People would rather see our people as victims than see them as survivors. We see ourselves as survivors.
– Wilma Mankiller, Principal Chief der Cherokee von 1985 bis 1995
Im Jahr 1492 fand Kolumbus die Neue Welt. Die Menschen dort nannte er aus bekannten Gründen „Indianer“. Schätzungsweise 60 Millionen Ureinwohner lebten damals in Nord- und Südamerika.
Bis zum Jahr 1600 waren mehr als 90 Prozent von ihnen tot [1][2].
Jede Geschichte der Indianer muss mit dieser Tragödie anfangen. Alles, was später kommt, geschieht vor dem Hintergrund eines der größten Massensterben der Menschheit: Zivilisationen wurden ausgelöscht, Landstriche entvölkert, Nationen zerstört. Als Kolumbus Hispaniola erreichte, gab es dort acht Millionen Indianer, bis 1535 keinen einzigen mehr. In Mexiko fiel die Bevölkerung von ursprünglich 20 Millionen bis 1618 auf 1,6 Millionen [2]. Ähnliche Statistiken gibt es für Australien und den Pazifischen Raum, denn wo immer die Europäer auftauchten, brachten sie den Tod mit: Die Seuchen der Alten Welt.
Der Verlauf der Epidemien in Süd- und Mittelamerika ist am besten bekannt. Ein einziger Spanier [PDF] brachte die Pocken nach Mexiko. Von dort breiteten sie sich nach Süden aus und erreichten 1525 die Inkas in Peru – sieben Jahre, bevor die Spanier selbst dort ankamen. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung starb, darunter Kaiser Huayna Capac. Um die Nachfolge brach ein Bürgerkrieg aus und Francisco Pizarro eroberte mit 168 Männern ein Reich, das größer war als Spanien und Italien zusammen. Es folgten weitere Epidemien: Typhus 1546, Influenza und die Pocken 1558, nochmal die Pocken 1589, Diphtherie 1614 und Masern 1618.
Die Spanier waren entsetzt – zum Teil allerdings nur, weil ihnen die Arbeitskräfte wegstarben. Sie verstanden genauso wenig wie die Indianer die Mechanismen der Krankheit, die erst im 19. Jahrhundert entschlüsselt wurden. Da es undenkbar war, dass ein spanischer Edelmann selbst körperlich arbeitete, wurden Sklaven aus Afrika importiert, die aber wiederum noch mehr Seuchen einschleppten.
Auffällig ist, wie einseitig das Desaster ablief. Es gab keine Krankheiten aus der Neuen Welt, die sich so dramatisch auf die Alte auswirkten. Weder Kolumbus noch die Konquistadoren brachten irgendwas nach Hause zurück, das 90 Prozent der Spanier tötete oder große Teile Portugals entvölkerte.
Heute wissen wir, warum. Europa, Asien und Nordafrika bilden, wenn es um die Ausbreitung von Krankheiten geht, einen gemeinsamen Raum. Wenn der Kaiser von China nieste, lief auch dem König von Spanien früher oder später die Nase. Die Pest, die als „Schwarzer Tod“ im 14. Jahrhundert ein Viertel Europas auslöschte, hatte ihren Ursprung in den asiatischen Steppen und wurde über die Handelsrouten nach Westen getragen [2].
Nord- und Südamerika bestehen dagegen aus vielen kleinen immunologischen Inseln. Die Bergketten verlaufen von Nord nach Süd und zerschneiden die gemäßigten Zonen. Die Wasserwege liegen falsch, Wüsten versperrten den Weg. Vor der Ankunft der Europäer gab es keine Pferde oder Kühe als Lasttiere – der Indianer an sich war ein Fußgänger. Wenn eine Seuche ausbrach, blieb sie lokal begrenzt.
Wichtiger noch: Es gab schlicht nicht so viele Krankheiten, denn auch Schafe, Hühner, Kühe und Schweine stammen aus der Alten Welt. Die letzten zwei Tierarten sind als Reservoir für Seuchen wie Influenza besonders wichtig, die regelmäßig über Europa und Asien hinwegfegten.
Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts bestand die Bevölkerung in der Alten Welt aus Menschen, deren Vorfahren Welle nach Welle von Seuchen überlebt und eine gewisse Grund- oder Teilimmunität gegen viele von ihnen entwickelt hatten. Die Indianer nicht. Sie hatten diesen Krankheiten nichts entgegenzusetzen.
Über die Situation in Nordamerika, um zum Thema dieses Blogs zu kommen, wissen wir sehr viel weniger. Die Region um Neuengland wurde zwar früh und häufig besucht, denn die Dorsch-Fanggründe vor Neufundland sind einige der Besten der Welt. Aber tiefer ins Inland ging man erstmal nicht [PDF]:
New England, the Europeans saw, was thickly settled and well defended. In 1605 and 1606 Samuel de Champlain visited Cape Cod, hoping to establish a French base. He abandoned the idea. Too many people already lived there.
Auch im Südosten der heutigen USA scheiterten frühe Besiedlungsversuche der Spanier an den Indianern. Die Kolonie von Juan Ponce de León auf „La Florida“ (die er für eine Insel hielt) wurde 1521 von ihnen überrannt [3]. Die Gegend war dicht besiedelt genug, dass die Spanier dort Sklaven fingen.
Derartige frühe Beobachtungen stehen im Gegensatz zu dem Nordamerika, wie es spätere Siedler vorfanden, die endlosen, leeren, unberührten Wälder, durch die vereinzelte Indianerbanden wie verirrte Geister zu streifen schienen. Wo immer die Briten an der Ostküste hinkamen, fanden sie „jungfräuliches Land“, wie ein Geschenk Gottes, das nur auf sie gewartet hatte. Oder wie es Kansas besingt:
No man rules this land, no human hand has soiled this paradise
Waiting patiently, so much to see, so rich in Earth’s delights
Die klassische Darstellung von Nordamerika als praktisch leer wurde erst in den 70er Jahren ernsthaft angezweifelt. Man ging bis dahin von bis zu zwei Millionen Menschen aus. Eine einflussreiche Schätzung von James Mooney kam 1910 auf eine Gesamtbevölkerung von 1,2 Millionen – weniger als Hamburg heute. Nordamerika, so dachte man, war nicht nur so gut wie leer, als die englischen Siedler ankamen. Es war schon immer leer gewesen.
Inzwischen wird angenommen, dass die ursprüngliche Bevölkerung wesentlich größer war. Wie viel größer, ist umstritten. Zwar sind sich alle weiter einig, dass Nordamerika weniger dicht besiedelt war als Mittel- und Südamerika, aber 20 Millionen gelten jetzt als durchaus realistisch. Denn heute glaubt man, dass auch hier mehr als 90 Prozent der Ureinwohner durch Seuchen getötet wurden – aber dass im Gegensatz zu Lateinamerika niemand da war, um das Sterben festzuhalten.
Fast niemand. Eine der wichtigsten Figuren dieser Zeit ist der Spanier Hernando de Soto. Als 14-Jähriger nahm er an der Unterjochung Panamas teil, wurde bei der Kolonisation Nicaraguas reich und eroberte mit Pizarro Peru. Er wollte aber ein eigenes Reich, eins wie das der Azteken oder Inkas. Und so holte er sich von der spanischen Krone die Erlaubnis, eine Hochkultur in La Florida zu suchen und zu erobern [3].
Von 1539 bis 1543 stampfte De Soto mit 600 Männern sowie hunderten Pferden, Kampfhunden und Schweinen durch den südöstlichen Quadranten der USA. Er terrorisierte die Indianer von Florida bis hoch nach Tennessee und im Westen bis nach Texas (die genaue Route ist umstritten). Sie sahen unter anderem als erste Europäer den Mississippi.
Das Gebiet war damals von der Mississippi Culture besiedelt, die aus einzelnen, kleinen, untereinander verfeindeten Fürstentümern (chiefdoms) bestand. Die Indianer dort bauten Erdpyramiden wie die bei Cahokia und errichteten Dinge wie „Woodhenge“, ein aus Holz gebautes Observatorium im Sinne von Stonehenge in England.
Was sie allerdings nicht hatten, war Gold oder Silber. Die Expedition war ein Fehlschlag. De Soto starb unterwegs an Fieber. Etwa 300 Überlebende schleppten sich schließlich nach vier Jahren flussabwärts zurück in das europäische Siedlungsgebiet der Karibik.
Ihre Berichte sind nicht nur die ersten umfangreichen Darstellungen der Mississippi-Kultur, es sind auch die letzten. Schon De Soto fand im heutigen South Carolina Landstriche, die durch Krankheiten entvölkert worden waren [2][3]:
Within a league to a league and a half around Talimeco there were large uninhabited towns grown up in vegetation. These towns looked as if they had been abandoned for a long time. The people of Cofitachequi said they had been struck by a pestilence two years earlier […].
Spätestens nach De Soto war nichts mehr wie früher. Welcher Anteil von ihm mitgeschleppte Seuchen gehabt haben könnten, ist nicht klar – neuerdings werden seine Schweine als Quelle diskutiert, denn einige entkamen und andere wurden von den Indianern gestohlen. Auch so brachte er genug Verderben über die Region, als er das Mais der Indianer stahl und in Schlachten wie die von Mabila bis zu 3.000 ihrer Krieger tötete. Die Spanier wurden zwar ihrerseits oft genug unprovoziert angegriffen und die Indianer hatten selbst kein Problem damit, ihr Wort zu brechen. Aber bei ihm hatte die Gewalt System und kam mit stahlbewehrten Lanzen auf Pferden daher. Nach De Soto stürzte die ursprüngliche Kultur in sich zusammen.
Als Tristán de Luna y Arellano dann von 1559 bis 1561 erfolglos versuchte, eine Kolonie an der Golfküste zu errichten, fand er dort bereits zerfallene Dörfer und eine Kultur im Niedergang. Der Franzose Réné-Robert Cavelier, Sieur de la Salle, reiste 1682 als erster Europäer wieder durch die Regionen, in denen De Soto gewesen war. Über Strecken von 200 Meilen fand er keinen Menschen [PDF] mehr. Bis dahin gab es auch andere Seuchenquellen: Die Spanier gründeten 1565 in Florida St. Augustine, die älteste bis heute bewohnte Siedlung in Nordamerika.
Die überlebenden Mississippi-Indianer wurden von anderen Stämmen aufgenommen oder schlossen sich zu neuen zusammen – man spricht von coalescent societies. Die ganze Region fiel auf eine niedrigere Kulturstufe zurück, die Gesellschaftsstruktur zerfiel wie die Hügelbauten, das Wissen über die eigene Geschichte ging verloren [3]:
By the late 18th century, the Southeastern Indians hat not only forgotten who had built the mounds, they had no memory of a social order based on hierarchy and inherited authority.
Die späteren Europäer konnten nicht glauben, dass diese vergleichsweise primitiven Stämme die Erbauer der Hügel gewesen sein sollten und erfanden bizarre Erklärungen wie die, dass verlorene Gruppen von Walisern, Wikingern oder Hindus sie errichtet hätten. Lange Zeit taten sich auch moderne Archäologen schwer, die Mississippi-Reiche als fortgeschrittene Kulturen zu erkennen, so dramatisch war der Absturz.
Wir wissen heute: Das Massensterben durch die Seuchen war nicht nur in Südamerika die Voraussetzung für die Machtübernahme durch die Europäer. Auch die weiße Besiedlung von Nordamerika wäre ohne die Epidemien unmöglich gewesen. Damit wird die Gründung der Kolonie der Pilgrim Fathers 1620 zu einem besonders symbolischen Akt: Plymouth entstand an der Stelle, an dem einmal ein Dorf der Patuxet gewesen war. Der Stamm wurde durch eine Seuche ausgelöscht, die britische Schiffe an die Küste gebracht hatten [4].
Wie ging es mit der Bevölkerung der Indianer in den USA weiter? Wir werden im Verlauf der Serie darauf zurückkommen, daher nur in Kurzform: Die großen Nationen an der Ostküste erholten sich nach den ersten Seuchenwellen zu einem gewissen Grad wieder, wie man an den Cherokee sehen kann.
Wegen der besagten immunologischen Inseln brachen jedes Mal Epidemien aus, wenn ein Stamm Kontakt mit der Siedlungsgrenze bekam. Noch 1837 wurden die Mandan auf den Great Plains durch die Pocken ausgelöscht. In einem Dorf allein fiel die Bevölkerung innerhalb weniger Wochen von 2.000 auf 40 Bewohner. Die Überlebenden schlossen sich auch hier anderen Stämmen an [2][4].
Zu den Seuchen kamen Kriege – besonders am Anfang zwischen den Indianern, die ihre alten Konflikte mit neuen, europäischen Waffen und auf Pferden austrugen. Die 40 Millionen Europäer, die von 1607 bis 1914 nach Nordamerika strömten, nutzten alle fairen und unfairen Mittel, um an Land zu kommen und trieben – in Zeitraffer gesehen – die Indianer vor sich her. Es gab einige Kriege und endlose Scharmützel, angezettelt von beiden Seiten, die sich die Indianer aber weniger leisten konnten als die Weißen.
Die Liste der Gründe für den weiteren Bevölkerungsrückgang ist lang. Die Choctaw verloren auf der Zwangsumsiedlung ins heutige Oklahama mindestens 1.600 Menschen, ein Zehntel ihres Stammes, die Cherokee auf dem bereits besprochenen Trail of Tears 4.000 Mitglieder [2]. Im Bürgerkrieg ging die Bevölkerung der Creek um ein Viertel zurück [4]. Mangelernährung, Kindersterblichkeit und Alkoholismus taten ein Übriges. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts begann die Zahl der Indianer wieder stark anzusteigen.
Der Vorwurf eines geplanten und gezielten Genozids – das „die Amis waren doch selbst viel schlimmer“ der Neo-Nazis – ist dabei nicht haltbar. Es gab nie ein Programm der US-Regierung mit dem Ziel, die Indianer auszulöschen. Ihr Sterben – wie bei den Umsiedlungen – wurde allerdings zum Teil hingenommen. In einigen Fällen trug die Behandlung der Indianer durch die Weißen vor Ort Züge eines Völkermordes. Dazu zählt das Verhalten der russischen Felljäger in Alaska, wo von 25.000 Aleuten weniger als 4.000 überlebten [4].
Am schwersten traf es die Indianer in Kalifornien während des Goldrausches, deren Zahl von 300.000 vor Kolumbus bis 1900 auf 16.000 zusammenschrumpfte:
According to Alvin M. Josephy in his book 500 Nations, the history of the California tribes „was as close to genocide as any tribal people had faced, or would face, on the North American continent.“
Wir werden auf die Vorgänge in Kalifornien gesondert eingehen.
(Die Begriffe genocide (Völkermord) und sogar holocaust für das Massensterben durch die Seuchen werden auch von Autoren benutzt, denen klar ist, dass sie wegen des fehlenden Vorsatzes eigentlich nicht passen. Allerdings: Wenn innerhalb von 100 Jahren auf zwei Kontinenten neun von zehn Menschen sterben und ganze Kulturen ausgelöscht werden, ist das eine Katastrophe, für die es ein eigenes Wort geben sollte. Bislang gibt es so ein Wort nicht.)
Das Jahr 1900 spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte der Ureinwohner in den USA, denn das gilt als der Nadir ihrer Gesamtbevölkerung: Es ist (vergleichsweise) gesichert, dass damals im ganzen Land noch 250.000 Indianer lebten. Wie bei jeder solchen Statistik verstecken sich dahinter sehr gegenläufige Entwicklungen: Die Navajo erlebten einen Bevölkerungsboom von höchstens 10.000 im Jahr 1868 auf 70.000 Mitglieder bis 1947 (jetzt 250.000) [4]. Die Zahl der US-Bürger, die nach eigenen Angaben [PDF] ausschließlich Indianer als Vorfahren haben, lag 2000 bei 2,4 Millionen.
Damit können wir am Ende eine grobe Faustregel für die Bevölkerung der Indianer in Nordamerika aufstellen: Vielleicht 20 Millionen vor Kolumbus, bis zu zwei Millionen zu Beginn der ersten Siedlungswelle, in den USA dann 1900 etwa 250.000 und heute knapp 2,5 Millionen.
Die beiden ersten Angaben, die Zahl der Toten durch die Seuchen, sind grobe und umstrittene Schätzungen. Aber sie vermitteln wenigstens eine Vorstellung von dem Ausmaß der Tragödie, die die Europäer unwissentlich mit sich brachten [PDF]:
Whether one million or 10 million or 100 million died […] the pall of sorrow that engulfed the hemisphere was immeasurable. Languages, prayers, hopes, habits, and dreams — entire ways of life hissed away like steam.
([1] Brogan, Hugh The Penguin History of the USA, Second Edition 1999. [2] Diamond, Jared Guns, Germs, and Steel, Vintage, London 1998 [3] Hudson, Charles Knights of Spain, Warriors of the Sun University of Georgia Press, Athens 1997 [4] Debo, Angie A History of the Indians of the United States, University of Oklahoma Press, Seventh Printing 1983)