Der andere Spock

November 11, 2007

Trust yourself. You know more than you think you do.

– Der Anfang von Baby and Child Care von Dr. Benjamin Spock

Der geschätzte Kollege CR steht kurz davor, zum ersten Mal Vater zu werden. Selbstredend, dass wir erfahrenen Eltern beim Ungenannten Arbeitgeber ihn mit Horrorgeschichten terrorisieren ihm mit Ratschlägen helfen: Dass er noch ein letztes Mal ausschlafen soll, dass die DVDs ein Regel höher gestellt werden müssen als er es erwartet und dass man(n) die Dinge nicht persönlich nehmen darf, die Frauen nach 36 Stunden Wehen von sich geben. Es werden Empfehlungen für Kinderwagen ausgetauscht und es wird betont, wie wichtig Schaukelstühle sind.

Kommen Amerikaner zu solchen Gesprächen zusammen, fällt früher oder später der Name „Spock“. Deutschen mag das seltsam erscheinen, denn Vulkanier haben bekanntlich alle sieben Jahre Sex (nicht: Weltraumfieber). Was können die schon über Kinder wissen?

Tatsächlich ist nicht Mr. Spock gemeint, sondern Dr. Spock, genauer, Dr. Benjamin Spock. Der Kinderarzt schrieb 1946 ein Buch mit dem Namen The Common Sense Book of Baby and Child Care. Inzwischen wurde es in 39 Sprachen übersetzt und 50 Millionen Mal verkauft – angeblich eines der zehn größten Bestseller aller Zeiten. Amerikanische Eltern nennen es auch the manual.

Spocks Buch erschien zu einer Zeit, als Eltern angehalten wurden, ihre weinenden Kinder nicht hochzunehmen, sie nicht zu küssen oder mit ihnen zu kuscheln, damit aus ihnen echte Männer (und Frauen) werden würden. Die richtige Fütterung, so die Experten der Zeit, habe nach einem strengen Zeitschema mit genau dosierten Mengen stattzufinden, an das sich Mutter und Baby unbedingt halten müssten, egal wie sehr es beide quälte. Nach der Geburt wurde das Kind weggenommen statt im gleichen Zimmer wie die Mutter bleiben zu können.

Dummes Zeug, sagte Spock. Jedes Baby sei anders, die Eltern sollten ihren Instinkten trauen und die Kinder mit Respekt und Liebe behandeln – und das auch zeigen. Das Kind wisse selbst am besten, wann es wie viel Hunger habe. Der Yale- und Columbia-Absolvent setzte mit Baby and Child Care den gesunden Menschenverstand auf ein hartes medizinisches Fundament: A good hug sei die beste Medizin für die kleinen Wehwehchen des Lebens, aber Antibiotika die für Lungenentzündungen; Kinder sollen viel gehalten, aber auch geimpft werden.

Ausdrücklich betonte Spock, dass er nicht für eine antiautoritäre Erziehung eintritt:

I’ve always said ask for respect from your children, ask for cooperation, ask for politeness. Give your children firm leadership.

Kinder solle es nicht gestattet werden, unhöflich zu sein. In den letzten Lebensjahren betonte er die Bedeutung moralischer Werte, die weitergegeben werden müssten.

Heute ist das alles nicht mehr wirklich revolutionär. Die seit 60 Jahren ungebrochene Begeisterung für das Werk – inzwischen in der achten Ausgabe – zeigt aber, wie gut es Menschenverstand und Medizin verbindet. Das Buch besticht auch durch seinen Umfang, denn es behandelt alles von Windelwechseln und Schlafstörungen über Scheidungen und Aids bis hin zu Geschlechterrollen und Fernseh-Konsum. Der Stil ist so gewählt, dass er selbst in Notsituationen beruhigend wirkt. Es fehlt eigentlich nur, dass wie bei einem anderen berühmten Buch auf dem Umschlag in großen, freundlichen Buchstaben Don’t Panic! steht.

(Möglicherweise steht das da tatsächlich irgendwo. Kind Nummer Eins hat aber in jungen Jahren die Familienausgabe in die Finger bekommen und die Cover-Gestaltung lässt sich jetzt nur noch erahnen.)

Bei Baby and Child Care spürt man auch, wie sehr Spock Kinder geliebt hat. Es ist mit der Einstellung geschrieben, dass sie wunderbar spaßige kleine Wesen sind, die man einfach gern haben muss und die das Leben trotz der auf etwa 900 Seiten aufgelisteten Probleme schöner machen. Daher auch die Warnung:

One trouble with being an inexperienced parent is that part of the time you take the job so seriously that you forget to enjoy it.

Spock war auch politisch tätig und wandte sich lautstark gegen den Vietnam-Krieg. Er starb 1998 im Alter von 94 Jahren. Zuvor hatte er die Verantwortung für das Buch seinem Kollegen Steven J. Parker übergeben, der damit Hüter eines Nationalheiligtums wurde.

Bleibt die Frage, ob es eine bewusste Verbindung zwischen Spock dem Vulkanier und Spock dem Kinderarzt gibt. Offenbar nein: Der Star-Trek-Erschaffer Gene Roddenberry suchte nach eigenen Angaben nur einen Namen, der außerirdisch klang. Das sollte den Niederländern zu denken geben: „Spock“ ist eine angepasste Schreibweise des holländischen „Spaak“.

[Ergänzt 12. Nov 2007 Fügt Hinweis und Link auf achte Ausgabe ein]

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