit Kuhpocken demonstrierte hatte, kämpfte Präsident Thomas Jefferson für die möglichst breite Anwendung des Verfahrens. Er beauftragte 1803 die Lewis und Clark Expedition, auf ihrer Reise die Indianer entlang des Missouri zu impfen. Bis die Entdecker dort ankamen, hatte das neuartige Mittel aber seine Wirksamkeit verloren.
Späteren Regierungen fehlte der Wille oder die Weitsicht, mit den bekannten Folgen. Der letzte Pockenfall in den USA trat 1949 in Texas [PDF] auf.